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- TitleFriedrich Paulsen an Vaihinger, Berlin, 28.3.1882, 7 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 2 c–3
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 2 c–3
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Friedrich Paulsen an Vaihinger, Berlin, 28.3.1882, 7 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 2 c–3
Berlin 28/3 82.
Geehrtester Herr College![a]
Ihren so eben empfangenen Brief[1] will ich gleich beantworten u. die freundlichst übersendeten Correkturbogen[2] zurücksenden.
Ich begann gestern bei der Lektüre[b] Randbemerkungen hinzuzufügen, verzichtete aber bald darauf, da ich sah, daß ich Seite für Seite Ihnen mit solchen Notizen verunstalten würde, ohne doch die Sache zu erledigen.
Der[c] formelle[d] Unterschied unseres Verhaltens zu Kant ist der: daß Sie die Untersuchung[e] viel zu viel[f] in Form der Frage: was sagt Kant? führen; Nach meiner Ansicht ist damit nicht weit zu kommen, denn Kant[g] | sagt[h] Vieles u. Unbestimmtes (wirklich[i] innerlich Undeterminiertes[j]) u. Widersprechendes[k] (wie Sie selbst aussprechen[3]). Man muß also fragen: was muß Kant[l] sagen, d. h.[m] was will er eigentlich[n] sagen. Dies zu bestimmen dient nun die Deduktion[o] in der Aesthetik[4] u. Analytik (erstere auch in 1770, u. hier deutlicher). Ich finde aus den Deduktionen[p] läßt sich nun das Problem (aus der Antwort die Frage[q]) Allein völlig zutreffend entwickeln[r].[s] Die Fragestellung der Einl[eitung][t] ist schon in der ersten Aufl[age] nicht ganz klar, in der zweiten[u] A[uflage] heillos verwirrt. Es wäre erwünscht, wenn Sie über die Geschichte der Frage[v]: wie sind synth[etische][w] U[rteile] a pr[iori] möglich? eine Aufklärung geben könnten.[5] Ich habe angedeutet, die Frage scheine erst nach der Untersuchung so geformt worden zu sein[x] (S. 166[6]).
Also das ist nach m[einer] Anschauung Aufgabe des Interpreten: 1) sagen was Kant[y] nach Sinn | u. Zusammenhang des ganzen Unternehmens[z] sagen muß, 2) sagen, was Kant sagt[aa], wie sich dies zu jenem verhält[ab], wie die oft stattfindende Abweichung entstanden[ac] ist.
Was[ad] nun die Sache[ae] betrifft, so stellen Sie mit[af] meiner Ansicht, Kant wolle die Gültigkeit der r[einen] Math[ematik] u. Naturwissenschaft[ag] beweisen, als einer[ah] einseitigen, die andere zusammen: er wolle sie erklären, aber nicht psychologisch, sondern[ai] logisch.[7]
Ich gestehe, daß ich den Unterschied nicht bestimmt zu fassen vermag. Eine[aj] Erkenntnis logisch erklären[ak] heißt sie begründen. Dies würde ich durchaus für eine zutreffende Formel halten: Kant[al] will die synth[etischen] Urt[eile] a pri[ori] oder die r[eine] M[athematik] u. Naturw[issenschaft] begründen[am]. Sie sind[an] vorhanden[ao], ohne Zweifel, Mathem[atik] als angewendet auf Erscheinungen u. solche Sätze wie: jede Veränderung folgt auf[ap] eine[aq] andere nach einer Regel, Materie entsteht u. ver|geht nicht, sind vorhanden[ar]. Aber sie sind bisher[as] nicht[at] begründet, der Ration[alist] hat dies nicht geleistet der Empir[ist] hat sie, d. h. ihre Gültigkeit als allg[emeine] u. notw[endige] Naturgesetze, sogar bestritten. Das[au] ist also die Voraussetzung[av] des Unternehmens: jene Sätze sind noch[aw] nicht begründet, d. h. also[ax] problematisch.