Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger, Gutachten über die Habilitationsschrift von Bruno Bauch, Halle, 10.10.1903, 4 S., hs. (Vorspann und Zustimmungserklärungen von anderen Händen), Briefkopf Der Dekan | der philosophischen Fakultät | der Universität | Halle-Wittenberg., Universitätsarchiv Halle-Wittenberg Rep. 21, Nr. 145 (Habilitation Bruno Bauch u. a.)
- Creator
- Participants
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationUniversitätsarchiv Halle-Wittenberg Rep. 21, Nr. 145 (Habilitation Bruno Bauch u. a.)
- URN
- Social MediaShare
- Archive
- ▼
Vaihinger, Gutachten über die Habilitationsschrift von Bruno Bauch, Halle, 10.10.1903, 4 S., hs. (Vorspann und Zustimmungserklärungen von anderen Händen), Briefkopf Der Dekan | der philosophischen Fakultät | der Universität | Halle-Wittenberg., Universitätsarchiv Halle-Wittenberg Rep. 21, Nr. 145 (Habilitation Bruno Bauch u. a.)
Halle 10.[a] Oktober 1903
Nachdem Herr Dr. Bauch den erforderlichen Dispens erhalten hat, bitte ich Herrn Professor Vaihinger über seine Habilitationsschrift ein Gutachten abzufassen und es in Umlauf zu setzen
bei den Herren Professor Riehl
Professor[b] Cantor
Professor[c] Dittenberger
und dem Dekan.
Suchier
Nebst elf Anlagen[d]
Dem[e] Gutachten über die Habilitationsschrift von Dr Bauch schicke ich einige Bemerkungen über seine früheren Druckschriften voran.
Dr Bauch promovirte in Freiburg i/B. mit einer Dissertation: „Glückseligkeit und Persönlichkeit in der kritischen Ethik“. Diese von Professor Rickert angeregte Schrift behandelt zwei häufig gemachte Einwände gegen die Kantische Ethik: Kant habe bei Aufstellung seines rigoristischen allgemeinen Moralprincips einmal das natürliche Streben des Menschen nach Glückseligkeit nicht berücksichtigt, und habe zweitens die Rechte der individuellen Persönlichkeit auf individuelles Handeln verkannt. Auf Grund einer allgemeinen und principiellen, in die Tiefe des Problems gehenden Untersuchung über die Grundlagen der Kantischen Ethik weist der Verfasser[f] nach, daß jene Einwände nicht zu Recht bestehen: die wohlverstandene[g] und richtig aufgefaßte Kantische Ethik weise sowohl dem[h] Glückseligkeitstriebe als dem Persönlichkeitsbedürfnis ihre rechte Stelle an. Schon in dieser Abhandlung zeigen sich die charakteristischen Eigenschaften des Verfassers: Gründlichkeit der Gedankenführung, Gewandtheit der Dialektik, | Klarheit der Darstellung. Außerdem zeigt der Verfasser schon in dieser Schrift neben principiellem Anschluß an die Methoden und die Richtung der Kantischen Philosophie doch eine selbständige Stellungnahme zu den behandelten Problemen, indem er zugleich die Grundgedanken der Kantischen Ethik auf der Basis eigener Gedankenarbeit neu hervorbringt. So ragt diese Schrift über das Mittelmaaß der üblichen Dissertationen weit hinaus.
Einem anderen Gebiete, der Aesthetik, wendet sich der Verfasser zu mit der (im Archiv für Geschichte der Philosophie veröffentlichten) Abhandlung: „Naiv“ und „Sentimentalisch“ – „Klassisch“ und „Romantisch“. Eine historisch-kritische Parallele. Dieses von dem Kantianer Schiller aufgestellte Gegensatzpaar aesthetischer Kategorien wird in seinem Verhältniß zu einander untersucht, und diese Untersuchung dehnt sich auf Hegel, Vischer und Schopenhauer aus. Auch diese Abhandlung zeigt die schon gerühmten Vorzüge, insbesondre die Fähigkeit scharfer begrifflicher Distinctionen.
