Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Bartholomäus von Carneri, Straßburg, 15.1.1884, 7 S., hs., Wienbibliothek im Rathaus, Wien, H.I.N.-178310
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- Place and Date of Creation
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- Physical LocationWienbibliothek im Rathaus, Wien, H.I.N.-178310
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Vaihinger an Bartholomäus von Carneri, Straßburg, 15.1.1884, 7 S., hs., Wienbibliothek im Rathaus, Wien, H.I.N.-178310
Str[aßburg] 15.I.84.
Hochverehrter Herr!
Sie müssen[a] es meiner schauderhaften Arbeitsüberbürdung zu Gute halten, daß ich mich jetzt erst für Ihre letzte freundliche Sendung[1] herzlichst bedanke. Ich bin so sehr in Anspruch genommen, daß meine Correspondenz vollständig darniederliegt. Zu aller anstrengenden wissenschaftlichen Thätigkeit kommen auch noch vielerlei gesellschaftliche Verpflichtungen. Dazu kam ganz unerwartet ein größerer Artikel[2], der zum 70 jährigen Geburtstag Zeller’s zu schreiben ist, zu dem wir Straßburger eine Festschrift erscheinen lassen. Dieser letztere Umstand hat mir mein Programm ganz besonders verrückt. | Mein Aufsatz behandelt die bekannte Stelle der 2. Aufl. der Kr[itik] d[er] r[einen] V[ernunft] „Widerlegung des Idealismus“. Ich habe bei dieser Arbeit mich in meiner Überzeugung bestärkt, daß Kants Werk zwar das genialste, aber auch das widerspruchvollste Buch der gesamten philos[ophischen] Literatur ist. Das gilt auch für die von Ihnen in Ihrem Aufsatze[3] behandelte, ernste Frage über das An sich der Dinge. Wenn Sie mich fragen würden, ob Ihre Auffassung oder die Schultzesche[4] richtig sei d. h. welche der beiden Auffassungen nun die Kantische sei, so würde ich erst fragen: welchen Kant meinen Sie? den Dogmatiker oder den Skeptiker? den Mann mit dem Zopf oder den Mann mit dem Schwerte des Geistes?[b] In der von Ihnen besprochenen | Frage wohnten 2 Seelen in Kants Brust. Es gibt ebenso viele Stellen für die Schultzesche, wie für Ihre Auffassung. Kant widerspricht sich in den wichtigsten Fragen, welche er behandelt hat, diametral. Seine „kritischen“ Werke sind, wie aus ihnen historisch ganz entgegengesetzte Richtungen entstanden sind (vom Atheismus eines Fichte bis zur frommen „neukantischen“ Theologie), so auch systematisch eine Rüstkammer für Alles: Das verrostete Steinschloß steht neben dem modernen Zündnadelgewehr. Also auf Kants Text kann sich auch Schultze berufen.
Aber daß er aus der kantischen Rüstkammer die alten verrosteten Ideen in gröbster dogmatischer Form herausgesucht hat, statt[c] | sich an den fortschrittlichen Geist in Kant zu halten, das beweist nur, daß Sch[ultze] ein sehr mittelmäßiger Kopf ist. Als solcher hat er von jeher bei allen ernsten Fachleuten gegolten. Er hat zudem die dogmatischen Seiten der kantischen Lehre entsetzlich verwässert. Er hat auch in den sauren Wein, den er aus Kant bezog, noch Wasser gegossen.[d]
Stellen Sie somit die Frage nicht so, was Kant historisch gelehrt habe, sondern so: welche Auffassung der wahrhaft wissenschaftlichen Seite Kants und damit auch einer ernsthaften Philosophie entsprechen, so ist kein Zweifel, daß Ihre Auffassung alles für sich und die Schultze’sche alles gegen sich hat. Das Ansich der Dinge für | höher[e] und edler, denn die Erscheinung zu halten, ist ein alter Fehler der Philosophie.[f] Wenn wir diesen Begriff überhaupt verwenden wollen, muß er kritisch, nicht mystisch angewendet werden. In mystischer Weise wendet ihn Sch[ultze] an, Sie in kritischer. Die Schultze’sche Auffassung, der gemeine Wald- und Wiesen-Kantianismus, ist nichts als Heuchelei; das ist eine docta resp. ficta ignorantia[g][5]: man thut, als wisse man nichts vom „Jenseits“ und wolle auch nichts davon wissen, und schlägt doch dabei factisch die Augen fromm auf zum Himmel. Nichts als Skepticismus nach der Weise des alten Huet[6]!
Ihre Auffassung ist kritisch: man läßt das An sich in Ruhe und wird auch dann von ihm ein Ruhe gelassen[h]; und wenn man | darüber nachdenkt[i], so hält man es nicht für etwas Edleres als die Erscheinung, sondern eher für etwas Niedrigeres. Vor allem aber möge man Gott, Unsterblichkeit u. s. w. aus dem Spiele lassen. Die Philos[ophie] fängt erst an wo der „Glaube“ an jene Fictionen aufhört.[j]
Aber Kant hat mit diesen Vorstellungen nur halb gebrochen. Der Schlüssel zu seinem Widerspruche liegt in seiner universellen Vermittlungstendenz: er wollte alle Gegensätze überwinden und kam so selbst aus den inneren Gegensätzen nicht heraus. Nichtsdestoweniger ist er mir eine ehrwürdige und erhabene Gestalt: auch in seinen Irrthümern ist er groß und wir bewundern, in seinem | Geiste, das Ringen der entgegengesetzten Mächte: Er ist groß genug, daß er auch Anhänger nach der Art von Schultze ertragen kann, ohne an seiner Größe zu verlieren. –[k]
Und nun lassen Sie mich Ihnen, verehrtester Herr, herzlichst die Hand drücken und seien Sie innig gegrüßt von Ihrem ergebensten
H. Vaihinger
Kommentar zum Textbefund
d↑sauren Wein, den er aus Kant bezog, noch Wasser gegossen. ] am linken Rd. mit Bleistift angestrichenKommentar der Herausgeber
2↑größerer Artikel ] vgl. Vaihinger: Zu Kants Widerlegung des Idealismus. In: Strassburger Abhandlungen zur Philosophie. Eduard Zeller zu seinem siebenzigsten Geburtstage. Freiburg i. Br./Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1884, S. 85–164.4↑die Schultzesche ] d. h. die von Fritz Schultze vertretene (1846–1908, seit 1876 o. Prof. am Polytechnikum Dresden; Eisler, Philosophen-Lexikon 1912), gegen die sich Carneri in seinem Aufsatz wendet.5↑docta resp. ficta ignorantia ] lat. belehrte Unwissenheit (Nikolaus von Kues) bzw. fiktive Unwissenscheit6↑Skepticismus nach der Weise des alten Huet ] d. i. der französische Geistliche Pierre-Daniel Huet (1630–1721), vgl. z. B. Karl Sigmund Barach: Pierre Daniel Huet als Philosoph. Ein Beitrag zur Geschichte der geistigen Bewegung im siebzehnten Jahrhundert. Wien u. Leipzig: L. C. Zamarski & C. Dittmarsch 1862, 6. Kap.: Skepticismus und Offenbarungsglaube.▲