[ay] Kant will sie begründen. Natürlich[az] weiß er am Anfang der Kr[itik] d[er] r[einen] V[ernunft], was am[ba] Ende herauskommt, daß sie gültig[bb] sind[bc] ([bd]was übrigens auch heute bestritten wird): aber er[be] darf es vor der Begründung nicht voraussetzen.[bf] Eine Erkenntnis kann doch überhaupt nicht wie eine physikalische[bg] Tatsache nachgewiesen[bh] werden, ihre Aufzeigung[bi] ist eben die Begründung.[bj]
Ich denke mit dieser Darstellung würden[bk] Sie einverstanden sein. –[bl][bm]
Kuno Fischer[bn] dürften Sie nicht ‚unvergeßl[iche] Verdienste‘[8] zuschreiben. Wenn sein Buch[9] nie erschienen wäre, zeigte die Kantphilol[ogie] nicht die mindeste[bo] | Lücke. Er hat sich die Fragen[bp] um die es sich handelt selbst nie deutlich gemacht. Seine Darstellung ist ein[bq] verwässertes Excerpt,[br] das die Sache ganz so liegen läßt, wie sie in der Kritik stehen[bs], nur[bt] daß er die Sache durch Benutzung der verschied[enen] Redaktionen noch mehr verwirrt.[bu]
[Benno] Erdmann hat sich gänzlich verrannt; nicht ohne Einfluß meiner Darstellung (wir haben schon lange vor Erscheinen meiner Schrift[bv][10] mündlich darüber gestritten). Er kann zu der Deduktion mit seiner absolut falschen[bw] (nicht einseitigen) Auffassung gar keinen Zugang gewinnen. –
Wenn Sie auf meine Darstellung noch weiter Rücksicht nehmen wollen, würden Sie auch in ein[em] kl[einen] Aufsatz der Vierteljahrsschrift[bx] (I, 169[by]) über die princip[iellen] Gegensätze der Erkenntnistheorie[11] finden, daß ich keineswegs so[bz] ein|seitig, wie es auch in Ihrer Darstellung erscheint, den Rationalism betont habe. Ich denke, es ist ziemlich genau die selbe[ca] Ansicht von[cb] Kants Erkenntnistheorie[cc] u. ihrem Wesen, die Sie in der Einleitung entwickeln. So einseitig bloß das eine Stück zu sehen ist ja übrigens wohl niemand jemals gewesen. Es handelte sich immer um das Verhältniß beider[cd]:[ce] ist Phänomenalismus u. Immanenz oder Rationalismus[cf] das probandum[cg] in den Deduktionen[ch]? Und hierauf weiß ich (keineswegs allein) die richtige Antwort u. [Benno] Erdmann giebt die falsche[ci] (nicht eine einseitige richtige[cj])[12], was mir um seinetwillen leid tut: denn in[ck] diesem Punkt wird die Wahrheit nicht untergehen.[cl]
Und nun genug davon. Aber beschuldigen Sie nicht wieder so leicht jemanden der Ein|seitigkeit, u. wenigstens mich nicht wieder der Verwirrung,[cm] wie Sie in diesem Correkturbogen tun.[13] Diesen Vorwurf lehne ich schlechterdings ab.
Auf die vorgeschlagene Durchsicht der Correkturbogen kann ich nicht eingehen, so gern ich es täte. Dieselbe ist, wie Sie leicht sehen, recht mühsam u. zeitraubend u. ich kann jetzt durchaus[cn] keine Zeit entbehren. Auch ist, fürchte ich der Cartesianische Vorgang[14] nicht ein recht ermuthigendes Beispiel.
Ich wünsche Ihrem Unternehmen guten Fortgang u. bin mit vorzüglicher Hochachtung Ihr ergebenster
Paulsen.
