Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Bartholomäus von Carneri, Straßburg, 1.12.1882, 8 S., hs., Wienbibliothek im Rathaus, Wien, H.I.N.-178304
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- Place and Date of Creation
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- Physical LocationWienbibliothek im Rathaus, Wien, H.I.N.-178304
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Vaihinger an Bartholomäus von Carneri, Straßburg, 1.12.1882, 8 S., hs., Wienbibliothek im Rathaus, Wien, H.I.N.-178304
Straßburg i/E 1. Dec[ember] 1882
Hochverehrter Herr!
Ich bin Ihnen für alle Ihre Güte und thätige Theilnahme so sehr verpflichtet, daß ich vergebens die richtigen Worte suche, um Ihnen meinen allerherzlichsten Dank auszudrücken. Ganz besonders verbunden bin ich Ihnen, außer für die erfreuliche bestimmte Nachricht[1] von dem Vorschlag an erster Stelle in Graz, für die nachdrückliche Verwendung zu meinen Gunsten an der definitiv entscheidenden Stelle durch Ihren Grazer Freund. Ich bin ja daran umso mehr | bedürftig, als dem Nicht-Oesterreicher zur Zeit so erhebliche Schwierigkeiten entgegenstehen. Als Süddeutscher freilich mehr stammverwandt habe ich mich von jeher für oesterreichische Verhältnisse[a] und Menschen besonders interessirt, und würde einem Rufe, in jenem schönen Lande zu wirken, mit größter Freude folgen.
Ihren gütigen Nachrichten nach müßte der Grazer Vorschlag wohl bald ans Ministerium gelangen und so dürfte die empfehlende Fürsprache Ihres Freundes bei demselben zur richtigen Zeit eingetroffen sein. Unter solchen Umständen darf ich ja nun die freudige Hoffnung fassen, daß ein günstiger Ausfall zu erwarten sei; allerdings ist nach mündlicher Mittheilung des Herrn Prof. Riehl | die Besetzung des vacanten Lehrstuhls erst für nächsten Winter in Aussicht genommen, was ja aber eine frühere Ernennung nicht ausschließen würde.
Sollten Sie, verehrtester Herr, irgend Etwas Bezügliches in Erfahrung bringen, so bitte ich Sie um gütige Mittheilung[2], eine Bitte, zu der mich Ihr mir bisher so theilnehmend bewiesenes Interesse ermuthigt. Ich lebe natürlich sehr in der Spannung, und wünsche sehnlichst, aus einer Zeit beständiger Aufregung in ruhiges Fahrwasser zu gelangen: denn seit einem Jahre spielen Berufungsfragen, bei denen ich in Betracht und Vorschlag kam[3], in Würzburg (in Freiburg) in Königsberg, Halle und sogar in Gent (in Belgien). Ein leidiger Umstand hat mir viel gethan, daß nemlich[b] hier in Straßburg nicht[4] wie | anderwärts ältere bekannte Privatdocenten zu außerordentlichen Professoren ernannt werden; ich habe natürlich überall auf diesen schädigenden Umstand hingewiesen, aber die Gloriole des Titels ist immer bestechend, obwohl mehrere, die sich mit mir habilitirt haben, und jetzt Extraordinarien sind, allgemeinem Urtheil nach es nicht um einen Gran mehr verdienen, als ich. Derartige Ungleichheiten an den Universitäten schaden im Renomée, indessen ist von hier aus genügend hierüber nach Graz berichtet worden, und Ihren bestimmten Nachrichten nach hat mir dieser Umstand dort ja auch nicht geschadet; sonst wird natürlich ceteris paribus der Privatdocent erst nach dem Extraordinarius genannt. |
