Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Friedrich Zarncke, Straßburg, 24.4.1883, 4 S., hs., Universitätsbibliothek Leipzig, Nachlass Zarncke, NL 249/1/V/31
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- Physical LocationUniversitätsbibliothek Leipzig, Nachlass Zarncke, NL 249/1/V/31
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Vaihinger an Friedrich Zarncke, Straßburg, 24.4.1883, 4 S., hs., Universitätsbibliothek Leipzig, Nachlass Zarncke, NL 249/1/V/31
Straßburg 24.IV.83
Hochzuverehrender Herr Professor![a]
Durch eine mehrtägige Abwesenheit bin ich erst heute in der Lage, Ihren freundlichen Brief[1], der sich mit meinem zweiten[2] gekreuzt hat, zu beantworten. Ich habe die Angelegenheit noch einmal mit mir und meinen Freunden berathen, und finde Natorp’s Forderung einer Namensnennung keineswegs berechtigt. Sie hätte Sinn, wenn das L[iterarische] C[entral] Bl[att] ein Organ wäre, in der Jeder ohne Weiteres Recensionen einschicken kann; in diesem Falle wäre meine Recension ein spontaner Act und ein Angriff, eine Provocation. Allein factisch ist mir diese Schrift ohne jegliches Zuthun unter vielen andern seitens der Expedition zugegangen, worin ich die Aufforderung erblicken muß, dieselbe nach bestem Wissen[b] und Gewissen zu be|sprechen, weil sie in mein Gebiet fällt, aus dem ich seit dem Jahre 1880 als regelmäßiger Referent[3] und zwar mit ganz wenigen Ausnahmen anonym, eine große Anzahl von Werken besprochen habe. Eine derartige Aufforderung zur Namensnennung durch Natorp[c] ist ohne jeglichen moralischen Rechtsgrund in einem solchen Falle.
Daß Natorp mit Wahrscheinlichkeit mich als Referenten vermuthet, ändert daran nichts: daß er mich am Stil u. s. w. erkennen werde, habe ich mir schon gedacht. Allein auch das gibt zu der indiscreten Forderung der Namensnennung kein Recht. Derartige Fälle sind schon oft da gewesen speciell bei Referenten des L[iterarischen] C[entral] Bl[attes]; ich erinnere mich vieler Fälle; so z. B. polemisirt Teichmüller in seinen Schriften mehrfach gegen den „wohlbekannten“ Recensenten im L[iterarischen] C[entralblatt], (wahrscheinlich Herrn Prof. Heinze). Aber eine Forderung zur Namensnennung zu stellen, ist ihm nicht in den Sinn gekommen. Nur ein junger, mit den Verhältnissen unbekannter Autor wie Natorp kann eine solche Forderung stellen. Ist einmal | von vorneherein das Princip der Anonymität zugelassen, so verlässt sich ein regelmäßiger Referent[d] auf dieselbe in dem Bewusstsein, unter dem Schutze dieser Anonymität die Wahrheit sagen zu können, welche bekanntlich durch Namensnennung nicht gewinnt. Gerade das ist der Vorzug des L[iterarischen] C[entral] Bl[attes], daß ohne Rücksicht auf menschliche persönliche Beziehungen die objective wissenschaftliche Wahrheit zum Nutzen der Wissenschaft sich sagen läßt.
Die „Konstanten der Moral“[4] sollen erst die häßlichen Verfolgungen[5], welche besonders der Jüngere durch Coterien ausgesetzt ist, zum Gegenstand ihrer gerechten Entrüstung wählen. Fallen solche Verfolgungen weg, so wird auch die Anonymität nicht mehr nothwendig sein, um die ungeschminkte Wahrheit zu sagen.
In dem vorliegenden Falle kommt noch Folgendes hinzu: Ich habe trotz vielfacher Aufforderungen seit einem Jahre Roediger[e] jegliche Recension abgelehnt[6]. Zeller aber, der mich überhaupt noch in Preußen hält, gegenüber den orthodoxen Kantianern ist ein Patron d[er] L[iteratur] Zeitung. Ihm könnte die Sache | in einer mir schädlichen Weise dargestellt werden. Wenn es aber mit Basel nichts wird, bin ich auf Preußen angewiesen und ich mag meinen Gegnern nicht neue Gelegenheit zu Angriffen geben.
Daß die Sache dem L[iterarischen] C[entral] Bl[att] schaden werde, möchte ich nicht befürchten. Gerade das Concurrenzblatt hat ja in einem ähnlichen Fall auch die Anonymität aufrechterhalten, den ich angeführt habe[7].
Ich für meinen Theil bin also der Ansicht, daß die Forderung Natorps auf Namensnennung eines ständigen Referenten unberechtigt ist, daß ihr in keinem Falle Folge zu geben nöthig ist, daß ich sein betreffendes Ansinnen blos als „scandalsüchtig“ ansehen kann, und daher meinestheils zu berücksichtigen moralisch nicht für geboten halte.
Ich überlasse Ihnen nun, hochzuverehrender Herr Professor, dessen langjährige Erfahrung ich aufs tiefste achte, vertrauensvoll die definitive Entscheidung.
In herzlichster Verehrung Ihr aufrichtig ergebenster
H Vaihinger.[f]
Kommentar zum Textbefund
d↑Referent ] mit Einfügungszeichen an den oberen Rd. geschrieben: Vielleicht würde es sich empfehlen, wenn Sie, verehrtester Herr Professor, Herrn Dr N. darauf aufmerksam machen würden, daß, wie ich schon oben bemerkte, meine Recension nicht spontan eingesandt ist sondern von einem ständigen Referenten stammt. Das dürfte ihn doch beruhigen!f↑H Vaihinger. ] links neben der Unterschrift von anderer Hd. mit Bleistift: s[iehe] Literar[isches] Z[entral]blatt, | 1883, Nr. 18 | Sp. 637.Kommentar der Herausgeber
3↑seit dem Jahre 1880 als regelmäßiger Referent ] vgl. Zarncke an Wilhelm Braune vom 22.1.1883, über seine Mitarbeiter an der Zeitschrift Literarisches Centralblatt: Prof. Avenarius in Zürich und der Privatdozent Vaihinger in Straßburg. […] Beide Männer sind mir bekannt, und ich habe durch lang dauernde Thätigkeit am Cblatt ein bestimmtes Bild ihres Denkens und Arbeitens mir bilden können. Aven. ist ein wirklich tiefer Denker […] (über Vaihinger äußert sich Friedrich Zarncke nicht weiter; zitiert nach: Thomas Lick: Friedrich Zarncke und das „Literarische Centralblatt für Deutschland“. Eine buchgeschichtliche Untersuchung. Wiesbaden: Harrassowitz 1993 (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München. Hg. v. L. Delp u. U. Neumann Bd. 43), S. 182).4↑„Konstanten der Moral“ ] vermutlich Briefzitat, entweder nach Zarncke oder nach Natorp. Nicht ermittelt.6↑Roediger jegliche Recension abgelehnt ] für die Zeitschrift Deutsche Litteraturzeitung, dem Konkurrenzblatt der Zeitschrift Literarisches Centralblatt seit Oktober 1880. Vaihinger ist dort für die Jahrgänge 1880, 1881, 1882 u. dann erst wieder 1884 als Mitarbeiter geführt; vgl. die annotierte Bibliographie Hans Vaihinger für dort erschienene Besprechungen.▲