Kommentar zum Textbefund
g↑ist damit … denn Kant ] am Fuß vor Seitenwechsel Bleistiftnotiz (hier u. im Folgenden von Vaihingers Hd., Lesung sehr unsicher): Erkenntniß daß Paulsen ohne Stellenangabe allgemein behaupte oder nur Eine Art Stelle anführei↑Der formelle … Unbestimmtes (wirklich ] am Kopf nach Seitenwechsel Bleistiftnotiz: das Alles thue ichz↑u. Zusammenhang … Unternehmens ] am Kopf nach Seitenwechsel Bleistiftnotiz (Lesung unsicher): beides habe ich gethan u. werde ich auch mehr als bisher thun | Vielmehr Cirkelmethode ([…])ak↑erklären ] mit Bleistift unterstrichen, am Rd. Bleistiftnotiz (Lesung unsicher): wie die Gültigkeit darstellenam↑begründen ] mit Bleistift in Anführungszeichen gesetzt, am Fuß vor Seitenwechsel mit Einfügemarke Bleistiftnotiz: begründen s doch darüber bei Fischerat↑vergeht nicht … bisher nicht ] am Kopf nach Seitenwechsel Bleistiftnotiz: P[aulsen] hat die Sache gar nicht begriffen trotz meiner klaren Darstellung!!ay↑d. h. also problematisch. ] Einfügung von Paulsens Hd. unter der Zeile. Danach Bleistiftnotiz (hier wie im Folgenden von Vaihingers Hd.): !!! jeweils verwechseltbh↑nachgewiesen ] mit Bleistift unterstrichen. Darüber Alternativvariante von Paulsens Hd.: aufgezeigtbw↑falschen ] mit Bleistift doppelt unterstrichen, am Rd. Bleistiftnotiz (Lesung unsicher): gut; ich behandle jedoch hier die Deduction nicht sondern die ganze Kritik u. in Bzg hierauf ist seine Darstelg nur einseitigce↑wohl niemand … Verhlältniß beider: ] am Rd. mit Bleistift angestrichen und Bleistiftnotiz: doch eben P!ci↑weiß ich … falsche ] am linken Rd. Bleistiftnotiz: wie oben!, am Fuß vor Seitenwechsel mit Verweiszeichen fortgesetzt: allerdings Deduction. aber es handelt sich nicht um diese in meiner Darstellung.Kommentar der Herausgeber
1↑Ihren so eben empfangenen Brief ] nicht ermittelt, vermutlich Antwort auf Paulsen an Vaihinger vom 23.3.18822↑Correkturbogen ] liegen nicht bei; aus dem Folgenden wahrscheinlich zur zweiten Hälfte (Lieferung) von Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zum hundertjährigen Jubiläum derselben. Bd. 1. Stuttgart: W. Spemann 1881 [2 Lieferungen 1881/1882]; vgl. Paulsen an Vaihinger vom 23.3.1882.3↑wie Sie selbst aussprechen ] vgl. Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zum hundertjährigen Jubiläum derselben. Bd. 1. Stuttgart: W. Spemann 1881 [2 Lieferungen 1881/1882], bspw. S. V, VIIf., X, 10, 212.4↑Deduktion in der Aesthetik ] eine explizit als solche betitelte Deduktion liefert Kant hinsichtlich der Ästhetik weder in der Kritik der reinen Vernunft noch in den Prolegomena oder in der Dissertationschrift von 1770 (De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis), vgl. allerdings Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 88/B 120–121 (zit. nach dass., hg. v. Karl Kehrbach. Leipzig: Philipp Reclam jun. o. J. [Vorrede datiert auf März 1877], S. 106): Dagegen fängt mit den reinen Verstandesbegriffen die [!] unumgängliche Bedürfniß an, nicht allein von ihnen selbst, sondern auch vom Raume die transcendentale Deduction zu suchen, weil, da sie von Gegenständen nicht durch Prädicate der Anschauung und der Sinnlichkeit, sondern des reinen Denkens a priori reden, sie sich auf Gegenstände ohne alle Bedingungen der Sinnlichkeit allgemein beziehen, und die, da sie nicht auf Erfahrung gegründet sind, auch in der Anschauung a priori kein Object vorzeigen können, worauf sie vor aller Erfahrung ihre Synthesis gründeten und daher nicht allein wegen der objectiven Gültigkeit und Schranken ihres Gebrauchs Verdacht erregen, sondern auch jenen Begriff des Raumes zweideutig