Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Heinrich Landesmann, Dresden, 19.2.1878, 9 S., hs., Wienbibliothek im Rathaus, Wien, H.I.N.-43400
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- Place and Date of Creation
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- Physical LocationWienbibliothek im Rathaus, Wien, H.I.N.-43400
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Vaihinger an Heinrich Landesmann, Dresden, 19.2.1878, 9 S., hs., Wienbibliothek im Rathaus, Wien, H.I.N.-43400
Hochzuverehrender Herr![a]
Wenn ich nicht durch meine mich fast ganz absobirende berufliche Thätigkeit gezwungen wäre, meine gesammte Correspondenz immer auf einen freien Nachmittag aufzusparen, so hätte ich Ihren für mich so ehrenvollen Brief[1] gleich in der ersten Freude beantwortet. So müssen[b] Sie es mir, verehrtester Herr, nachsehen, wenn ich erst heute die nöthige Muße finde, um Ihnen vor Allem den herzlichsten und aufrichtigsten Dank für Ihre freundliche Zuschrift zu senden. | Die Anerkennung, die mein Versuch bei Ihnen findet, ist mir in mehrfacher Hinsicht sehr schätzenswerth, einmal weil ein Mann von Ihrem Rufe das Urtheil abgibt, und dann weil ich auf die Zustimmung aus literarischen Kreisen mehr Werth lege, als dies die meisten meiner Fachgenossen zu thun pflegen. Gerade weil ich aus diesen Kreisen so manche schätzbare Anregung erfahren habe, lege ich auch auf ihre Zustimmung Werth. Nur zu diesen Anregungen rechne ich in erster Linie diejenigen, die ich aus dem, was mir von Ihnen bekannt geworden ist, geschöpft habe. Ihre Arbeiten sind mir wohlbekannt; so z. B. habe ich vor kurzer Zeit Ihre Kritik[2] Carrières[c] (sittliche Weltordnung) in der „Wiener Abendpost“ mit Interesse gelesen, wie ich überhaupt alles, was Ihren Namen trägt, mit größtem Interesse verfolge. Ist man doch immer im Voraus gewiß, darin den Ansichten eines Mannes zu begegnen, der mit eleganter, geistreicher Darstellung nicht blos tiefes Selbstdenken, | sondern auch breite Lebenserfahrung zu bieten hat. Ihr „Naturgenuß“[3] ist mir durch die Haut gegangen; Herr C. du Prel[d], mein Freund, der Sie sehr verehrt, hat mir das Buch zur Lectüre gegeben. Bei meiner wie[e] schon bemerkt starken beruflichen Thätigkeit konnte ich dasselbe nur durchfliegen, und wie so Manches andere Gute, das aber für den Moment nicht in den Gedankenkreis hineingehört, mit dem man sich gerade beschäftigt, also z. B. Logik[f], auf ruhigere Zeiten aufsparen. Ich erinnere mich noch, mir mehrere Auszüge daraus gemacht zu haben, gestehe aber gerne, daß ich, um dieses Geschäftes überhoben zu sein, und vor Allem, um von Ihrer eigenen Hand etwas zu besitzen, mich glücklichschätzen[g] würde, das mir damals liebgewordene Buch von Ihnen empfangen zu dürfen. Auch so manches in der „Dichterhalle“[4] las ich mit großem Interesse: leider haben alle diese kleinen Veröffentlichungen das Schicksal, bald zu verschwinden aus dem Gesichtskreis, einfach, weil man dieser Artikel niemals für die Dauer habhaft werden kann. Falls Sie | noch Abzüge von diesem oder Jenem besitzen sollten, die Ihnen entbehrlich sind, würde ich sie dankbar entgegennehmen, und um dies zum gegenseitigen Austausch werden zu lassen, erlaube ich mir sogleich, Ihnen einen Abzug eines eben von mir erschienenen[h] Artikels[5] zuzusenden. Auch mein Buch[6] werde ich Ihnen umgehend zusenden, sobald ich wieder ein Exemplar erhalte. Doch nun zurück zu Ihnen: Ihre Gedichte sind mir nur sporadisch bekannt, so weit ich sie aus „Dichterhalle“ und „Gartenlaube“[i][7] kennen lernen konnte. Welcher tiefer fühlende und tiefer denkende Mensch wird nicht von der Naturwahrheit derselben hingerissen! Auch ihr Besitz ist ein alter Wunsch von mir, der aber mir durch die mit den Außenwerken der Philosophie angestrengt beschäftigen Berufsarbeit zurückgedrängt wird; das soll heißen, daß mir für die – nur zurückgestellte Beschäftigung mit dem tiefsten Problem, nemlich[j] der organischen Verbindung von Pessimismus und Optimismus Ihre | poetischen, wie Ihre prosaischen Arbeiten von großem Belang erscheinen. Es scheint mir dies eine würdige und wichtige Aufgabe, eine Formel zu finden, welche jene beiden entgegengesetzten Anschauungen verbindet, und noch mehr – über sie hinausführt. Eben darum war mir Ihre in den „Streifzügen“[8] geäußerte Ansicht von so hohem Interesse, weil sie in der ganzen mir bekannten Literatur der erste und einzige Versuch ist, dies Problem zu lösen, und weil Sie darin mit Lange übereinkommen, bei dem sich dieselbe Tendenz findet.
