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- TitleChristoph Sigwart an Vaihinger, Tübingen, 21.6.1882, 7 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 6 b
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 6 b
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Christoph Sigwart an Vaihinger, Tübingen, 21.6.1882, 7 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 6 b
Tübingen, 21. Juni 1882
Verehrter Herr Doctor,
Meinen besten Dank für die freundliche Uebersendung der Fortsetzung Ihres Commentars[1]. Ich habe schon den ersten Theil desselben mit dem größten Interesse durchgegangen[a] – mit aufrichtiger Bewunderung des immensen Fleißes, mit dem Sie die Literatur verwandt haben, und mit voller Anerkennung Ihres Strebens, philologische Exactheit der Exegese dem philosopischen Verständniß dienstbar zu machen. Daß Sie dabei, bei allem Respect vor dem großen Kant, rückhaltlos seine Schwankungen in der Terminologie und das Ineinandernehmen verwandter Probleme in Eine und dieselbe Faßung aufdecken, darin stimme ich Ihnen ebenso vollkommen zu; ich habe bei meinen eignen Studien in Kant darin immer die größte Schwierigkeit gefunden, daß man fortwährend auf der hut sein muß, die vielen πολλαχϖσ λεγόμενα[b] jedesmal im richtigen Sinn zu verstehen. Ihren neuen Band habe ich sofort begierig in die Hand genommen, und ich glaube es gereicht | demselben zum wesentlichen Vortheil, daß Sie nicht durchgängig die fortlaufende Erklärung festgehalten, sondern die wichtigsten Fragen in zusammenfassenden Excursen freier abgehandelt[c] haben. Besonders gelungen unter dem[d] was ich bisher gelesen, scheint mir Ihre Erörterung über die Hauptfrage u. ihren dreifachen nicht bloß möglichen, sondern von Kant wirklich zu Grunde gelegten Sinn; weniger durchsichtig beim ersten Lesen war mir, was Sie über die Verwendung des Begriffs der Erfahrung als Fundament der Deduction[e] sagen. Ich halte das, trotz Cohens feiner Ausführung[2], für einen der schwierigsten Punkte; und zwar darum, weil fortwährend das formelle Element[f] der durchgängigen Verknüpfung aller Erscheinungen[g] nach allgemeinen Gesetzen und die Idee eines allen möglichen Inhalt einheitlich in seiner Totalität umfaßenden Bewußtseins[h], von dem das wirkliche Wissen immer nur ein Fragment ist, mir darin ineinander zu spielen scheinen. Eben darin finde ich aber die Correspondenz zwischen dem Einheitspunkt[i] der transsc[endentalen] Apperception[j][k] mit ihren formellen Folgen, und diesem Begriff der Erfahrung,[l] | daß der letztere die mit dem empirischen Inhalt erfüllte Totalität des Wissens[m] darstellt, dessen formelle Einheit[n] in der Apperception liegt; und die Schwierigkeit scheint mir daraus hervorzuwachsen, daß Kant immer nur mit dem Begriff des Bewußtseins[o] u. s. w. operirt, u. die Thatsachen[p] des wirklichen individuellen Bewußtseins u. der Art, wie in ihm das Wissen ist, ganz bei Seite läßt, seiner ganzen Methode entsprechend, nicht psÿchologisch[q] von den Thatsachen des Bewußtseins aus, sondern rein logisch[r] zu erfaßen, indem er die Bedingungen des totalen Wissens um die Totalität untersucht. So habe[s] ich mir bis jetzt die Frage zurecht gelegt; in den Paralogismen platzen dann das bloß formelle Ich und das wirkliche, das Subject des wirklichen Wissens und das Subject des Begriffs des Wissens aufeinander[t][u] – und Kant geräth in eine Verlegenheit, aus der er nicht herauskann, u. die die Anmerkungen der 2. Aufl. deutlich verrathen.
In der Ausführung über Hume[v] sind mir die Stellen, aus denen chronologisch das Eingreifen Humes in die Entwicklung der Kantischen Gedanken bestimmt werden | müßte, nicht präsent genug, um über Ihre Vermuthung etwas zu sagen; materiell aber haben Sie sehr scharfsinnig[w] das Durcheinanderspielen von Causalitätsbegriff[x] und allgemeinem Causalitätsprincip[y] aufgedeckt. Dieselbe Verquickung hat mir in frühern Jahren lange zu schaffen gemacht, bis ich gelernt habe, durchgängig beides zu scheiden.
Für die psÿchologische Analÿse läßt es sich leichter durchführen, für Kants Standpunkt ist allerdings der Causalbegriff[z] in seinen einzelnen Beispielen schließlich wieder von dem allgemeinen Grundsatz[aa], der die Kategorie[ab] überall[ac] anzuwenden gebietet, abhängig gedacht[ad], u. daher erst das fortwährende Ineinanderfließen.[ae]
S. 350 übrigens möchte ich Kant in Schutz nehmen. Ich glaube, der Satz in der Vorrede zu den Prolegomena[af] ist doch – zwar im Ausdruck nicht vollkommen gegen Misverständnisse[ag] geschützt – aber dem Sinne nach unzweideutig;[ah] es heißt: Hume bewies unwidersprechlich, daß es der Vernunft unmöglich sei, a priori[ai] (d. h. im Hume’schen[aj] Sinn, analÿtisch[ak], d. h.) aus Begriffen[al] (nemlich[am] den Begriffen des Etwas[an] das als Ursache, und des Etwas das als Wirkung angenommen wird) eine solche Verbindung[ao] | (vermöge der mit der Setzung des Einen das andere nothwendig[ap] gesetzt werden müßte) zu denken. Hume operiert ja gegen den [C.] Wolffischen Gedanken, daß das Verhältniß des zureichenden Grundes zuletzt auch auf Identität[aq] zurückgeführt werden müsse, aus dem Begriff eines Dings seine Wirkungen müssen[ar] abgeleitet werden können; sofern aus Begriffen – nemlich[as] der Dinge, die als Ursachen gelten sollen[at] erkannt wird, wird a priori[au][av] erkannt, u. in dieser Opposition gibt ihm Kant recht – der Begriff der causalen Verbindung läßt sich nicht auf Identität[aw] reducieren. In anderem Sinn ist dann[ax] freilich für Kant selbst die causale Verknüpfung a priori[ay][az] und aus Begriffen, d. h. nicht aus der Erfahrung, sondern aus der Kategorie als einer Form der Sÿnthesis. So, glaube ich, kann die Stelle ohne Zwang verstanden werden.