machen, dadurch, daß sie ihn über die Bedingungen der sinnlichen Anschauung zu gebrauchen geneigt sind, weshalb auch oben von ihm eine transcendentale Deduction von nöthen war. Paulsen spricht mit Bezug zu Kants Dissertation von der transcendentalen Erörterung von Raum und Zeit sowie mit Bezug zur (1. Aufl. der) Kritik der reinen Vernunft von einer etwas verkümmerte[n transzendentalen Deduktion] in der Aesthetik, jeweils ohne konkreten Verweis auf eine Textstelle (vgl. ders.: Versuch einer Entwicklungsgeschichte der kantischen Erkenntnisstheorie. Leipzig: Fues’s Verlag (R. Reisland) 1875 (https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11171206? (13.09.2023), S. 179; gemeint ist hinsichtlich Kants Dissertation vermutlich Sectio III. De principiis formae mundi sensibilis). Vaihinger kommentiert mit Bezug zur Kritik der reinen Vernunft, dass: in der Aesthetik und Analytik zwei Theile deutlich [hätten] unterschieden werden müssen, deren erster die bezügliche ganz reine Erkenntniss behandelt, deren zweiter zeigt, wie die Erfahrung selbst erst durch apriorische Zusätze objectiv, allgemein und nothwendig werden. Factisch finden sich auch jene beiden Bestandtheile, deutlicher in der Analytik als in der Aesthetik. Dort behandelt die „transsc. Deduction“ die Erfahrung, die „Grundsätze“ die ganz reine Erkenntniss. In der Aesthetik entspricht dem letzteren Theil der Nachweis der Möglichkeit der reinen Mathematik, dem ersteren Theil die rudimentäre Erörterung in A 28–29, wonach durch den Zusatz des Raumes objetiv nothwendige und allgemeine Erfahrungseigenschaften möglich sind. Auf diese fundamental wichtige Unterscheidung kommt der Commentar zur Analytik zurück. (Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zum hundertjährigen Jubiläum derselben. Bd. 1. Stuttgart: W. Spemann 1881 [2 Lieferungen 1881/1882], S. 188; vgl. auch ebd., S. 426; Vaihingers Kommentar ist nicht bis zur transzendentalen Analytik der Kritik der reinen Vernunft vorgedrungen). Schon deutlich früher ist in der Literatur über Kant von (mindestens) zwei transzendentalen Deduktionen die Rede, vgl. etwa Erdmann, Johann Eduard: Die Entwicklung der deutschen Speculation seit Kant. Erster Theil (Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neuern Philosophie Bd. 3, 1. Abteilung). Leipzig: Fr. Chr. Wilh. Vogel 1848 (Digitalisat: https://archive.org/details/bub_gb_wMsFAAAAQAAJ, 19.10.2023), S. 72.5↑Es wäre erwünscht … geben könnten. ] vgl. Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zum hundertjährigen Jubiläum derselben. Bd. 1. Stuttgart: W. Spemann 1881 [2 Lieferungen 1881/1882], S. 329–330. Es ist nicht ermittelt, ob diese Passage in der ersten oder in der zweiten Lieferung enthalten war.6↑S. 166 ] vgl. Paulsen: Versuch einer Entwicklungsgeschichte der kantischen Erkenntnisstheorie. Leipzig: Fues’s Verlag (R. Reisland) 1875 (https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11171206?, 13.09.2023), S. 165 f.: Wir glauben nunmehr hinlänglich gezeigt zu haben, dass die Frage der Kritik in allen drei Einzeluntersuchungen, der mathematischen, physischen und metaphysischen Urteile, nur eine andere Formel ist für die Frage: wie ist aus reiner Vernunft Erkenntnis von Gegenständen möglich? […] | […] Mathematik und reine Naturwissenschaft sind ganz in derselben Lage. Beide enthalten absolut producirte Sätze; beide nehmen die Bedeutung gegenständlicher Erkenntniss in Anspruch; beiden wird diese, wie wir gleich sehen werden, auf dieselbe Weise verschafft. Von hier aus scheint sich nun ein Grund zu ergeben, der die Aufgebung der bisherigen Formel