Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Friedrich Zarncke, Straßburg, 20.1.1883, 7 S., hs., Universitätsbibliothek Leipzig, Nachlass Zarncke, NL 249/1/V/42
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- Physical LocationUniversitätsbibliothek Leipzig, Nachlass Zarncke, NL 249/1/V/42
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Vaihinger an Friedrich Zarncke, Straßburg, 20.1.1883, 7 S., hs., Universitätsbibliothek Leipzig, Nachlass Zarncke, NL 249/1/V/42
Straßburg 20.I.83.
Hochzuverehrender Herr Professor![a]
Ihre freundlichen Gesinnungen gegen mich ermuthigen mich zu einer Bitte, durch deren Erfüllung Sie mich sehr beglücken würden. Wie Sie wahrscheinlich schon wissen, ist Professor Bratuscheck[1] in Gießen gestorben. Meine ergebenste Bitte geht dahin, Sie möchten die große Güte haben, Ihre einflußreiche Stimme daselbst geltend zu machen. Wenn ich es wage, um diese Stelle zu concurriren, so glaube ich darauf hinweisen zu dürfen, daß ich | schon mehrfach in Vorschlag gekommen bin, zweimal als Extraordinarius (in Würzburg und in Halle[2]),[b] und zweimal als Ordinarius (in Königsberg und in Graz[3]).
Sollten Sie, hochverehrter Herr Professor, in der Lage sein, meiner ganz ergebensten Bitte Berücksichtigung zu schenken, so würde ich mir erlauben, darauf aufmerksam zu machen, daß ich nunmehr eine 6 jährige academische Wirksamkeit hinter mir habe. Leider besteht hier in Straßburg eine principielle Abneigung gegen Ernennung der Privatdocenten zu Extraordinarien[4]: bloße Titular-Extraordinariate gibt es überhaupt nicht; und ebensowenig ist es Usus, ältere | Privatdocenten wie in Preußen mit einem mäßigen Gehalt zu Extraordinarien zu ernennen, wenn nicht eine etatmäßige Stelle dazu frei ist. Die philos[ophische] Facultät hat im vergangenen Sommer, um mir endlich eine feste Stellung zu verschaffen, die Gründung eines Extraordinariats für Philosophie beantragt, allein die Geldnoth hier (bes[onders] infolge der 3 Millionen welche die Tabaksmanufactur[5] verschlungen hat) ist so groß, daß an allen Ecken und Enden gespart werden muß; daher der Herr Curator, der mir sonst sehr günstig gesinnt ist, aber auch in diesem Punkte der allgemeinen Ordre, zu sparen, folgen mußte. |
So weit ich bis jetzt die Situation in Gießen übersehe, dürfte sich mir eine allerdings nicht unbeträchtliche Schwierigkeit erheben: in die theolog[ische] Facultät wurde vor einem halben Jahre Herr Gottschick aus Magdeburg[6] berufen, welcher der Einzige gewesen ist, der sich über meine Kantarbeit mißfällig geäußert[7] hat. Die Erklärung davon ist folgende: Gottschick gehört wie die ganze Gießener theologische Facultät zur liberalen Ritschl’schen Schule, welche auf Kantischer Grundlage ruht. Bei Einigen dieser Kantischen Theologen, denen ich selbst, als Kantianer im weiteren Sinne, durchaus nahe stehe, | geht jedoch dieser Anschluß an Kant so weit, daß eine Kantische Orthodoxie sich herausgebildet hat, welche sich dann seltsamerweise mit theologischem Liberalismus sich verbindet. Da ich nun an Kant objective, jedoch nur immanente Kritik übe, so ist im Lager dieser Kantischen Orthodoxen eine ungünstige Strömung gegen mich. Jedoch geht nur Gottschick so weit, in der Orthodoxie; die übrigen Mitglieder der Facultät haben wohl eine freiere Auffassung und würden wohl die Überzeugung generiren können, daß für liberale Theologie ein Kantianer, wenn er auch nicht auf Kants Worte schwört, nur willkommen sein kann. Ich weiß zwar nicht, wie die theolog[ische] Facultät sich zur philos[ophischen] | Facultät in Gießen stellt. Aber beim Mangel eines philos[ophischen] Fachmannes – Bratuscheck war der Einzige – wird man wohl geneigt sein, auch theologische Urtheile zu hören; und Gottschick gerade gilt als ein Kantkenner, ist es aber meiner Ansicht nach keineswegs im streng objectiv wissenschaftlichen Sinne.