Allein nicht blos aus diesem wissenschaftlichen Grunde scheinen mir die Gedichte von hohem Belang, sondern mir persönlich als Menschen sind gerade solche Äußerungen der Menschenseele lieb und werth. Man hat Sie, wenn ich nicht irre, schon den deutschen Leopardi genannt[9], oder hätte es wenigstens thun können: Sie scheinen mir über ihm zu stehen, weil Sie | eben nicht einseitig dem Pessimismus das Wort lassen, sondern eine Verbindung mit dem Optimismus suchen. Das Problem, das ich den Grundzügen für mich gelöst zu haben glaube, ist mir jedoch hinter anderen, für mich und an sich zeitgemäßeren Arbeiten zurückgetreten, und die Lösung ist daher für mich zunächst eine rein persönliche die noch einer wissenschaftliche Darstellung harrt. Es muß erst ein neues erkenntnißtheoretisches Fundament gelegt werden, ehe man eine wissenschaftliche Darstellung jenes Problems wagen darf. Und also hierzu gaben mir Ihre Äußerungen viele Anregungen und werden solche noch geben.
Sie sprechen, hochverehrter Herr, in Ihrem werthen Briefe von „einem einzigen Punkte,“ in dem Sie sich in Discrepanz mit mir befinden. Es liegt mir viel | daran, diesen Punkt näher kennen zu lernen, um von Ihnen womöglich zu lernen. Wenn Sie dies auf dem Wege einer Besprechung[10] ausführen wollen, so wird es mir doppelt angenehm sein, und wird Ihnen, wie bemerkt, nächster Tage ein Exemplar zugehen. Eigentlich hatte ich schon lange die Absicht, Ihnen sponte[k] eines zu senden. Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich diese Absicht nicht ausführte. Es war mir immer, als müßte das Sie interessiren, aber Beruf und Leben schwemmen oft einen solchen guten Vorsatz spurlos hinweg. Ich glaube, ich war auch ärgerlich über die deutschen literarischen Kreise. Während die österreichischen Tagesblätter ein lebhaftes Interesse[11] bekundeten, schwiegen die deutschen still oder mußte ich verbohrtes Zeug anhören, was mir bewies, daß die Zeit für eine Weiterverfolgung nicht da sei. Um so mehr eben freut es mich, daß ich mir ohne mein Zuthun Ihre Beistimmung erlangt | habe. Es wäre mir aus rein sachlichem Interesse recht lieb, wenn Sie eben das Problem der Versöhnung von Pessimismus und Optimismus besonders besprechen wollten. Es wird so viel ungewaschenes Zeug über diesen Punkt geschrieben (so z. B. neuerdings von meinem Landsmann, den ehemaligen Minister Golther[12]) daß es an der Zeit wäre, wenn endlich Jemand darüber spräche, der nicht blos durch seine Lebensschicksale[13] das Recht dazu hat (und auf diesen Punkt lege ich ein Hauptgewicht, primum vivere, deinde philosophari![14] womit ich das bekannte Schopenhauersche Wort[15] ins Gute wende) – sondern der auch diese Lebensschicksale mit logischer Arbeit verbunden hat. Ich wünschte gerne, Sie möchten dies zum Gegenstand eines ausführlichen Artikels machen – es ist ein lockendes Problem, und ich würde mich glücklich schätzen, durch diese Aufforderung Anlaß zu einer Studie aus Ihrer Feder gegeben zu haben. Hartmann hat ja das auch versucht, aber ich kann ihm nicht beistimmen. Ich kenne ihn persönlich und fand in ihm einen liebenswürdigen Menschen, und stand auch | eine Zeit lang mit ihm in Correspondenz[16]. Unsere Richtungen gehen aber doch zu sehr auseinander, und so wurde natürlich keine Einigung erzielt. Ihm zu antworten habe ich weder Zeit noch Lust. Mit Polemik muß man sparsam sein. Auch bereite ich Publicationen vor, die sich zunächst auf andern Gebieten bewegen.