der Frage bewirkte und jene neue Formel: wie sind synthetische Urteile a priori möglich? hervorbrachte. Eine Begründung folgt ebd., S. 166–170, und mündet (S. 170) in der Feststellung: die eigentlich die Untersuchung der ganzen Kritik beherrschende Frage ist die im Jahre 1772 gestellte: wie ist Erkenntniss von Gegenständen aus reiner Vernunft möglich? Die gleichsam officielle Formel, in welcher sie an der Spitze des Werkes erscheint: wie sind synthetische Urteile a priori möglich? ist erst später erfunden und dafür eingesetzt.7↑Was nun die Sache … sondern logisch. ] vgl. Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zum hundertjährigen Jubiläum derselben. Bd. 1. Stuttgart: W. Spemann 1881 [2 Lieferungen 1881/1882], S. 286 (mit Bezug zu synthetischen Urteilen a priori): Ganz irrig ist Paulsens Auffassung, Entw. S. 156 f. Paulsen behauptet dort (in ders.: Versuch einer Entwicklungsgeschichte der kantischen Erkenntnisstheorie. Leipzig: Fues’s Verlag (R. Reisland) 1875 (https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11171206?, 13.09.2023), S. 156–157) über Kants Position, (1) dass alle synthetischen Urteile notwendig Urteile über Gegenstände zu sein beanspruchen (dagegen Vaihinger a. a. O., S. 330), (2) dass die Frage nach der Möglichkeit synthethischer Urteile a priori nicht auf die (Kants Ansicht nach keiner Erklärung bedürftige) psychologische Möglichkeit ziele, und (3): Der wirkliche Sinn der kritischen Frage ist also vielmehr der: wie können von solchen durch absolute Handlungen unseres Verstandes oder unserer Einbildungskraft hervorgebrachten Urteilen [sc. synthetischen Urteilen a priori] wenigstens einige darauf Anspruch machen, ein [gesperrt:] Ausdruck für das Verhalten von Gegenständen [Sperrung Ende] zu sein, und zwar ein Anspruch, der einigen von ihnen kaum streitig gemacht wird? Vaihinger argumentiert (a. a. O., S. 389), dass aus historischer Sicht für Kant die Möglichkeit, gültige Naturgesetze a priori aufzustellen, wenigstens seit 1770 nicht zweifelhaft sei und folgert ebd.: dass, wenn Kant Schwierigkeiten fand, diese für ihn kaum darin bestanden haben können, [gesperrt:] ob [Sperrung Ende] jene Gültigkeit [der Naturgesetze a priori] wirklich stattfinde. Die wahre Schwierigkeit wird für Kant darin bestanden haben, [gesperrt:] warum [Sperrung Ende] wir (in Mathematik und reiner Naturwissenschaft) Aussagen (synthetische) a priori machen können, welche für die doch von uns unabhängigen Dinge factisch Gültigkeit besitzen. Diese Erwartung wird denn auch vollständig bestätigt durch den Brief an Herz vom 21. Febr. 1772 [...]. Kant fragt daselbst nicht, ob zwischen Verstandesurtheilen und Gegenständen Conformität herrsche, sondern er fragt nach dem [gesperrt:] Grund der Conformität apriorischer Urtheile mit den Dingen. [Sperrung Ende] Er fragt nicht, [gesperrt] ob [Sperrung Ende] es apriorische Erkenntniss gebe – er setzt dies als gültige Erkenntniss, nicht bloss als psychologische Thatsache voraus – sondern er fragt nach der Erklärung jener Conformität. usw.; vgl. dazu auch S. 392 (mit Bezug zu Kants Prolegomena): Nach § 4 (finis) sind Mathematik und reine Naturwissenschaft „durchgängig anerkannte und unbestrittene“ Erkenntnisse a priori; ebenso nach § 5 ist ihre „Gewissheit unstreitig“ und im Verlaufe des § wird ihre Wirklichkeit noch mehrfach betont (vgl. die Stelle oben S. 319). Das Problem ist „die Untersuchung ihrer Möglichkeit“ d. h. die „Erklärung“, das „Begreiflichmachen“ dieses Factums (vgl. die Stellen oben S. 287). Zu systematischen Argumenten Vaihingers vgl. ebd., ab S. 390: Die transsc. Deduction, dieser „centrale“ Abschnitt der Kritik, will in erster Linie nicht beweisen, [gesperrt:] dass [Sperrung Ende] die Kategorien gültig sind […], sondern erklären, [gesperrt:] wie [Sperrung Ende] und [gesperrt:] warum [Sperrung Ende] sie gültig sind. Außerdem S. 125 zur Methode Kants, die: rein begrifflich, logisch analysirt, nicht psychologisch, allerdings auch S. 323 (gegen Riehl): Es ist eine Einseitigkeit, wenn Riehl die psychologische Seite der Frage [wie synthetische Urteile a priori möglich sind] ganz leugnet. Vgl. zu Vaihingers vierfacher Differenzierung der Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori ebd., S. 406.8↑‚unvergeßl. Verdienste‘ ] vgl. Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zum hundertjährigen Jubiläum derselben. Bd. 1. Stuttgart: W. Spemann 1881 [2 Lieferungen 1881/1882], S. 400.9↑sein Buch ] vgl. Fischer, Kuno: Immanuel Kant und seine Lehre. Erster Theil. Entstehung und Grundlegung der kritischen Philosophie (Geschichte der neuern Philosophie Bd. 3; von Paulsen genutzte Auflage nicht ermittelt). Vaihinger nutzte nach eigener Angabe die 2. Auflage (Heidelberg: Verlagsbuchhandlung von Friedrich Bassermann 1869, Digitalisat: https://archive.org/details/geschichtederne26fiscgoog (2.10.2024)).10↑lange vor Erscheinen meiner Schrift ] meint vermutlich Paulsen: Versuch einer Entwicklungsgeschichte der kantischen Erkenntnisstheorie. Leipzig: Fues’s Verlag (R. Reisland) 1875 (https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11171206? (13.09.2023)). Benno Erdmann studierte bis zu seiner Promotion 1873 in Berlin, Paulsen neben Erlangen, Bonn und Kiel ebenfalls in Berlin, wo er 1871 promoviert, 1875 habilitiert wurde (BEdPh).11↑Aufsatz … Erkenntnistheorie ] vgl. Paulsen: Ueber die principiellen Unterschiede erkenntnistheoretischer Ansichten. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 1 (1877, Heft 2), S. 159–173.12↑Es handelte sich … einseitige richtige) ] vgl. Paulsen: Rezension: Erdmann, Benno: Immanuel Kants Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 2 (1878), S. 484–497, hier S. 488–489: Erdmann findet in dem System Empirismus als ersten und wesentlichsten Charakterzug; mir erscheint es seinem Grundzug nach als Rationalismus. Dieser Streit muss entschieden werden können; es handelt sich lediglich um Constatirung eines völlig klar und ausgebreitet vorliegenden Thatbestandes: [gesperrt:] was ist das probandum in der Argumentation der transcendentalen Deduction [Sperrung Ende]? […] Erdmann antwortet auf diese Frage: das probandum ist: die Kategorien geben die Dinge nicht zu erkennen, wie sie sind, sondern wie sie als empirische Objecte erscheinen […]. Nach meiner Ansicht ist das probandum: es giebt durch reine Verstandesbegriffe objective Erkenntniss; allerdings ist sogleich hinzuzufügen: nämlich von Gegenständen als Erscheinungen; wie auch seinerseits Erd|mann hinzufügt: jenes Ergebniss verknüpfe die Voraussetzung des Rationalismus, dass unsere Verstandesbegriffe absolut a priori sind mit der Consequenz des Empirismus, dass sie lediglich auf Erfahrung sich beziehen. Also Meinungsverschiedenheit […] nur darüber: welches dieser beiden Stücke Beweisgegenstand der Deduction sei. Vgl. ebd., S. 489–497 für Paulsens Gründe gegen Erdmann; vgl. Erdmann, Benno (Hg.): Immanuel Kant’s Prolegomena einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Leipzig: Leopold Voss 1878 (Digitalisat: https://www.digitale-sammlungen.de/view/bsb11171086? (19.10.2023)), S. LXXXIII–LXXXV: Die Umwälzung nämlich, welche Kants Lehrmeinungen im Jahre 1769 erfahren, liegt allerdings in vier schwerwiegenden