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- TitleVaihinger an Eduard Zeller, Straßburg, 27.6.1882, 8 S., hs., Universitätsbibliothek Tübingen, http://idb.ub.uni-tuebingen.de/opendigi/Md747-782
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Vaihinger an Eduard Zeller, Straßburg, 27.6.1882, 8 S., hs., Universitätsbibliothek Tübingen, http://idb.ub.uni-tuebingen.de/opendigi/Md747-782
Straßburg 27 Juni 1882
Hochzuverehrender Herr Geheimerath, verehrtester Herr Professor![a]
Für die gütige Aufnahme, welche Ew. Hochwohlgeboren meiner Sendung und meinem Briefe[1] angedeihen ließen, gestatte ich mir, Ihnen meinen ganz ergebensten Dank auszusprechen. Anerkennende Aufmunterung aus solchem Munde ist nicht blos schönster Lohn für alle Mühe, sondern vor allem ein scharfer Sporn, sich dieser Theilnahme immer würdiger zu erweisen und mit allem Kraftaufwand nach Vervollkommnung zu streben. Seien Sie überzeugt, daß ich Ihren freundlichen Zuruf vor allem in letzterem Sinne auffasse und darin die Aufforderung erkenne, | in der Fortsetzung meines literarischen Unternehmens immer mehr die großen Arbeiten auf dem Gebiet der kritischen Geschichtsschreibung und Exegese mir zum Vorbild zu nehmen. Dann ist Anerkennung nicht beschämend, wenn man in ihr weniger Lob für das Geschehene als die Aufmunterung zu höheren Leistungen sieht; und das Vertrauen der Meister, daß er diesem Ziele nachstreben werde, ist dem Gesellen die werthvollste Belohnung der Bemühungen, sich nützlich zu machen.
Von der gütigen Erlaubniß, Ihnen meine Ansicht über die „Widerlegung des Idealismus“ gelegentlich mitzutheilen, mache ich jetzt schon Gebrauch. Ich habe, was ich im Verlaufe eines freien Tages zusammentragen konnte, in dem beiliegenden Manuscript[2] aufgezeichnet. Ich habe in den IV ersten Bogen die wichtigsten Stellen über das Thema möglichst kurz besprochen und zwar: |
sub 1) Die „Kritik des 4. Paralogismus“[3], welche in der II. Aufl[age] weggefallen ist.
sub 2) Prolegomena § 49
sub 3 ) „Widerlegung des Idealismus“[4] in der II. Aufl[age]
sub 4) Den Aufsatz bei Ros[enkranz] XI, c[b] 265 ff.[5]
sub 5) Die Anmerkung zur Vorrede B
sub 6) Prolegomena § 13III.
Das Resultat meiner Auffassung habe ich schon auf Seite 1 antecipirt und dann auf S. 13.14 zusammengefaßt.
Auf Bogen V habe ich die wichtigste Literatur herausgegriffen und kurz charakterisirt.
Ich theile die Auffassung, daß die sog[enannte] „Widerlegung des Idealismus“ in der II. Aufl[age] sich auf die empirische Realität der äußeren Objecte bezieht, habe mich jedoch bemüht, auch hier, um mich Ihrem Ausdrucke zu bedienen, „die bei Kant selbst so oft hervortretende, aus der Concurrenz verwandter, aber nicht iden|tischer Fragen und Gesichtspunkte erklärbaren Schwankungen nicht zu verschleiern“[6]. Gerade dieses Thema leidet bei Kant unter derartigen Verwechslungen; und ich bin Ihnen, verehrtester Herr Professor, höchst dankbar, daß Sie mir durch Ihr Vertrauen Gelegenheit gegeben haben, diesen Punkt scharf ins Auge zu fassen. Ich werde in der Fortsetzung meines Commentares[7] auf diese difficilen Fragen so genau als möglich eingehen; in dem beiliegenden Manuscript, um dessen gelegentliche Zurücksendung ich ganz ergebenst ersuche, mußte ich mich auf das Nöthigste beschränken. Sollten Sie dasselbe Ihrer genaueren Aufmerksamkeit unterwerfen, so werde ich für jeden Wink dankbar sein, den Sie mir geben werden, und für jede damit verbundene Förderung meines Unternehmens im Interesse der Sache äußerst verbunden sein. |
Freilich ist die glückliche Fortsetzung und Vollendung der Arbeit an dem Commentar abhängig von der äußeren Lebensstellung, welche zu erringen nicht ehrgeiziger Wunsch sondern praktische Nothwendigkeit für mich ist. Die gütige Theilnahme, welche Ew. Hochwohlgeboren für meine Verhältnisse äußerten, ermutigt mich daher, noch einmal auch meine persönlichen Angelegenheiten Ihnen vertrauensvoll ans Herz zu legen. Bei der traditionellen, schwer zu überwindenden Abneigung der hiesigen Facultät gegen die Ernennung von Extraordinarien[8] und bei dem gegenüber den Jüngeren geübten Schonsystem[c] der hiesigen Regierung bin ich genöthigt, nach auswärts meinen Blick zu richten, zumal noch dazu kommt, daß der hier mächtige Ultramontanismus, welcher schon statt Windelband die Berufung eines katholischen Professors, speciell v. Hertlings[9] verlangte, der Vermehrung akatholischer | Lehrkräfte wirksamsten Widerstand bei der Regierung entgegensetzt; so daß ich hier auf Beförderung nicht die geringste Aussicht habe.
