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- TitleVaihinger: Gutachten über Günther Thiele, übermittelt an Friedrich Theodor Althoff, Halle, 20.3.1896, 4 S., hs., Staatsbibliothek zu Berlin, Slg. Darmst. 2a (acc. Darmstdt.1922.33)
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- Physical LocationStaatsbibliothek zu Berlin, Slg. Darmst. 2a (acc. Darmstdt.1922.33)
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Vaihinger: Gutachten über Günther Thiele, übermittelt an Friedrich Theodor Althoff, Halle, 20.3.1896, 4 S., hs., Staatsbibliothek zu Berlin, Slg. Darmst. 2a (acc. Darmstdt.1922.33)
Günther Thiele[1]
Geboren am 1. Nov[ember] 1841 zu Rohnstedt (Schwarzb[urg-] Sondershausen[2]) als Sohn eines Landwirthes, besuchte das Gymnasium zu Sondershausen, studirte ein Jahr lang in Halle Theologie, sodann 4 Jahre lang in Heidelberg, Jena und Halle Philosophie, Mathematik und Physik.
Derselbe promovirte im Mai 1869 in Halle auf Grund folgender Dissertation:
Wie sind die synthetischen Urteile der Mathematik a priori möglich? Halle 1869[a] (44 S.)
Diese Dissertation bekundet eine für eine Erstlingsarbeit seltene Reife des Urtheils, und zeichnet sich durch Selbstständigkeit der Auffassung[b] sowie durch nicht gewöhnlichen Scharfsinn aus. Der Verf[asser] schließt sich im Prinzip an Kants Lehre von der Apriorität des Raumes und der Zeit an, zieht aber im Einzelnen ganz andere Consequenzen als Kant über die synthetische resp. analytische Natur der mathematischen Urtheile.
Diese Arbeit ist noch heute von Werth für die Wissenschaft.
Ein Jahr darauf (Mai 1870) wurde T. Hilfslehrer am Gymnasium zu Glückstadt für Mathematik und Physik, und wurde Aug[ust] 1871 zum ordentl[ichen] Lehrer befördert. Er verfasste das Glückstadter Osterprogramm von 1873 über ein rein mathematisches Thema („Bewegung der Energie in einem linearen Punktsystem“). Zu Herbst 1873 gab Th. jene Stellung auf, um sich ganz der acad[emischen] Laufbahn zu widmen. Der Director lobt in dem nächsten Programm seinen „selbstlosen treuen Pflichteifer und seinen ungewöhnlich erfolgreichen Unterricht.“ |
Im Oktober 1875 habilitirte sich Th. in Halle als Privatdocent der Mathematik und Philosophie. Im ersteren Fach behandelt seine Habilitationsschrift das Thema: „Aufgaben der Wellenlehre, ohne jede Vernachlässigung der Continuität, mit Hilfe der Cylinderfunktion.“ Im Gebiet der Philosophie erschien seine Schrift
Kants intellectuelle Anschauung als Grundbegriff seines Kriticismus dargestellt und gemessen am kritischen Begriff der Identität von Wissen und Sein. Halle a. d S. Niemeyer 1876[c] (304 S.)
Diese Arbeit beleuchtet das Kantische System von einem zwar etwas einseitigen, aber doch selbstständigen und originellen Standpunkt aus, dessen Bedeutung bis dahin allerdings nicht hinreichend gewürdigt worden war. Echt philosophischer Weitblick in den Grundfragen, großer Scharfsinn und anerkennenswerthe Sorgfalt im Einzelnen zeichnen die Arbeit aus, welche als tüchtige Leistung einen dauernden Platz in der Kantliteratur einnehmen wird.
Dabei ist jedoch nicht zu verschweigen, daß sehr abstracte, überscharfsinnige Erörterungen das Buch durchziehen, welche dasselbe selbst dem Fachmann oft schwerverständlich machen. Dadurch erklärt sich, daß das Buch die verdiente Anerkennung nicht gefunden hat.
Zwei Jahre darauf erschien:
Grundriß der Logik und Metaphysik, dargestellt als Entwicklung des endlichen Geistes. Halle, Niemeyer 1878[d] (214 S.)