Doch – ich bin wider Willen und Gewohnheit fast zum bavard[17][l] geworden. Vergeben Sie das und erklären Sie es aus meiner Freude über Ihr freundliches Schreiben.
Möchten Sie bald die bewegten Punkte öffentlich zur Sprache bringen.
In vorzüglicher Hochachtung Ew. Wohlgeboren ergebenster
Hans Vaihinger.
Straßburg i/E
19/II 78.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑Ihre Kritik ] vgl. Hieronymus Lorm: Moriz Carriere. In: Beilage zur Wiener Abendpost (=Beilage zur Wiener Zeitung), Nr. 17 vom 1.1.1878, S. 65 u. Nr. 18 vom 22.1.1878, S. 69–70 (via https://anno.onb.ac.at/).3↑Ihr „Naturgenuß“ ] vgl.: Der Naturgenuss. Eine Philosophie der Jahreszeiten von Hieronymus Lorm. Berlin: A. Hofmann & Co. 1876.4↑„Dichterhalle“ ] d. i. die von Ernst Eckstein hg. Zeitschrift Deutsche Dichterhalle (1872–1882/1883).5↑Artikels ] vgl. Vaihinger: Der Begriff des Absoluten (mit Rücksicht auf Spencer). In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 2 (1878), S. 188–221 (vgl. Landesmann an Vaihinger vom 26.2.1878).8↑„Streifzügen“ ] vgl. Landesmann an Vaihinger vom 9.2.1878 (Philosophisch-kritische Streifzüge von Heinrich Landsmann [!], Dr. phil. (H. Lorm). Berlin: Mitscher & Roestell 1873).10↑Wege einer Besprechung ] von Landesmann in den literarischen, Publikums- und Rezensions-Zeitschriften der Jahrgänge 1878 und 1879 nicht ermittelt, wohl nicht erschienen; vgl. Landesmann an Vaihinger vom 21.2.1878.11↑lebhaftes Interesse ] vgl. z. B. Eduard von Hartmann: Friedrich Albert Lange und sein Jünger Hans Vaihinger. In: Beilage zur Wiener Abendpost (= Beilage zur Wiener Zeitung), Nr. 295–297 vom 28.–30.12.1876.12↑Minister Golther ] vgl. Der moderne Pessimismus. Studie aus dem Nachlaß des Staatsministers Dr. Ludwig von Golther. Mit einem Vorwort von Friedrich Theodor Vischer. Leipzig: Brockhaus 1878. – Ludwig von Golther (1823–1876), u. a. württembergischer Kultusminister, stammte aus Ulm (NDB).13↑seine Lebensschicksale ] Heinrich Landesmann war seit 1837 gehörlos; dazu trat eine zunehmende Erblindung, 1881 mit Netzhautablösung (vgl. den biographischen Abriß in: Hierynmus Lorm Ausgewählte Briefe. Eingeleitet u. hg. v. Ernst Friedegg. Berlin: Karl Siegismund 1912, S. 5–15).15↑Schopenhauersche Wort ] vgl. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Bd., Vorrede zur 2. Aufl.: Jetzt noch ein Wort für die Philosophieprofessoren. […] Ist doch gegen den Grundsatz primum vivere, deinde philosophari nichts einzuwenden. Die Herren wollen leben und zwar von der Philosophie leben: an diese sind sie, mit Weib und Kind, gewiesen, und haben […] es darauf gewagt. Nun ist aber meine Philosophie ganz und gar nicht darauf eingerichtet, daß man von ihr leben könnte. Es fehlt ihr dazu an den ersten, für eine wohlbesoldete Kathederphilosophie unerläßlichen Requisiten […].16↑in Correspondenz ] vgl. den Briefwechsel Vaihingers mit Eduard von Hartmann in der vorliegenden Edition.▲