Auf Freiburg aber darf ich mir auch keine Hoffnung mehr machen; zwar hat der (hier neben Windelband vorgeschlagene[10]) Professor Riehl auf dasselbe verzichtet[11], (wegen des geringen Gehalts) aber man richtet daselbst das Augenmerk auf einen Ordinarius, in erster Linie auf Siebeck[12], dann auf Glogau[13]. Nimmt ersterer an, so tritt Glogau an seine Stelle. Glogaus Stelle aber, mag er nach Freiburg oder Basel kommen, ist dann für Stadler[14] bestimmt, welcher an demselben Polytechnicum Privatdocent ist, an welchem Glogau vor kurzem Professor geworden ist, und welcher als geborener Schweizer schon den Vorzug hat.
Daher waren die auf Freiburg gerichteten Bestrebungen meiner hiesigen Gönner ohne Erfolg und ich würde der | Zukunft hoffnungslos entgegensehen, wenn nicht die übrigen vorhandenen, resp. in Aussicht stehenden Vacanzen die Aussicht offen lassen würden, daß ich an anderer Stelle ernstlich in Betracht komme. Jede bescheidene Position wäre mir willkommen, und ich würde alle Kraft aufbieten, um dem in mich gesetzten Vertrauen zu entsprechen und mich zu bewähren. Vielleicht darf ich hinzufügen, daß mir die neuerdings mit Recht verlangte mathematisch-naturwissenschaftliche Seite nicht abgeht: im Gegentheil, von Beginn meines Studiums an habe ich mich ganz speciell mit den Problemen aus dem Grenzgebiete der Naturwissenschaften und Philosophie beschäftigt und alles einschlägige Material gesammelt, weßhalb ich auch eine Vorlesung über das genannte Thema[15] für das folgende oder übernächste Semester auf jeden Fall zu halten beabsichtige. |
Möchten Sie, hochverehrter Herr Geheimerath, in diesen Bemerkungen nicht einen sich vordringenden Ehrgeiz sehen, sondern den Ausdruck zwingender Nothwendigkeit, denn nur diese vermochte mich dazu zu bringen, Sie mit meinen persönlichen Verhältnissen zu belästigen und Sie zu bitten, mir, wenn sich die Gelegenheit dazu darbietet, Ihre Fürsprache angedeihen zu lassen und mir die für den jüngern Gelehrten so überaus schwierige Bahn zu ebnen.
Genehmigen Sie den Ausdruck des innigsten Dankes für alle Ihre bisherigen Bemühungen in diesem Sinne, die mich ermuthigen, mein Schicksal auch fernerhin vertrauensvoll Ihrer Güte und Theilnahme anzuempfehlen.