Auf Kant und Schiller gemeinsam bezieht sich die Abhandlung: „Das Wesen des Genies nach der Auffassung Kants und Schillers“. Schillers bis jetzt nicht beachtete Äußerungen über das Genie stellt der Verf[asser] sorgfältig zusammen, und zeigt in gründlichen Untersuchungen, wie sie, zwar nicht dem Wortlaut, aber der Sache nach mit Schillers Kantischen Anschauungen zusammenhängen und mit Kants eigenen Äußerungen hierüber zusammenstimmen.
Auf dasselbe Thema, das Genie, bezieht sich auch eine vierte Abhandlung: „Schopenhauers Persönlichkeit aus seiner Lehre. Eine Parallele zwischen seinem Charakter und seinen Anschauungen über das Wesen des Genies“. Die beredt geschriebene Abhandlung gibt eine feine psychologische Analyse des Schopenhauer’schen Charakters aufgrund seiner Lehren vom Genie.
Einem großen und schwierigen Thema wendet sich nun die Habilitationsschrift[1] zu. Schon oft, schon zu Lebzeiten Kants und neuerdings wieder besonders von Dilthey, von Paulsen, Titius u. A. ist die Parallele zwischen Luther und Kant gezogen worden. Der Verfasser hat es sich nun zur Aufgabe gemacht, die Berechtigung dieser beliebten Zusammenstellung einmal principiell zu prüfen. |
Im ersten Theil betrachtet der Verf. zu diesem Zweck Luthers ethisch-religiöse Ansichten. Er stellt aus Luthers Lehre vom Glauben das philosophisch Bedeutsame heraus. Wie bei Kant, so steht auch bei Luther im Mittelpunkt seiner religiösen Anschauungen der Begriff des Glaubens, so daß der Verf. mit Recht an diesen Begriff seine Untersuchungen anknüpft. Er zeigt, wie man einen scharfen Schnitt machen muß zwischen dem Inhalt des Luther’schen Glaubens und seiner Form. Stellt sich L[uther] im Inhalt seines Glaubens wesentlich noch auf den Standpunkt der Vergangenheit, so vertritt er in Bezug auf das formale Glaubensprinzip den modernen Standpunkt der Selbstständigkeit, der freien, auf sittliche Gesinnung beruhenden Selbstentscheidung. Im Anschluß an Dilthey charakterisiert der Verf. diesen Standpunkt als den der Autonomie der ethisch-religiösen Persönlichkeit.
Mit diesem Princip des eigenen, auf sittliche Gesinnung beruhenden persönlichen Glaubens hängt nun auch, wie der Verf. weiter ausführt, die eigenthümliche Wendung der Luther’schen Ethik eng zusammen. Im Gegentheil zur Lehre vom „guten Werk“ im alten Sinne, das schon an sich um seines Inhaltes willen Werth haben soll, kehrt Luther den formalen Gesichtspunkt der Gesinnung heraus, zugleich unter Ablehnung aller materialen Beweggründe mit einziger[i] Betonung des formalen Gesichtspunktes der Gottwohlgefälligkeit (resp. der Liebe zu Gott) als der einzig wahrhaft sittlichen Motivation im strengen Sinne.
An diese beiden Hauptkapitel schließt sich ein ergänzendes, 3. Kapitel an. Mit der Idee der sittlich-religiösen Autonomie steht Luthers Lehre von der Unfreiheit des menschlichen Handelns in einem gewissen Widerspruch, findet aber ihre erläuternde Ergänzung in Luthers Lehre von der übersinnlichen „geistlichen“ Natur des Menschen, in deren Tiefen die persönliche Selbstentscheidung sich vollzieht. In Folge dieser „geistlichen“ Natur stellt auch der Mensch einen Werth dar, den wir als Selbstzweck und als Gegenstand der Pflicht zu behandeln haben. Dies ist das Princip der Nächstenliebe, wobei Luther zwischen natürlicher Liebe und religiöser Liebe streng scheidet. Kurz hingewiesen sei noch auf den Nachweis, daß Luther die Relativität der sittlich-religiösen Inhalte bis zu einem gewissen Grad erkennt (S. 105), sowie die nur pädagogische Umdeutung gewisser religiöser Gemeinschaftseinrichtungen (113 ff.).
