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- TitleVaihinger an Bartholomäus von Carneri, Straßburg, 30.12.1882, 12 S., hs., Wienbibliothek im Rathaus, Wien, H.I.N.-178306
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- Place and Date of Creation
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- Physical LocationWienbibliothek im Rathaus, Wien, H.I.N.-178306
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Vaihinger an Bartholomäus von Carneri, Straßburg, 30.12.1882, 12 S., hs., Wienbibliothek im Rathaus, Wien, H.I.N.-178306
Straßburg i/E den 30. Dez[ember] 1882
Hochverehrter Herr!
Zum Neuen Jahre[a] gestatte ich mir Ihnen meine aufrichtigen und ergebensten Glückwünsche darzubringen. Ich kann dieselben nicht specificiren, aber was man Jedem wünschen darf, ist immer Gesundheit und dadurch ermöglichte Arbeitskraft[b]. Möchten Sie recht viel Muße zu Ihren wissenschaftlichen Arbeiten finden, dieser Wunsch liegt mir selbst als Schriftsteller am nächsten. Mit ebenso viel Vergnügen als Nutzen habe ich jetzt den Aufsatz über das Bewußtsein[1] gelesen im 4 Jahrgang des Kosmos[c], Seite 409 ff., und ich für meinen | Theil[d] finde Ihre Ausführungen ganz überzeugend[e], um so mehr, als dieselben durch die Nerven- und speciell die Hirnphysiologie bestätigt werden. Gewiß hat, was Sie in Ihrem letzten Aufsatz scharf rügen, du Bois-Reymond[f] Unrecht[g], wenn er das Bewußtsein resp. das vernünftige Denken als eines seiner problematischen Welträthsel[2] hinstellt: ist einmal die Empfindung gegeben, so erklärt die durch den nervenphysiologischen Bau des Organismus ermöglichte Aufeinanderbeziehung der Theile auf ein Ganzes vollständig genügend das höchst entwickelte Bewußtsein:[h] die „empfundene Empfindung“[3], wie Sie sagen. Das Gehirn ist der Resonanzboden, durch dessen[i] Mitschwingen | die einfache elementare Empfindung zu bewußter Wahrnehmung gesteigert und accentuirt wird. Und wie beim Menschen, so beim Thiere, denn wie Sie mit Recht immer wieder betonen, es gibt objectiv nur quantitative Unterschiede,[j] wenn sie uns auch als qualitative erscheinen. Jedenfalls bedarf es schlechterdings nichts fremdes[k], nichts, was ϑύραϑεν[4] dazu hinzukommen müßte, um die Empfindung zum Bewußtsein werden zu lassen, insbesondre also ist die Monadologie eine bloße sehr bestreitbare Hypothese. Die Concentrirung zur Einheit, welche physiologisch durch die Aufeinanderbeziehung der Nervencentren[l] sich darstellt, offenbart sich psychologisch | als einheitliches Bewußtsein. Diese von Ihnen dargestellten Gedanken lassen sich, wie ich überzeugt bin, in fruchtbarer Weise psychologisch entwickeln, und ich glaube, daß Goltz, mit dem ich noch eingehend darüber reden will, mir beistimmt, daß er seinerseits als Nervenphysiologe[m] Ihrer Ansicht nicht nur beitreten kann, sondern aus derselben auch Motive für seine Forschungen entnehmen kann. Mit großem Interesse habe ich den in demselben Band enthaltenen Aufsatz über Wissen und Glauben[5] (gegen [Joseph] Delboeuf) gelesen und mich gefreut, daß Sie dem Unfug, den berechtigten wissenschaftlichen Glauben mit theologischem Glaube zusammen zu nennen, entschieden entgegentreten. In apologetischen Werken findet man jene Vermischung häufig. |
Über[n] meine Grazer Angelegenheit habe ich seitdem nur gehört, daß der Minister die Besetzung noch einige Zeit hinausschieben wolle. Das wäre mir aus verschiedenen Gründen sehr unangenehm, und ich erlaube mir daher darüber meinem letzten Briefe vom 11. Dezember[6] noch einiges hinzuzufügen; ich hoffe, daß dieser letzte Brief, den ich an das „Abgeordnetenhaus“ adressirte, in Ihre Hände gelangt ist, um sicher zu gehen, will ich jedoch diesen heutigen Brief einschreiben lassen. In jenem Briefe entwickelte ich, daß meine Eigenschaft als Nicht-Oesterreicher darum kein absolutes Hinderniß[o] bilden dürfte, weil einmal doch auch in jüngster Zeit Oesterreicher nach Deutschland berufen worden sind (so Riehl und Janitschek), sodann könne ich ja Oesterreicher werden, auch | würde ich überhaupt Oesterreich nicht blos, wie das bei den dahin berufenen Deutschen meist der Fall ist, als Durchgangspunkt betrachten, sondern daselbst gänzlich mich einzubürgern beabsichtigen.
