Bibliographic Metadata
- TitleBartholomäus von Carneri an Vaihinger, Schloss Wildhaus (Zellnitz an der Drau/Selnica ob Dravi, ehemals Untersteiermark), 9.8.1883, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 4 d, Nr. 14
- Creator
- Recipient
- Participants
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 4 d, Nr. 14
- URN
- Social MediaShare
- Archive
- ▼
Bartholomäus von Carneri an Vaihinger, Schloss Wildhaus (Zellnitz an der Drau/Selnica ob Dravi, ehemals Untersteiermark), 9.8.1883, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 4 d, Nr. 14
Wildhaus 9. Aug[ust] 1883.
Hochgeehrter Herr!
Es ist wohl sehr lieb von Ihnen, kaum von der Arbeit entlastet, an mich zu denken und zu schreiben[1]! Ich danke Ihnen von Herzen dafür, und habe mit großem Interesse das Programm Ihrer Vorlesungen[2] gelesen. An eine derartige Aufgabe könnte ich nicht im Traum denken, und von mir können Sie wohl kaum etwas lernen. Wie gerne würde ich Ihre Vorlesungen besuchen! Vielleicht gelingt es mir in der Form selbständiger Aufsätze, die aber innerlich zusammen hängen, meine Weltanschauung in correcte|rer Weise zum Ausdruck zu bringen. Bislang habe ich immer, mehr um selbst in’s Klare zu kommen, als um das mir bereits Klare mitzutheilen, zur Feder gegriffen; darum enthalten meine Bücher einzelne gute Partien, und ist als Ganzes kein einziges von Werth. Mein erstes[3], über das Sie so liebenswürdig sich aussprechen, leidet an zwei großen Mängeln: der viel zu sehr prononcirte Hegelianismus, und, betreffend die Zurechnungsfähigkeit, eine viel zu kräftige und doch haltlose Anlehnung an Kant, zu der Schopenhauer mich verführt hatte u. s. w. u. s. w. Meine | Geschichte ist zum großen Theil eine Leidensgeschichte, und der Zweck meiner schriftstellerischen Thätigkeit im Grunde nur Selbsterhaltungstrieb. Schwere körperliche Leiden und schmerzlichste Verluste zwangen mich, mir eine eigene Welt zu schaffen, in der es mir auch gelungen ist, eine glückliche Anlage zu Gleichmuth u. Heiterkeit mir zu bewahren und auszubilden.[a] Streng genommen habe ich gar kein Recht auf anderweitige Erfolge. Der Wunsch oder Wahn, eine Ethik ohne alle Freiheit und Jenseitigkeit zu schreiben, belebt mich derart, und ich lebe so vollständig in ihm, daß unsere trostlosen staatlichen Zustände[b] mich gar nicht betrüben. Ich sehe sie, bekämpfe sie mit aller mir eigenen | Energie, aber ohne daß meine Laune im Geringsten darunter litte.
Unsere Festlichkeiten[4] sind glänzend gelungen. Wir haben den Kaiser vollständig getrennt von seiner Regierung. Den Grafen Taaffe[5] hat niemand beachtet. Er ist auch den zweiten Tag abgefahren, während der Kaiser volle 9 Tage sich sehr zufrieden gefühlt hat.[c] Er sagte unter anderem zu mir: Gerne bliebe ich noch einmal so lange. Natürlich sprach er nur über Landesangelegenheiten, und ist das Ganze für unsere Reichscalamitäten nicht entscheidend; aber dien Slowenen haben dabei den Kürzeren gezogen und das ist immer gut. Erst müssen die Verhältnisse in Böhmen den Blinden die Augen öffnen; früher wird’s nicht besser. Nun nochmals dank für Ihren lieben, lieben Brief, und bleiben Sie immer so gut Ihrem ganz ergebenen
B. Carneri
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑Programm Ihrer Vorlesungen ] im SS 1883 hatte Vaihinger in Straßburg angeboten: Grundprobleme der Psychologie; 3stündig. Im philosophischen Seminar: Lectüre eines pädagogischen Klassikers (Herbart); zweistündig; gratis. Für das WS 1883/1884 waren angekündigt: Geschichte der neueren Philosophie; Montag, Dienstag und Mittwoch von 5–6 Uhr. Grundprobleme der Moral; Donnerstag und Freitag von 5–6 Uhr. Im philosophischen Seminar: Erklärung von „Herbarts pädagogischen Schriften“; Samstag von 5–7 Uhr Nachmittags; gratis (vgl. https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/cb328882334/date.item (7.8.2024)).3↑Mein erstes ] meint vielleicht: v. Carneri: Sittlichkeit und Darwinismus. Drei Bücher Ethik. Wien: Braumüller 1871.4↑Unsere Festlichkeiten ] im Zusammenhang mit der Rundreise Franz Joseph I. Anfang Juli 1883, anlässlich der 600jährigen Zugehörigkeit des Landes Steiermark zum Habsburgerreich; zahlreiche Presseberichte.5↑Grafen Taaffe ] Eduard Franz Joseph Graf Taaffe (1833–1895), 1879–1893 österreichischer Ministerpräsident (https://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_T/Taaffe_Eduard-Franz-Joseph_1833_1895.xml (7.8.2024)).▲