Dass die sÿnthet[ischen] Urtheile a posteriori[ba][bb] in Kants Sinn ebenso der Erklärung bedürfen, und mit in der Frage eingeschlossen sind, welche die Kritik der reinen Vernunft[bc] beantworten will, ist unzweifelhaft richtig; aber ich glaube, daß es einen naheliegenden Grund gibt, aus dem Kant sie nicht erwähnt u. nicht erwähnen konnte. Denn daß jedes empirische Ur|theil, das objectiv gültig sein will, eine Kategorie u. einen apriorischen Grundsatz voraussetzt, kann Kant seinem Leser doch nicht wohl schon in der Einleitung sagen; das folgt ja erst aus der ganzen Analÿse; der[bd] Leser sieht darin also zunächst gar kein Problem[be], da ihm die Sÿnthesis durch Wahrnehmung geläufig ist, u.[bf] er diese ohne weiteres für objectiv gültig nimmt; für Kant aber ist mit der Frage: wie sind sÿnthet[ische] Urtheile a priori[bg] möglich, ebendamit auch die Möglichkeit der Urtheile a post[eriori][bh] begründet; es sind für ihn nicht zwei unabhängige Fragen.
Doch ich könnte noch lange, zustimmend oder da u. dort ein Bedenken äußernd, fortschreiben; ich will aber lieber Ihnen nochmals zur Vollendung dieses Theils einer mühevollen Abeit gratulieren, und wünschen, daß sie in jeder Hinsicht Erfolg haben möge. Für Sie selbst – erlauben Sie mir diese Andeutung[bi] in Ihrem Interesse – wird der Erfolg um so sicherer sein, je mehr Sie durch zusammenhängendere Ausführungen in der Weise Ihrer Excurse[3] sich auch solche Leser sichern, denen die Zeit[bj] | fehlt, sich den Gewinn den sie aus Ihrer Arbeit ziehen könnten, durch ein Durcharbeiten der Einzelerklärung zu holen. Für den Zweck [d]es Werks ist diese nöthig, u. es wird dadurch seine Bedeutung erringen u. für lange sichern[bk]; aber Ihr Interesse, das doch darüber nicht zu kurz kommen darf, ist, daß Sie gleich beim Erscheinen von möglichst Vielen wirklich gelesen werden; u. das erreichen zusammenhängendere Erörterungen leichter[bl]; sie lassen zudem nicht bloß den Gelehrten und scharfsinnigen Exegeten und Kritiker erkennen, sondern auch auf den Docenten einen Schluß ziehen. Daß[bm] es mich sehr freuen würde, wenn Ihnen Ihre academische und literarische Thätigkeit recht bald eine sichere Stellung erwürbe, brauche ich Sie nicht zu versichern.
Mit nochmaligem Danke u. den besten Wünschen Ihr ergebener
C Sigwart.
Kommentar zum Textbefund
b↑πολλαχϖσ λεγόμενα ] mit Rotstift unterstrichen; grch. die sprachlichen Ausdrücke unterschiedlichen Sinnsp↑Thatsachen ] kann auch Thatsache heißen; danach ein unleserliches Wort und ein Buchstabe gestrichenae↑anzuwenden gebietet … Ineinanderfließen ] am Rd. mit Blaustift angestrichen, daneben mit Blaustift: ?aw↑dieser Opposition … auf Identität ] mit Blaustift unterstrichen, auf Identität doppelt unterstrichenKommentar der Herausgeber
1↑freundliche Uebersendung der Fortsetzung Ihres Commentars ] etwaiger Begleitbrief Vaihingers nicht ermittelt; meint die zweite Lieferung von Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zum hundertjährigen Jubiläum derselben. Bd. 1. Stuttgart: W. Spemann 1881 [2 Lieferungen 1881/1882].2↑Cohens feiner Ausführung ] gemeint sind Cohen: Kants Theorie der Erfahrung. Berlin: Ferd. Dümmler 1871. Digitalisat: https://archive.org/details/kantstheorieder01cohegoog/ (14.6.2024) und Cohen: Kants Begründung der Ethik. Berlin Ferd. Dümmler 1877. Digitalisat: https://archive.org/details/kantsbegrndungd03cohegoog/ (14.6.2024).3↑zusammenhängendere … Excurse ] vgl. Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zum hundertjährigen Jubiläum derselben. Bd. 2. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Union/Deutsche Verlagsgesellschaft 1892, S. IV: Dem Ersten Bande konnte nicht mit Unrecht vorgeworfen werden, dass der Stoff nicht überall gleich zweckmässig disponirt sei, dass hie und da auf Unwesentliches zu viel eingegangen sei, dass der Commentar zu wenig zusammenhängende Erörterungen biete. […] Auf Sigwarts freundlichen Rath hin habe ich in diesem Bande vor Allem mehrere zusammenhängende Excurse eingeschoben, um insbesondere dem dritten jener berechtigten Einwände zu begegnen. Vgl. Sigwart an Vaihinger vom 28.10.1892.▲