Daß nun die Grazer Stelle erst wieder für nächsten Winter besetzt werden soll, entspricht dem oesterreichischen Usus; indessen schließt ja diese Absicht eine beschleunigte[p], wenn auch vorläufige Ernennung nicht aus[q]. Wenn ich jetzt schon Sicherheit erhielte, daß, falls man sich überhaupt für mich entscheiden wollte, mir die Stelle im Herbst offen steht, wenn ich also schon jetzt eine bindende Erklärung vom Ministerium erhielte, so wäre das aus folgendem Grunde sehr im Interesse der Sache[r]: | ich könnte meine Arbeiten und Studien planmäßig eintheilen, während ich in diesem ungewissen Zwischenzustand das natürlich nicht thun kann.[s] Ich könnte dann, mit der Ernennung in der Tasche, diesen Sommer hier Urlaub nehmen, nach Berlin gehen, und dort für die Vollendung des II. Bandes meines Kantwerkes[7][t] Studien machen, auf der Bibliothek, wozu mir die dortige Academie eine Unterstützung in Aussicht[8] gestellt hat. Sodann[u] könnte ich für die in Graz zu lehrende Gymnasialpädagogik meine theoretischen Studien durch praktische Erfahrung an dem dortigen Gymnasium ergänzen, zu dem ich Empfehlungen leicht erhalten kann. Dasselbe möchte ich auch in Wien thun[v], wo ich auch zu einigen | Gymnasien schon in Verbindung stehe[9]. Es käme somit diese Freiheit der Action nur meinen in Graz zu haltenden Collegien zu Nutzen. Jetzt dagegen bin ich überall gehemmt und behindert, weiß nicht, wo ich zuerst anfassen soll, weil mir Graz doch noch nicht fest ist. Es mag sein, daß nur ein Gelehrter zuletzt, wie Sie es sind, das ermessen kann, von welchem ernormen Werthe eine derartige sofortige Entscheidung für die wissenschaftliche Oeconomie wäre.[w]
Nun kommt es in Oesterreich selbst (und auch sonst) häufig vor, daß (gerade in diesem genannten Interesse) eine Ernennung im Voraus[x] stattfindet. So erhielt Janitschek, der jetzt hier lehrt, seine Ernennung für | Prag[y] schon im Februar, obwohl die Stellung erst im October von ihm eingenommen wurde. So wurde ein hiesiger Privatdozent, Namens Wróblewski[10][z], nach Krakau als Physiker[aa] berufen, und erhielt seine Ernennung lange Zeit vorher.