Einsichten: 1) in der Erkenntniss, dass Raum und Zeit nicht Begriffe, sondern Formen der sinnlichen Anschauung sind; 2) dass diese Formen der Sinnlichkeit ebenso wie die Formen des Verstandes, die reinen Verstandesbegriffe, schlechterdings von aller Erfahrung unabhängig, absolut a priori sind; 3) dass die sinnliche Erkenntniss die Dinge nur zu erkennen giebt, wie sie erscheinen, nicht wie sie sind, d. i. dass Raum und Zeit nur die nothwendigen Bedingungen | der sinnlichen Erkenntniss, also bloss subjectiv und ideal sind; 4) dass die Verstandeserkenntniss dagegen uns die Dinge zu erkennen giebt, wie sie sind. Von diesen vier Punkten sind der erste, zweite und dritte aus der Dissertation in die Kritik der reinen Vernunft nach Inhalt und Beweisgründen, abgesehen von kleineren, hier gleichgiltigen Differenzen, [gesperrt:] unverändert übernommen [Sperrung Ende]. […] Hier also bleibt die Frage: da unsere Verstandesbegriffe zwar in der Natur der Seele ihre Quellen haben, aber doch weder, insofern sie vom Object gewirkt werden, noch das Object selbst (im Sinne des intellectus archetypi oder der moralischen Handlungen) hervorbringen, [gesperrt:] weshalb müssen die Dinge nothwendig mit ihnen übereinstimmen [Sperrung Ende]? […] Die Lösung dieses Problems aber bildet den Gegenstand der transscendentalen Deduction der Kategorien. In dieser Deduction also liegt […] der Schwerpunkt der Kritik der reinen Vernunft. Diese Lösung aber besteht in dem (den Ergebnissen der Dissertation conträr entgegengesetzten) Nachweis, dass auch die Kategorien die Dinge nicht zu erkennen geben, wie sie sind, sondern wie sie als empirische Objecte erscheinen. […] Da nun jene Apriorität [der Verstandesbegriffe, s. o. Punkt 2)] für Kant bereits sicher war, als er das Problem seiner Deduction fand, so liegt der Schwerpunkt seines Systems für ihn selbst und ebenso für uns [gesperrt:] in dem empiristischen Ergebnis seiner Deduction [Sperrung Ende]. Jene rationalistische Voraussetzung ist gerade diejenige unter den vier 1769 gewonnenen Ansichten Kants, die allein von allen in der Kritik der reinen Vernunft ganz unverändert geblieben ist. Sie kann also am wenigsten im Vordergrund seines Interesses stehen. Das Problem der Kritik der reinen Vernunft aber ist in diesem seinem bedeutsamsten Theil in der Dissertation von 1770 [gesperrt:] noch gar nicht enthalten [Sperrung Ende]; die Ergebnisse derselben ferner, die auf dieses Problem bezogen werden können, sind dem Lösungsversuch der Kritik der reinen Vernunft | conträr entgegengesetzt. Vaihinger kritisiert Erdmanns Position mehrfach als einseitig, vgl. Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zum hundertjährigen Jubiläum derselben. Bd. 1. Stuttgart: W. Spemann 1881 [2 Lieferungen 1881/1882], S. 320–321: Eine etwas einseitige Wendung gibt B. Erdmann dem Titel (und der Hauptfrage), wenn er (Kants Kritic. 12 vgl. 18) an die Lehre Kants, dass die Vernunft nur dazu diene, den Verstandeserkenntnissen Einheit zu geben und nicht auf Gegenstände gehe, anknüpft und sagt: „Die Lösung des Problems für die Vernunft ist demnach eine nothwendige Folge der Lösung derselben für den Verstand. Der Schwerpunkt des ganzen Werkes, der Gedanke, in dem alle (?) übrigen Ausführungen desselben sich zusammenfassen lassen, liegt in der Beantwortung der Frage: Wie lässt sich die objective Gültigkeit der Verstandesbegriffe a priori begreiflich machen?