Mit diesem Buch hat der Verf[asser] einen falschen Weg betreten. Schon in den beiden ersten Publicationen trat eine bedenkliche Neigung zur Fichte-Hegel’schen Dialektik hervor, welche nun in diesem Buche den Grundton abgibt. Zwar hat der Verf[asser] die Hegel’sche Philosophie nicht unkritisch hingenommen, sondern die|selbe selbstständig verarbeitet, aber, bei aller Anerkennung des aufgewendeten Scharfsinnes im Einzelnen, kann über das Ganze, vom heutigen Standpunkt der Philosophie aus, nur ein verurtheilendes Verdict ausgesprochen werden. Dieses Buch ist für uns heute gänzlich unfruchtbar, unserem heutigen Denken gänzlich unverständlich, ja unerträglich. Das Buch ist offenbar aus Vorlesungen hervorgegangen. Eine in diesem Sinne gehaltene Vorlesung ist durchaus ungeeignet, Studirende in die Wissenschaft einzuführen: sie wird dieselben vielmehr von der Philosophie an der Schwelle abschrecken.
Vier Jahre darauf veröffentlichte Th. wieder ein historisches Werk:
Die Philosophie Immanuel Kants nach ihrem systematischen Zusammenhange und ihrer logisch-historischen Entwicklung dargestellt und gewürdigt. Halle, Niemeyer 1882[e]. Erster Band, I. Abth[eilung] Kants vorkritische Naturphilosophie (219 S.)
Fünf Jahre darauf folgte:
Erster Band[f], II. Abth[eilung] Kants vorkritische Erkenntnistheorie (320 S.)
Auch in diesem Werke kommt in der Einleitung jene vollständig veraltete Hegel’sche Methode zur Geltung, deren Befolgung das vorige Werk so ungünstig beeinflußt hatte. In der eigentlichen historischen Darstellung, wo der Verf[asser] diesen seinen eigenen systematischen Standpunkt zurücktreten läßt, kommen die Vorzüge wieder zur Geltung, welche die beiden ersten Publicationen des Verf[asser]’s ausgezeichnet hatten: umfassender Weitblick in den allgemeinen Fragen, Gründlichkeit und Sorgfalt im Einzelnen, dabei überall Selbstständigkeit der Auffassung. Dabei kommt dem Verf[asser] überall seine gründliche naturwissenschaftliche Bildung zu Statten.
Aber scharf treten auch bedenkliche Mängel hervor: Neigung zu formloser Darstellung; Weitschweifigkeit; Unfähigkeit, das Gefundene plastisch zu gestalten. |
Kürzlich ließ nun Th. ein neues Werk erscheinen:
Die Philosophie des Selbstbewußtseins, und der Glaube an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Systematische Grundlegung der Religionsphilosophie. Berlin, Skopnik. 1895[g] (510 S.)
Dies Werk zeigt sämtliche Vorzüge, aber auch leider die Mängel der sonstigen Schriften des Verf[asser]’s.
Das Werk untersucht, auf Grund durchgängiger Auseinandersetzung mit Kant, die Natur des Selbstbewußtseins, findet dieselbe in der Selbstbehauptung, constatirt die Substanzialität der Seele, und sucht auf Grund dieser Erörterungen den Glauben an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit neu zu begründen – eine ernste Arbeit, von großer Reichhaltigkeit des Inhalts und außerordentlichem Scharfsinn in der Form; sehr belehrend, wo der Verf[asser] sich mit Kant historisch-kritisch beschäftigt, dagegen auch sehr ermüdend, wo der Verf[asser] seine eigene Meinung entwickelt, und gänzlich unzulänglich, wo es sich um psychologische Fragen handelt, weil alle unbefangene Auffassung des psychologischen Thatbestandes wieder durch die Hegel’sche Begriffsdialektik unmöglich gemacht wird, durch welche der Verf[asser] zu abstracten Erörterungen verführt wird, hinter denen das Concrete sich verliert.
Diese Mängel werden zur Folge haben, daß auch dies Werk, trotz seiner Vorzüge, wirkungslos vorübergeht.[h]
Aus diesen Eigenthümlichkeiten Thiele’s erklärt sich wohl auch seine, wie verlautet, geringe academische Wirksamkeit. Zwar wird allgemein die Gründlichkeit desselben anerkannt, aber auch die Schwerverständlichkeit getadelt. Systematische Vorlesungen des Verf[asser]’s können, der ganzen Richtung desselben nach, wenig Anziehendes haben. Dagegen ist wol zu denken, daß historische Vorlesungen desselben belehrend und sehr instructiv sind, allerdings nicht durch reiche plastische Ausführung, wohl[i] aber durch scharfsinnige Analyse und gründliche, freilich nicht selten einseitige Kritik.
Halle a/S. 20. März 1896.
H. Vaihinger.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
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