Sollten Sie also, hochverehrter Herr Professor, Gelegenheit haben, diese Sachlage einem Mitgliede der Gießener philosophischen oder gar theologischen Facultät darlegen zu können[8], so wäre ich Ihnen zum tiefsten Danke verpflichtet, wenn Sie mir Ihre Fürsprache[9] gewähren wollten. |
Über meine philosophische Stellung werden Ihre Herren Collegen Wundt und Heinze wohl etwaige Auskunft zu geben die Güte haben.
Indem ich mir, hochverehrter Herr Professor, die Freiheit nicht zu verübeln bitte, mit der ich es wagte, Ihnen meine Bitte offen vorzutragen, empfehle ich mich Ihrem gütigen Wohlwollen aufs angelegentlichste.
In aufrichtiger Verehrung Ew. Hochwohlgeboren ganz ergebenster
H. Vaihinger
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Professor Bratuscheck ] Ernst Bratuschek (die Schreibung Bratuscheck ist ebenfalls gebucht) verstarb am 15.1.1883. Zu seinem Nachfolger wurde Hermann Siebeck berufen, vgl. Vaihinger an Eduard Zeller vom 28.1.1883 sowie an Zarncke vom 14.3.1883.3↑in Königsberg und in Graz ] vgl. Vaihinger an Eduard Zeller vom 10.6.1882, an Zarncke vom 17.4.1883 sowie an Zeller vom 13.11.1882 und an Bartholomäus von Carneri vom 17.11.1882.4↑principielle Abneigung gegen Ernennung der Privatdocenten zu Extraordinarien ] vgl. Vaihinger an Eduard Zeller vom 10.6.18826↑Herr Gottschick aus Magdeburg ] Johannes Gottschick (1847–1907), evangelischer Theologe, Schüler von Albrecht Ritschl (1822–1889). Nach dem Studium 1870–1882 als Gymnasiallehrer in Halle, Wernigerode, Torgau und Magdeburg tätig. 1882 Prof. in Gießen, 1892 in Tübingen (NDB).7↑über meine Kantarbeit mißfällig geäußert ] vgl. die Rezension Gottschicks über Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Bd. 1 (1881) von Johannes Gottschick in: Theologische Literaturzeitung 9 (1884), S. 20–22.9↑Ihre Fürsprache ] nicht ermittelt. Vgl. das in der Bremer Briefsammlung Vaihingers (Aut. XXII, 1 b) überlieferte Schreiben des Gießener Juristen Carl von Gareis (1844–1923; 1884–1888 Kanzler der Universität Gießen, https://www.lagis-hessen.de/pnd/102029032 (6.8.2024)) an einen nicht genannten Adressaten, der sich offenbar für Vaihinger ausgesprochen hatte: Hochgeehrter Herr College! Auf Herrn Dr. Vaihinger ist die Commission, welche an der philosoph[ischen] Facultät zur Vorbereitung der philosophischen Frage ernannt ward, aufmerksam gemacht und vertritt namentlich ein Mitglied derselben diese Candidatur sehr energisch. Vaihinger ist | übrigens von sehr vielen Seiten hier empfohlen, so daß eine weitere Mittheilung nicht erforderlich ist. Aber es ist hier absolut nicht vorauszusagen, wie die Beschlüsse im Senat ausfallen. Wenn eine Candidatur von der einen Hälfte der Herrn Collegen aufgeworfen wird, so kann es – im Vertrauen gesagt – kommen, wie bei der Rectorswahl im vorigen Juli: dabei stimmte genau die Hälfte der Collegen in allen Wahlgängen | für mich, die andere Hälfte für Stade; für letzteren entschied schließlich das Loos und so wurde Stade Rector, nicht ich! – Ich nehme an, daß es Ihrer ganzen verehrten Familie recht wohl geht und bitte mich Ihrer Frau Gemahlin vielmals zu empfehlen. Mit hochachtungsvollstem Gruße Ihr ergebenster Gareis. Giesen [!] 7.2.83.▲