Sollten Sie, hochverehrter Herr, in diesem Sinne auf den Minister einzuwirken vermögen resp. ihm diese Gedanken suggeriren können, so wäre das ein enormer Vortheil für mich, resp. meine Sache.[ab] Seitens des Regierungsbeamten faßt man nicht selten die Gelehrtenarbeit als eine Art Bureauarbeit auf, die man heute aufnehmen und morgen fallen lassen kann. Besonders in meinem Falle, der ich mit weit ausfahrenden[ac] Arbeiten über Kant | beschäftigt bin, wäre aber das gewünschte Engagement außerordentlich wertvoll. Vielleicht dürfte es zweckmäßig sein, ganz besonders auch darauf hinzuweisen, daß ich auch vor Antritt der Professur in Oesterreich selbst resp. in Wien an den Gymnasien Studien machen wollte, um die Gymnasialpädagogik nicht blos aufgrund der theoretischen Pädagogik, sondern aufgrund eines reichen Erfahrungsmaterials, und speciell nach oesterreichischen Verhältnissen lehren zu können. Diese Studien in Wien kann ich aber nur machen, wenn ich vorher Zeit genug habe, meine andern Arbeiten in Berlin zum Abschluß zu bringen, d. h. wenn die Ernennung | möglichst bald erfolgt, womöglich schon im Januar schon weil ich später nicht mehr von der Academie in Berlin eine Unterstützung verlangen kann, da dies immer ein Halbjahr früher votirt werden muß.[ad]
Für den Minister liegt ja kein Grund vor, dies zu versagen, da die Ernennung doch erst für October 1883 wäre, womit ja aber ein Jahresgehalt erspart ist, wie das in Oesterreich üblich ist.[ae]
Ich hoffe, hochverehrter Herr, Sie werden mir meine etwas lang geratenen Ausführungen nicht übel nehmen, da Sie die mich zu meiner Bitte nöthigenden Gründe ja gewiß zu würdigen wissen.
Möchte es uns vergönnt sein, | mich im kommenden Jahre noch Ihres ehrenvollen Umganges erfreuen zu dürfen, bei dem ich in jeder Beziehung nur gewinnen kann, zumal mir persönliche Bekanntschaft die Gelegenheit verschaffen wird[af], von Ihnen zu lernen.
Nochmals, hochverehrter Herr, meine ergebensten Neujahrswünsche für Ihr Wohl[ag] und dazu den herzlichsten Dank für all Ihre Güte, Theilnahme und Aufopferung, und die innige Bitte, mir Ihr Wohlwollen und Ihr Vertrauen auch in der kommenden Zeit bewahren zu wollen.
In aufrichtiger Verehrung Ihr ganz ergebenster
H. Vaihinger
Kommentar zum Textbefund
q↑beschleunigte, wenn auch vorläufige Ernennung nicht aus ] am linken Rd. mit Blaustift angestrichenab↑Sollten … Sache ] am linken Rd. mit Blaustift angestrichen, um 90 ° gedreht unleserliche Notiz, mit Kreuz davor: Z[…]Kommentar der Herausgeber
1↑Aufsatz über das Bewußtsein ] vgl. Carneri: Zur Erklärung des Bewußtseins. In: Kosmos 4 (1880), Bd. 8 von Oktober 1880–März 1881, S. 409–422 (März 1881).2↑problematischen Welträthsel ] vgl. Emil du Bois-Reymond: Über die Grenzen des Naturerkennens. Die sieben Welträthsel. Zwei Vorträge. Leipzig: Veit & Comp. 1882.4↑ϑύραϑεν ] gr. vor der Türe, draussen, in der Fremde (Benseler, Griechisch-deutsches Schulwörterbuch).5↑Aufsatz über Wissen und Glauben ] vgl. Carneri: Über Wissen und Glaube. In: Kosmos 4 (1880), Bd. 8 von Oktober 1880–März 1881, S. 81–90 (November 1880).7↑II. Bandes meines Kantwerkes ] die Rede ist von Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Ein zweiter Band erschien 1892.8↑Unterstützung in Aussicht ] nicht ermittelt; zum Plan eines Studienaufenthaltes in Berlin vgl. Vaihinger an Zeller vom 13.11.1882.10↑Wróblewski ] die Rede ist von Zygmunt Wróblewski (1845–1888), 1876 in Straßburg habilitiert, 1882 o. Prof. in Krakau (WBIS).▲