In tiefster Verehrung Ew. Hochwohlgeboren ganz ergebenster
H. Vaihinger.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑beiliegenden Manuscript ] liegt nicht bei, Vaihinger hat die Rücksendung erbeten (s. u.). Zum Kontext vgl. Vaihinger: Zu Kants Widerlegung des Idealismus. In: Strassburger Abhandlungen zur Philosophie. Eduard Zeller zu seinem siebenzigsten Geburtstage. Freiburg i. Br./Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1884, S. 85–164.5↑Aufsatz bei Rosenkranz XI, c 265 ff. ] vgl. Kant: c. Widerlegung des problematischen Idealismus. In: Immanuel Kant’s Briefe, Erklärungen. Fragmente aus seinem Nachlasse. Hg. v. Friedrich Wilhelm Schubert. Leipzig: Voss 1842 (Immanuel Kant’s sämmtliche Werke. Hg. v. Karl Rosenkranz u. Friedrich Wilhelm Schubert. 11. Theils 1. Abtheilung), S. 265–267 (innerhalb des Kapitels: Sieben kleine Aufsätze aus den Jahren 1788–91).7↑Fortsetzung meines Commentares ] in Bd. 2, 1892 auf S. 52 einige Hinweise; Vaihingers Commentar ist indes nicht bis Kant: Kritik der reinen Vernunft A 368–380 bzw. B 274–279 vorgedrungen.9↑v. Hertlings ] Georg Graf von Hertling (1843–1919), 1876 in Bonn habilitiert, 1880 dort ao. Prof., 1882 o. Prof. in München, als Kandidat der Regierung. Mitbegründer der Görres-Gesellschaft (BEdPh; NDB).10↑hier neben Windelband vorgeschlagene ] vgl. Carl Ledderhose, Kurator der Universität Straßburg, an Staatssekretär Karl von Hoffmann vom 30.5.1882, abgedruckt in: Jörn Bohr/Gerald Hartung (Hg.): Forschungsgrundlagen Wilhelm Windelband. Hamburg: Meiner 2020, S. 45–46.11↑Riehl auf dasselbe verzichtet ] trifft nicht zu; Alois Riehl wurde Windelbands Nachfolger in Freiburg (BEdPh).12↑Siebeck ] Hermann Siebeck (1842–1920), 1872 in Halle habilitiert, 1875 o. Prof. in Basel, 1883 in Gießen (BEdPh).13↑Glogau ] Gustav Glogau (1844–1895), 1869 in Berlin promoviert, 1878 in Zürich habilitiert, zuvor im Schuldienst in Halle, Neumark (Westpreußen) und Winterthur. 1882 Prof. am Polytechnikum in Zürich, 1883 ao. Prof. in Halle, 1884 o. Prof. in Kiel (ADB).14↑Stadler ] August Stadler (1850–1910), 1874 in Zürich promoviert, danach Prof. am Polytechnikum (BEdPh).15↑Vorlesung über das genannte Thema ] an der Universität Straßburg hat Vaihinger von SS 1882–SS 1884 (danach in Halle) folgende Lehrveranstaltungen gehalten bzw. angekündigt: SS 1882: Im philosophischen Seminar: Erklärung der Hauptabschnitte in Kant’s „Kritik der reinen Vernunft“ (niederer Cursus). Die nachkantischen Raumtheorien: Schopenhauer, Herbart, Lotze, Helmholtz u. A. (höherer Cursus); WS 1882/83: Allgemeine Geschichte der Philosophie. Im philosophischen Seminar: Erklärung von Kant’s „Kritik der reinen Vernunft“; SS 1883: Grundprobleme der Psychologie. Im philosophischen Seminar: Lectüre eines pädagogischen Klassikers (Herbart); WS 1883/84: Geschichte der neueren Philosophie. Grundprobleme der Moral. Im philosophischen Seminar: Erklärung von „Herbarts pädagogischen Schriften“; SS 1884: Psychologie. Die neueren Raumtheorien. Im philosophischen Seminar: Paedagogische Übungen. – Die via https://gallica.bnf.fr (5.8.2024) zu erreichenden reproduzierten Exemplare der Straßburger Vorlesungsverzeichnisse aus der Bibliothèque Nationale et Universitaire de Strasbourg befanden sich zuvor im Bestand der Kaiserlichen Universitätskasse und weisen mittels hs. Einträge die eingenommenen Hörergelder für die gebührenpflichtigen Vorlesungen nach. Sie dienen damit auch dem Nachweis tatsächlich abgehaltener Lehrveranstaltungen.▲