Herrn Professor Riehl bin ich für seine Güte und Theilnahme zu höchstem Dank verpflichtet. Obwohl ich ihn in meinem Kantcommentar hart angegriffen[5] habe, hat er in edelster Selbstverläugnung[c] meine Interessen in Graz gefördert – ein Beweis von edelm Denken, der mir menschlich sehr erhebend ist, und erheblich absticht gegen andere häßliche Erfahrungen. Auch der mir befreundete Professor Janitschek[6] hier, der in Graz studirte und in Prag Professor war, hat sich in liebenswürdigster Weise meiner Interessen angenommen. Und nun verdanke ich Ihrer aufopfernden Güte so Vieles, daß ich nur durch den stets erneuten Vorsatz meinen Dank abtragen kann, meine Kräfte aufs Höchste anzuspannen, um so vieler Güte und so vielen Vertrauens mich möglichst würdig zu zeigen. |
Eine große Freude haben Sie mir durch das gütige Geschenk Ihrer beiden Abhandlungen[7] gemacht; und durch die Aussicht, mir noch weitere zu senden. Den ergänzenden Aufsatz über das Bewußtsein[8] im 4. Band des Kosmos habe ich noch nicht erhalten können, da der Band zur Zeit auf der hiesigen Bibliothek ausgeliehen ist. Ich bin auf seinen Inhalt sehr gespannt, da der Aufsatz über das Ganze auf ihn zurückweist. Mit den Theorien des Bewußtseins habe ich mich immer näher beschäftigt, da ich als Tübinger Student eine damals gestellte Preisaufgabe[9] löste. „Über die metaphysischen Grundlagen der modernen Theorien des Bewußtseins und ihre psychologischen Consequenzen“. Ich war damals noch sehr jung, aber ich habe das Interesse für diesen Gegenstand nie verloren und Material für eine | Monographie darüber gesammelt. Ihre Theorie, soweit ich sie aus Ihrem Aufsatz über das Ganze erschließe, scheint mir sehr einleuchtend und überzeugend, und hat den Vorzug der Einfachheit und Natürlichkeit: Die centrale Zusammenfassung zu einem einheitlichen Ganzen verstärkt die elementaren Empfindungen und gibt ihnen erst Bewußtseinswerth. Der Organismus folgt dem Spruche: „immer zum Ganzen zu streben“. Mit der einheitlichen Zusammenfassung steigert sich das Maß des Lichtes[d] des Bewußtseins; je einheitlicher, desto bewußter. Alle Nervenbahnen dienen dieser einheitlichen Zusammenfassung, um die möglichste Convergenz aller Functionen in Einem Focus zu Stande zu bringen. Decentralisation – Aufhebung der einheitlichen Zusammenfassung – ergibt Bewußtlosigkeit, eventuell den Tod. – In diesen Ausführungen glaube ich Ihre | Theorie dargestellt zu haben, indem ich den Extract aus Ihrer mir vorliegenden Abhandlung ziehe – indem ich sie durch Centralisation mir selbst zum gesteigerten Bewusstsein bringe.
Mit großem Interesse habe ich auch Ihre Abhandlung über die Glückseligkeit[10] gelesen, viele kräftige Stellen daraus habe ich mir ganz besonders notirt, so daß Klärung der Gefühle der richtige Weg zu klaren Begriffen sei, so die Bemerkungen über den socialen Werth der Empfindsamkeit. Von den Bemerkungen auf S. 244–246[11] habe ich auf mich selbst Nutzanwendung gemacht; schweben mir doch höchste Ideale vor, zu deren Realisirung es nur der „gesicherten“ Stellung bedarf; möge mir im „Kampf ums Glück“ baldiger Sieg vergönnt sein. Als einen wesentlichen Theil dieses Glückes würde ich es betrachten, einem Manne persönlich danken zu dürfen, der mir so viele Güte und Theilnahme entgegenbringt.
