Bibliographic Metadata
- TitleAnton von Leclair an Vaihinger, Prag, 28.4.1882, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 6 m, Nr. 8
- Creator
- Recipient
- Participants
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 6 m, Nr. 8
- URN
- Social MediaShare
- Archive
- ▼
Anton von Leclair an Vaihinger, Prag, 28.4.1882, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 6 m, Nr. 8
Prag d. 28. April 1882.
Lieber Freund![a]
Die Fahnen 12–15[1] habe ich nebst Karte[2] am 24. April abgeschickt. – Meinen Br[ief] v[om] 7. d[es] M[onats][3], worin ich den Begr[iff] des Erklärens urgirte, haben Sie[b] wohl erhalten? Ich frage, weil Sie nichts davon erwähnen. – Ich habe niemals, auch schon bei dem allerersten Studium der Kritik der reinen Vernunft[c], begriffen (wiewohl sich zunächst dieses Nicht-begreifen nur[d] in der Form eines eigenthüml[ichen] Unbehagens kundgab), warum man allgem[ein] als die den Problemkreis Kants[e] vollständ[ig] umfassende Hauptfrage die Frage hinstellt: „Wie sind synthetische Urteile a priori[f] möglich?“ – Und dasselbe Unbehagen hat mich stets auch[g] bei den Partien beschlichen, die von d[er] Causalität[h] handeln, eben weil Kant[i] das Princip u. den empirischen Nexus (zw[ischen] A u. B, A1[j] u. B1) nicht scharf sondert; anfangs ergab ich mich in den bescheidenen Gedanken, dass ich Kant[k] nicht ganz zu fassen vermöge, dann aber entschloss sich mein Denken, seine eigenen Wege zu gehen, u. anderwärts fand ich weit befriedigendere Erörterung des fraglichen Punktes[l], z. B. bei Lotze[m]. Ich kann Sie bezügl[ich] der beiden Punkte[n], d[as] i[st] der Erfahrungsurteile[o] u. des Hume’schen Problems nur beglückwünschen; namentl[ich] die das letztere erörternd[en] Ausführungen[p] befriedigen mich durch ihre erschöpfende Klarheit u. Gründlichkeit[q]. Leider enthält Ihre Sendung[r] eine Lücke: es fehlt d[as] Bl[att] 347. 348. – Beachten Sie, was ich p. 354 blau angestrichen habe: Ich leugne, dass das cit[ierte] „Wahrnehmungsurteil[s]“ qua[t] gedachtes u. verlautbartes Urteil eine „bloße Verknüpfung der Wahrnehmung in meinem Gemüthszustand[u]“ sei; mehr sagt schon: „eine bloß (!!) logische Verknüpfung der Wahrnehmungen[v] in einem denkenden[w] Subject“.[4] Wie so Wahrnehmungen[x] logisch sollen verknüpft werden können[y], ist mir unerfindlich.[z] Logisch ist die Verknüpfung[aa], aber eben deshalb geht das Urteil weit hinaus über das Gebiet der Wahrnehmungen[ab], zwischen denen ich strenggenommen nur räuml[iche] u. zeitl[iche] Relationen an|erkenne[ac] (auch diese freil[ich] bedingt durch die Einheitsfunction des Bewusstseins überhaupt[ad])[ae]. Das Urteil „Der schwarze Hund im Hofe bellt“ bringt eine Gehörs- u. Gesichtswahrn[ehmung] in causalen Zusammenhang[af] mit anderen bereits zu Begriffen verarbeiteten u. hiedurch mit unserem ganzen Begriffssystem in Connex gestellten Wahrnehmungen[ag]; das Urteil[ah] „der St[ein] wird warm“[5] versteht man nicht ohne Ding-Kategorie, Identitätsprincip u. sonach den Begr[iff] der Veränderung[ai] („wird!“). Das sollten Sie noch, wenn Sie es nicht schon im Plane haben, hervorheben. Das Wahrnehmungsurteil[aj] bestimme ich dahin, dass eine Wahrnehmung[ak] (natürlich immer[al] mit ihrem Gattungscharakter) in einem Urteil die Prädicatolle spielt. Mögen nun dem Subjecte auch Wahrnehmungen[am] zu Grunde liegen od[er] nicht – in jedem Falle sind es die Begriffe[an], an die angeknüpft wird, und schon dieses Anknüpfen selbst ist nichts anderes[ao] als eine fundamentale (sc.