Nachdem nun der Verfasser in einem II. Haupttheile (S. 125–195) Kants ethische und religiöse Anschauungen in selbständiger Reproduktion dargestellt hat – wobei er auch Schwierigkeiten und Antinomien der Kantischen Lehre aus dem Geiste der Kantischen Lehre selbst heraus zu lösen versteht (S. 186, S. 193) – wendet er sich S. 196 ff. dem Vergleich von Luther und Kant zu. Er zeigt, wie trotz des inhaltlichen und des methodischen Gegensatzes der beiderseitigen ethisch-religiösen | Lehren doch tiefgreifende Parallelen vorhanden sind. So habe Luther, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch implicite die[j] scholastische[k] Trennung der natürlichen und der religiösen Sittlichkeit (der philosophischen und der theologischen Ethik) überwunden (§ 23). Den wichtigsten Coincidenzpunkt sieht der Verfasser (in § 24) in der Verinnerlichung des ethisch-religiösen Glaubens und Lebens und damit in der Autonomie desselben gegenüber allen heteronomen Begründungen; in diesem Sinne betrachten beide die sittliche Gesinnung, die Pflicht als Selbstzweck, unter Ablehnung jeder Rücksicht auf das „Werk“ und den „Erfolg“ (S. 209). „Luthers Forderung des autogenen Handelns ist durch den (Kantischen) Begriff der Gesetzgebung zur Idee des autonomen Handelns entwickelt“ (S. 210). Gegenüber der sittlichen Gesinnung betrachten beide (§ 25) Glück und Verdienst als irrelevant. Beiden erscheint (§ 26) die Anlage zum Guten als gottgewirkt, ihre Bethätigung als Sache der freien Persönlichkeit. Ebenso treffen beide zusammen in der Lehre von der Nächstenliebe, als Achtung vor der Person (§ 27) und zum Theil in der Lehre von der Kirche (§ 28). Vieles, was Luther mehr nur[l] gefühlsmäßig zum Ausdruck bringen konnte, ist bei Kant mit begrifflicher Klarheit deutlich ausgesprochen. Und so erscheint der so oft nur beiläufig gezogene Vergleich zwischen Luther und Kant nach den überzeugenden Ausführungen des Verfassers als prinzipiell berechtigt und wohlbegründet.
Ich empfehle, diese Schrift, welche sich durch Gründlichkeit und Klarheit, Schärfe und Gewandtheit auszeichnet, als Habilitationsschrift anzunehmen, in der sichren Voraussicht, daß sich ihr Verfasser auch als Docent bewähren wird.
Vaihinger
Halle a S. 17 Oct[ober] 1903
Dem[m] Antrag meines Herrn Collegen schließe ich mich, nach Durchsicht der Habilitationsschrift des Dr Bauch, an. Auch ich empfing von dieser Schrift und der mir von früher bekannten Dissertation einen durchaus[n] günstigen Eindruck in Hinsicht auf Begabung und wissenschaftliche Durchbildung des Dr Bauch. A. Riehl 18. Okt[ober] 1903.
mit[o] diesen Urteilen erkläre ich mich einverstanden 23. Oct[ober] 1903 G Cantor.
einverstanden 23/10 03 W Dittenberger[p]
ges[ehen] Suchier[q]
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Habilitationsschrift ] vgl. die Druckfassung: Bauch: Luther und Kant. Berlin Reuther & Reichard 1904. Zuvor in: Kant-Studien 9 (1904), S. 351–492.▲