In inniger und dankbarer Verehrung Ihr ganz ergebenster
H. Vaihinger
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
5↑in meinem Kantcommentar hart angegriffen ] vgl. Alois Riehl an Vaihinger vom 23.8.1881 sowie Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft 1881, S. 21: Riehl, der Kriticismus. I. Band. Leipzig 1876. (Neben feinen Bemerkungen und sehr brauchbaren exegetischen Beiträgen ohne Exactheit; zu enger Anschluss an Cohens willkürlich deutelnden Tiefsinn.) Weitere kritische Auseinandersetzungen S. 403 u. 428.6↑Professor Janitschek ] der Kunsthistoriker Hubert Jantischek (1846–1893), nach Studium in Graz und anschließendem Italienaufenthalt 1877 Kustos am Museum für Kunst und Industrie Wien. 1878 an der Wiener Universität habilitiert, 1879 ao. Prof. in Prag, 1881 o. Prof. in Straßburg, 1891 in Leipzig (WBIS; Meyers Großes Konversationslexikon 1905–1909: https://meyers.de-academic.com/66055/Janitschek (6.8.2024)).9↑Preisaufgabe ] vgl. V. Die philosophische Facultät. In: Bekanntmachung der Ergebnisse der akademischen Preisbewerbung vom Jahre 1872 bis 1873 und der neuen für das Jahr 1873 bis 1874 bestimmten Preisaufgaben. Tübingen: Ludwig Friedrich Fues 1873. In (Sammelschrift): Tübinger Universitätsschriften aus dem Jahre 1873. Tübingen: Heinrich Laupp 1873, Nr. 5, S. 10–11: [Die philosophische Facultät] hatte die Aufgabe gestellt: [Absatz] „Es sollen die neueren Theorieen des Bewußtseins nach ihrer metaphysischen Grundlage und ihrer Bedeutung für die Psychologie entwickelt und geprüft werden“. [Absatz] Sie hat zwei Bearbeitungen derselben erhalten. Die eine mit dem Motto: Whoever faith fully and firmly endeavours to obtain a definite idea u. s. w., die andere mit dem Motto: Das Bewußtsein ist das fundamentale Kriterium specifisch-seelischen Lebens. [Absatz] Der Verfasser der ersten Arbeit hat derselben eine durch die Stellung der Aufgabe nicht gebotene Ausdehnung gegeben, indem er die Lehre vom Bewußtsein durch die ganze Geschichte der Philosophie verfolgt. Er hat aber auch die neuere Philosophie mit einer Vollständigkeit behandelt, die auch auf die untergeordneten Erscheinungen der psychologischen Litteratur sich erstreckt. Hat nun der Verfasser bei dieser umfassenden Behandlung des geschichtlichen Stoffes einen ungemeinen Fleiß dokumentirt, so läßt sich zwar theilweise die Genauigkeit in der Auffassung des Einzelnen und die methodische Bearbeitung des Stoffes vermissen, es läßt sich aber doch der wissenschaftliche Geist nicht verkennen, mit welchem er seine Aufgabe angefaßt hat. Er hat sowohl die metaphysische, als | die psychologische Seite der verschiedenen Theorieen im Wesentlichen gut entwickelt, und es ist ihm gelungen, den richtigen Gesichtspunkt für die Auffassung und Beurtheilung derselben zu gewinnen. [Absatz] Der Verfasser der zweiten Arbeit behandelt die Aufgabe nicht in dem Umfang wie die erste, und er beschränkt sich auch in der neueren Psychologie mehr auf die bedeutenderen Vertreter derselben. Die Arbeit zeichnet sich aber vor der ersten durch eine methodischere Bearbeitung des Stoffs aus, und es ist insbesondere anzuerkennen, daß sie die metaphysische und die empirische Richtung der neueren Psychologie schärfer unterschieden hat. Die metaphysische Grundlage der Theorieen, namentlich bei Hegel und Herbart, ist weniger genügend erörtert, befriedigender ist die Analyse ihrer psychologischen Bedeutung. Der Verfasser hat im Wesentlichen richtig erkannt, worauf es im Begriffe des Bewußtseins ankommt, und er macht seine Ansicht mit Erfolg, insbesondere gegen den Materialismus geltend; es wäre jedoch zu wünschen, daß er dieselbe in der Auffassung und Beurtheilung der verschiedenen Bewußtseins-Theorieen consequent festgehalten hätte. [Absatz] Die Facultät vermochte keine dieser Arbeiten der anderen unbedingt vorzuziehen und hielt beide für des Preises würdig. Sie stellte den Antrag auf Bewilligung eines zweiten Hauptpreises, welchem das Königliche Ministerium des Kirchen- und Schulwesens die Genehmigung ertheilt hat. [Absatz] Als Verfasser der ersten Arbeit ergab sich: [Absatz] Karl Eugen Hans Vaihinger aus Cannstatt, Studierender der Philosophie im evangelisch-theologischen Seminar; [Absatz] als Verfasser der zweiten: [Absatz] Karl Johann Neuburger aus Waldsee, Studierender der Theologie im Wilhelmsstift. Vaihingers Arbeit blieb ungedruckt.10↑Abhandlung über die Glückseligkeit ] vgl. Carneri: Zur Glückseligkeitslehre. In: Kosmos 6 (1882), Bd. 11 von April–September, S. 241–250. Heft ausgegeben am 6.7.1882, Carneri datiert seinen Aufsatz auf: Wildhaus, 25. Oct. 1881.11↑Bemerkungen auf S. 244–246 ] vgl. das Digitalisat: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00221637/Kosmos_1882_Bd11_167406531_0251.tif?logicalDiv=jportal_jparticle_00548243&q=carneri_glückseligkeit (6.8.2024)).▲