Bibliographic Metadata
- TitleMoriz Carrière an Vaihinger, München, 17.2.1884, 3 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 4 e, Nr. 14
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 4 e, Nr. 14
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Moriz Carrière an Vaihinger, München, 17.2.1884, 3 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 4 e, Nr. 14
Verehrter Herr College!
Eine geistvolle Norddeutsche – ich kenne sie nicht persönlich, aber sie schrieb mir vor Jahren daß meine sittliche Weltordnung[1] ihr Trost und Licht sei, ich möge ihr doch sagen welch Bildniß von mir sie sich anschaffen solle – frug mich: Wer der Autor des Grenzbotenartikels[2] sei. Ich glaube Sie nehmen es nicht übel, wenn ich Sie nannte. Ich empfahl ihr dabei Pfleiderers ersten Band[3] der Religionsphilosophie, wenn sie sich näher | über die deutsche Philosophie unterrichten wolle. Sie that das eifrig, und schreibt mir nun: Ist der als Langes Schüler erwähnte Vaihinger[4] derselbe der die schöne Besprechung Ihrer Gedichte verfasste? Dann wäre ja ein mächtiger Umschwung in seinem Geiste vorgegangen! – Ich verwies sie darauf daß Sie mit Lange von Anfang an auf dem Standpunct eines ethischen Idealismus standen.
Mit den Augen geht’s wieder erfreulich. |
Übereilen Sie die Anzeige des Poesiebuchs[5] nicht; vielleicht eine Ferienerfrischung. Leben Sie wohl! Mit den besten Wünschen und Grüßen Ihr ergebenster
M Càrriere
München 17/II 1884
Kommentar der Herausgeber
3↑Pfleiderers ersten Band ] vgl. Otto Pfleiderer: Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage. In zwei Bänden. Bd. 1: Geschichte der Religionsphilosophie von Spinoza bis auf die Gegenwart. 2., stark erweiterte Aufl. Berlin: Reimer 1883.4↑als Langes Schüler erwähnte Vaihinger ] vgl. bei Pfleiderer, S. 504–505 unter dem Stichwort Die halb- und neukantische Religionsphilosophie (Vaihinger, Laas): In den Blättern der herrschenden Tagesliteratur ist Lange jetzt nahezu der beliebteste und gepriesenste Philosoph des Tages geworden, aber immer ist es der realistische Kantianer, der Verstandes-Mensch, der Freund des Materialismus und Verächter der Ideen im theoretischen Denken, was Gegenstand des Lobes und der Anpreisung ist, seinen praktischen Idealismus aber läßt man ihm als eine hiermit nicht näher zusammenhängende Privatansicht hingehen, ja man geht wohl auch mit verschämtem Stillschweigen darüber, als wie über eine verzeihliche Schwäche des sonst so nüchternen Kopfes, hinweg. Ein Schüler Lange’s, Vaihinger, hat dieser Stimmung einen unzweideutigen Ausdruck gegeben [Fußnote: In der Schrift: „Hartmann, Düring und Lange“, Iserlohn 1876.], indem er bedauert, daß auch Lange noch nicht zum völligen Sieg des Geistes (des Verstandes) über die Mystik durchgedrungen sei, mit dem gefährlichen Prinzip des Tiefsinnes (der Spekulation) noch nicht ganz gebrochen habe und die volle Klarheit noch nicht erreicht. – Zugleich zeigt übrigens dieser Schüler Lange’s an seinem eigenen Beispiel, wie die beim Meister noch vermißte Consequenz der vollen Klarheit in nichts anderem besteht als im vollendeten, radikalen Skepticismus, der für Religion, Wissenschaft und Praxis gleich verhängnißvoll ist. Und diese Consequenz mit aller rückhalts- und rücksichtslosen Offenheit aufgedeckt zu haben, ist unleugbar verdienstlich.▲