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- TitleBartholomäus von Carneri an Vaihinger, Schloss Wildhaus (Zellnitz an der Drau/Selnica ob Dravi, ehemals Untersteiermark), 16.11.1878, 3 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 4 d, Nr. 1
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 4 d, Nr. 1
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Bartholomäus von Carneri an Vaihinger, Schloss Wildhaus (Zellnitz an der Drau/Selnica ob Dravi, ehemals Untersteiermark), 16.11.1878, 3 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 4 d, Nr. 1
Wildhaus[1] 16. Nov[ember] 1878.
Mein sehr geehrter Herr!
Empfangen Sie meinen aufrichtigsten Dank für die Liebenswürdigkeit, mit der Sie mir die gewünschte Auskunft[2] ertheilt haben. In Kürze bin ich wieder in Wien und da werde ich mir die Bücher alle ansehen. Heute aber noch bestelle ich mir Gizycki, Breslau 1879[3]. Ueberweg[a][4] und Fichte[5] kenne ich; letztern besitze ich selbst, er reicht aber nur bis Bentham. Mill und Hume kenne ich so ziemlich. Letztern besitze ich ganz u. z[war] englisch, und lese ihn, aber langsam. Von Herbert Spencer habe ich bislang nur den grundlegenden ersten Band studirt u. z[war] vorigen Winter. Diesen Winter nehme ich jedenfalls seine Ethik[6] durch. Wie ich aus allem sehe, sind es Grote und Sidgwick[7], | die mir gänzlich ferner geblieben sind, und aus Gizycki werde ich sehen, welchen von beiden ich, oder ob ich beide zu studiren hab. In einem Stück bin ich nämlich sehr schlecht dran. Reichsrath und Landtag[8] rauben mir 7–8 Monate des Jahres, und ein[b] sehr dummes Übel am Halse (torticollis intermittens[9]) erschwert mir[c] das Leben überhaupt, besonders aber das Schreiben und Lesen in der peinlichsten Weise. Ich muß mich daher bei meinen Studien auf das Unerläßlichste beschränken, und da werden Sie begreifen, wie dankbar ich Ihnen für die gegebenen Andeutungen bin.
Da mir aber schon die Freude zu Theil wird, an Sie zu schreiben, so gestatten Sie mir, geehrter Herr, Ihnen zu sagen, daß mich, dem Sie durch Ihr Buch über Hartmann, Dühring u. Lange[10] sehr werth geworden sind, Ihre Übereinstimmung mit mir betreffend das empfindende Atom[11] unendlich gefreut hat. Sie sind der Erste, der mir da Recht giebt, allerdings mit der, ich verkenne es nicht, gegründeten Beschränkung, daß es nicht genügt, das Bedenkliche eines Weges zu erkennen, und daß man auch einen nicht bedenklichen Weg anzugeben habe. |
Ich habe diesen Sommer eine längere Arbeit[12] begonnen, mit der ich hoffentlich im kommenden Sommer zu Ende komme. Heißen dürfte sie: Monistische Grundlegung der Ethik. Vielleicht gelingt es mir da, meine Ansicht über das Bewußtsein ganz klar zu entwickeln und meinem Sittlichkeitsbegriff eine Basis zu geben, die Sie befriedigt. Für die Einleitung ist mir die Bekanntschaft mit den neuesten englischen Moralisten unentbehrlich. Die ältern schätze ich sehr, aber: die Sittlichkeit als einen Naturtrieb zu erklären, und mit dem Auffinden eines charakteristischen Merkmals mich zu befriedigen, – worauf sie durchschnittlich hinauskommen, vermag ich nicht. Vielleicht stehe ich da wieder, wo Sie beim empfindenden Atom mich ertappt haben; aber ich werde mein Möglichstes thun.
Und jetzt nochmals meinen Dank, und die Bitte, Prof. Schmidt[13] für seine freundliche Erinnerung recht herzlich für mich die Hand zu drücken.
Mit der Versicherung wahrer Hochachtung Euer Wohlgeboren ganz ergebener
B. Carneri
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Wildhaus ] bei Spodnji Slemen (heute zu Slovenien), 10 km westlich von Maribor, 1857–1893 Wohnsitz Carneris.3↑Gizycki, Breslau 1879 ] meint wahrscheinlich: Georg von Gizycki: Die Ethik David Hume’s in ihrer geschichtlichen Stellung. Nebst einem Anhang Über die universelle Glückseligkeit als oberstes Moralprincip. Breslau: Koehler 1878.4↑Ueberweg ] gemeint ist entweder Friedrich Ueberwegs bekanntes Überblickswerk: Grundriß der Geschichte der Philosophie, zuerst 1863–1866 oder Ueberweg: System der Logik und Geschichte der logischen Lehren. 4. Aufl. Bonn: Marcus 1874.5↑Fichte ] dem Kontext nach ist gemeint: Imanuel Hermann Fichte: Die philosophischen Lehren von Recht, Staat und Sitte in Deutschland, Frankreich und England von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Leipzig: Dyk 1850 (System der Ethik Bd. 1. Kritischer Teil).6↑grundlegenden … Ethik ] die Rede ist von Herbert Spencers System of Synthetic Philosophy. Davon war bisher erschienen: First Principles (1862), Principles of Biology (2 Bde. 1864/1867), Principles of Psychology (1. Bd. 1870), Principles of Sociology (1. Bd. 1874–1875/1876). Der 1. Bd. der Principles of Ethics trägt die Jahreszahl 1879.7↑Grote und Sidgwick ] gemeint sind vermutlich: John Grote: An Examination on the Utilitarian Philosophy. Edited by Joseph Bickerstedt Mayor. Cambrigde: Deigthon, Bell and Co. 1870 bzw. ders.: A Treatise on the Moral Ideals. Cambridge 1876; sowie Henry Sidgwick: The Methods of Ethics. London: Macmillan & Co. 1874.8↑Reichsrath und Landtag ] Carneri gehörte 1861–1883 dem Steirischen Landtag (Graz) an und war 1870–1885 Abgeordneter des steirischen Großgrundbesitzes im Reichsrat (Wien), BEdPh.10↑Buch über Hartmann, Dühring u. Lange ] vgl. Vaihinger: Hartmann, Dühring und Lange. Zur Geschichte der deutschen Philosophie im XIX. Jahrhundert. Ein kritischer Essay. Iserlohn: J. Baedeker 1876.11↑das empfindende Atom ] Carneri disktutiert die Hypothese vom empfindenden Atom zur Erklärung des Bewusstseins in ders.: Der Mensch als Selbstzweck. Eine positive Kritik des Unbewußten. Wien: Braumüller 1887, S. 31–35. S. 32: Allein das läßt sich eine Hypothese nennen; nur unterläuft dabei die Fatalität, daß man, dem Atom Bewußtsein beilegend, das zu Erklärende selber zur Hypothese macht, durch die es erklärt werden soll.13↑Prof. Schmidt ] Eduard Oskar Schmidt (1823–1886), Zoologe, 1855 o. Prof. an der Universität Krakau, 1857 in Graz (1865/1866 Rektor), 1872 in Straßburg (https://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_S/Schmid_Eduard-Oskar_1823_1886.xml (1.8.2024)).▲