[ap] kategoriale) begriffl[iche] Function. Die Gehörswahrnehmung[aq] ist gewissermaß[en] der noch unbehauene Baustein, nun gilt es seinen Gattungscharakter[ar] herauszuheben[as], aber dieser ist als solcher zunächst noch immer unverwendbar; er muss behauen werden u. zw[ar] lässt er verschiedene Formen zu: z. B.[at] bellen, Gebell, bellend. In dieser begrifflichen Durchsetzung oder Formung[au] erst kann der Stein dem Baue hinzugefügt werden. Darin[av] ist also viel enthalten, was nicht Wahrnehmung ist. Damit ich nicht misverstanden[aw] werde, füge ich noch ausdrücklich hinzu, dass das Begriffliche m. E. nicht etwa als etwas Äußerliches (wie eine fremde Macht) der Wahrn[ehmung] gegenübersteht u. diese formt (sich unterjocht), sondern dass die Wahrnehmungsinhalte[ax] (als das primäre Gegebene) die Beschaffenheit haben, dass sich aus ihnen durch mannigfaltige Analysen, durch Abstractionen u. Generalisationen das ganze Netzwerk der Begriffe ge|wonnen[ay] wird[az], mit dem schon dem Blicke des kindlichen Geistes die Data der Sinnlichkeit umflochten sind; aus ihnen selbst[ba] entspringt die Nöthigung, ihre Coexistenzen u. Successionen unter den Schematen der Kategorien aufzufassen.
Wenn man will, kann man als Erfahrungsurteil[bb] nur jenes gelten lassen, das einen bestimmten Nexus R ~ S[bc] als bereits methodisch sichergestellt, als unabhängig von bestimmtem „Wann“ u. „Wo“, somit in seiner Abstractheit behauptet. Unberechtigt aber ist es, sich bezügl[ich] der Auffindung[bd] der apriorischen Elemente des Urteilens nur an diese zu halten, da doch die diversen (sog[enannten]) Wahrnehmungsurteile[be], durch deren Concurrenz sich der abstracte Satz herausstellt, ganz ebenso apriorische Elemente zu Grunde liegen haben. Der Unterschied ist lediglich der, dass der materiell bestimmte Nexus[bf] zwischen den Daten R[bg] u. S[bh] einmal mit dem stillschweig[enden] Zugeständnis aufgestellt wird, dass in R[bi] viell[eicht] gar kein Moment liegt, das[bj] S[bk] als Folge bedingte, das anderemal auf Grund methodischer Prüfung[bl] mit der (wenn man recht vorsichtig ist, immer nur provisorischen) Überzeugung[bm] behauptet wird, dass in S[bn] die unausbleibliche Folge von R[bo] erkannt sei. Im weiteren Verlauf der Forschung[bp] kann sich herausstellen, dass S[bq] nur die Folge eines Umstandes α ist, der bisher immer mit R[br] complicirt war, aber nicht beachtet u. somit auch nicht nach d[er] Differenzmethode eliminirt worden war, so dass erst jetzt R[bs] ohne die Folge S[bt] beobachtet wird. Was hat nun aber mit diesen Irrtümern u. Correctu|ren[bu] der Causalgedanke zu thun, der im materiellen Irrtum gerade so lebendig wirkt u. schafft wie in einer der sichersten Einsichten unserer modernen Naturwissenschaft? Soll ich die Geschichte der Wissenschaft[bv], der Cultur (Religion, Recht etc.[bw])[bx] überhaupt zu Zeugen anrufen? – –
Sehen Sie den Rand der Fahnen genau durch; ich erlaube mir einige[by] wenige Änderungen[bz]; einmal drückt ein Fragezeichen (blau) eine mir[ca] unklare Beziehung[cb] (von „der[cc] Ersteren“ F.[cd] 19) aus. – Ich fand auch in d[er] Revision[ce] u.[cf] Superrevision[cg] (p. 337–68)[ch] noch einige Druckfehler.