“ Diese Darstellung | beruht aber auf einer anticipatorischen Hereinnahme einer Bestimmung, welche zur Fragestellung noch gar nicht gehört; es kann deshalb die Hauptfrage nicht in dieser Weise gegen Kants eigene Bestimmungen auf den Verstand beschränkt werden, sondern sie muss die Vernunft (im engeren Sinn) nothwendig einschliessen; vgl. ebd. S. 385 sowie S. 451, jeweils mit Rückverweis auf S. 66–70, wo Vaihinger Paulsens, Erdmanns und zahlreiche andere Positionen als einseitige Auffassungen (S. 69) bezeichnet und feststellt (S. 68): daher ist es ganz falsch, das einzige Unterscheidungsmerkmal des Kritic. vom Skept. mit Erdm. […] darin zu finden, dass der Krit. eine apodiktische Grenzbestimmung gebe.13↑Aber beschuldigen Sie … Correcturbogen tun. ] Zum Vorwurf der Einseitigkeit (bezogen auf Kuno Fischer, Paulsen, Riehl und Windelband) vgl. Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zum hundertjährigen Jubiläum derselben. Bd. 1. Stuttgart: W. Spemann 1881 [2 Lieferungen 1881/1882], S. 388: Man sieht, welcher Knäuel von Missverständnissen hier aufzulösen ist: Zuerst eigene schwankende Unklarheit von Kant selbst, dann die einseitigen und inconsequenten Darstellungen bei den Auslegern und zuletzt sogar wieder gegenseitige missverständliche Auffassungen unter den Letzteren! In Verbindung mit S. 398: die einseitige Betrachtung Fischers und seiner Gegner. Bereits in der Einleitung hatte Vaihinger Paulsen (und zahlreichen anderen Interpreten) Einseitigkeit vorgeworfen (vgl. ebd., S. 66–70, insbesondere S. 69); vgl. auch ebd., S. 398, sowie Paulsen an Vaihinger vom 23.3.1882. Zum Vorwurf der Verwirrung gegenüber der Kantliteratur im Allgemeinen vgl. ebd., S. 433, gegenüber Paulsen im Besonderen S. 330 sowie S. 399–400: 4) Es erklärt sich nun aus diesem Sachverhalt das auffallende Schwanken | und die verwirrende Zweideutigkeit, welche in der Literatur angetroffen wird in Verbindung mit S. 403: Bei Paulsen, Viert. f. wiss. Philos. II, 484 ff. ist die Gültigkeit bald das „probandum“ („demonstrandum“), bald factisch das „explicandum“ und S. 449: Das gewöhnliche Bestreben der Erklärer Kants ist gegenüber der nothwendigen analytischen Differenziirung auf synthetische Vereinfachung gerichtet; daraus entspringt leicht grosse Verwirrung, von der wir sub 4. [meint die Passage S. 399–404, aus der soeben zitiert wurde] 8. 11. 22 überraschende Proben gefunden haben. […] Der falschen Methode gegenüber, welche bald synkretistisch die Probleme verwechselt, bald in willkürlicher Abstraction einseitig nur Eines herausgreift, muss somit bei dem dargelegten Sachverhalt auf die richtige Methode gedrungen werden […].14↑der Cartesianische Vorgang ] Anspielung auf Descartes’ Vorgehen in den Meditationes de prima philophia, Einwände zu seinem Werk einzuholen und gemeinsam mit seinen Erwiderungen in seinem Buch zu veröffentlichen. Die Einwände waren zwar weder in der Ausgabe Kuno Fischers (in Descartes: Hauptschriften zur Grundlegung seiner Philosophie, übers. v. Kuno Fischer. Mannheim: Fr. Bassermann 1863, S. 72–162) noch in derjenigen Julius Hermann von Kirchmanns übersetzt worden, werden in letzterer jedoch im Kommentar erwähnt, vgl. Descartes: Untersuchungen über die Grundlagen der Philosophie ( = Philosophische Werke Bd. 2), übers. v. J. H. v. Kirchmann. Berlin: Heimann 1870. Digitalisat: https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11163822-5 (14.6.2024), S. 124; vgl. zudem Descartes’ Vorwort an den Leser (ebd., S. 11–14, hier S. 11): Ich hatte dort [im Discours de la méthode] gebeten, mir es mitzutheilen, wenn Jemand etwas Tadelnswerthes in meiner Schrift finden sollte. Von allen mir zugegangenen Entgegnungen in Bezug auf diese Fragen sind mir indess nur zwei so erheblich erschienen, dass ich mit Wenigem darauf antworten will […].▲