D[ie] Art u. Weise[ci] Ihrer[cj] Ausführung 345 fortfolgende[ck] entspricht ungef[ähr] meiner Idee von einem fruchtbringenden, Anregung u. Förderung[cl] des Lesers u. der Sache bewirkenden Commentar. Ich muss leider wiederholen[6], dass im Übrigen ich durch das desultorische Mosaik der allseitigen Polemik beirrt, ermüdet, abgezogen werde. Freil[ich] liegt auch die Pflicht vor, das vorhandene Material zu benützen u. zu verarbeiten; es ist dies eben für sich wieder ein methodolog[isches] Problem. Ich theile Ihnen eben nur den Eindruck mit, den es auf mich macht. Denken Sie sich nun einen Leser, dem die ganze Materie weniger od[er] gar nicht vertraut ist! Und Sie sollten mit einem breiten Leserkreis rechnen. Nun aber für heute ein herzl[iches] Lebewohl! Mit Gruß[cm] u. Handschlag Ihr sehr ergebener
Dr. A. Leclair
Erfreuen Sie mich recht bald wieder durch eine Sendung!
Kommentar zum Textbefund
y↑sollen verknüpft werden können ] per Umstellungszeichen verbessert aus: verknüpft werden sollen könnenae↑(auch … überhpt) ] Einfügung über der Zeile, Einfügezeichen und Unterstreichung in roter Tinte (der Brief ist in dunkelbrauner Tinte geschrieben)cm↑Nun aber für … Mit Gruß ] mit Bleistift geschrieben (der übrige Brief ist in schwarzer Tinte geschrieben)Kommentar der Herausgeber
1↑Die Fahnen 12–15 ] zu einem Teil der 2. Lieferung von Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zum hundertjährigen Jubiläum derselben. Bd. 1. Stuttgart: W. Spemann 1881 [2 Lieferungen 1881/1882]; vgl. Leclair an Vaihinger vom 24.10. und vom 26.11.1881 sowie vom 9.3. und 6.4.1882.3↑Meinen Br. v. 7. d. M. ] ein etwaiges Schreiben vom 7.4.1882 ist nicht ermittelt; vgl. von Leclair an Vaihinger vom 6.4.1882.4↑Beachten Sie … denkden Subject“. ] vgl. Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zum hundertjährigen Jubiläum derselben. Bd. 1. Stuttgart: W. Spemann 1881 [2 Lieferungen 1881/1882], S. 354: In den Proleg. § 20 Anm. wird das Wahrnehmungsurteil: Wenn die Sonne den Stein bescheint, so wird er warm, wohl unterschieden von dem Erfahrungsurteil: Die Sonne erwärmt den Stein. Das erste macht K. gar keine Sorgen. Aber in dem zweiten, das ausdrücklich auch als synthetisches bezeichnet wird, ist eine objective Allgemeingültigkeit und Nothwendigkeit enthalten, welche nicht aus der gemeinen Erfahrung stammt. Jener Unterschied wird in § 18 als ein ganz fundamentaler hingestellt. Nur von den Wahrnehmungsurteilen gilt, was K. oben sagt, dass zu ihrem Zustandekommen die Erfahrung genüge; sie sind wie K. Prol. § 18 sagt, eine bloss logische Verknüpfung der Wahrnehmung in einem denkenden Subject; sie sind (§ 19) blosse Vorstellungsverknüpfungen, blosse Verknüpfungen der Wahrnehmungen in meinem Gemüthszustande (§ 20).5↑das Urteil „der St. wird warm“ ] vgl. Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zum hundertjährigen Jubiläum derselben. Bd. 1. Stuttgart: W. Spemann 1881 [2 Lieferungen 1881/1882], S. 354 (s. o.).▲