Titelaufnahme
- TitelWindelband: Habilitationsgutachten über Arnold Ruge, Heidelberg, 23.5.1910, 3 S., hs. (lat. Schrift), UA Heidelberg, H-IV-102/139 (Philosophische Fakultät 1909/10, Dekan: Franz Boll)
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- StandortUniversitätsarchiv Heidelberg
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Windelband: Habilitationsgutachten über Arnold Ruge, Heidelberg, 23.5.1910, 3 S., hs. (lat. Schrift), UA Heidelberg, H-IV-102/139 (Philosophische Fakultät 1909/10, Dekan: Franz Boll)
Herr Dr. Arnold Ruge ist mir fast seit dem Beginn meiner hiesigen Wirksamkeit bekannt, – ein junger Mann, der eine harte Kindheit hinter sich hat und unter schweren körperlichen Leiden sich den Zugang zu einer wissenschaftlichen Laufbahn selbst hat erringen müssen. Hieraus erklären sich wohl gewisse Züge von Herbheit und Rücksichtslosigkeit, selbst von Bitterkeit und Schärfe, die in seinem äussern Auftreten gerade deshalb sich geltend gemacht haben, weil er von durchaus idealen Bestrebungen erfüllt und von starkem Tätigkeitsdrange beherrscht ist. So hat er schon als Student zu den Reformbewegungen Stellung zu nehmen gesucht und das Büchlein[1] veröffentlicht, dessen z. T. arge Geschmacklosigkeiten und Uebereilungen er jetzt selber bedauert; er ist dabei zugleich in höchst unerfreuliche Konflikte, sogar mit der akademischen Disciplin gekommen. Auch später hat er gelegentlich bei öffentlichem Auftreten, selbst wo er sachlich im Recht sein mochte, sich durch sein leidenschaftliches Temperament formell ins Unrecht gesetzt. Immer aber ist selbst von seinen Gegnern die Ehrlichkeit und die Aufrichtigkeit seiner Gesinnung ebenso anerkannt worden, wie die intellektuelle Energie seines Auftretens.
Bei der Begutachtung des Habilitationsgesuches bin ich in diesem Falle genötigt, diese Dinge zu berühren, einerseits weil sich nach solchen Vorgängen, wie mir nicht unbekannt ist, in akademischen Kreisen Urteile über Dr. Ruge festgesetzt haben, die ich in ihrer Schroffheit nicht für berechtigt halte, andrerseits weil ich hoffe, dass er mit der Zeit und der Erfahrung ruhiger geworden, der Fakultät keine Schwierigkeiten durch geräuschvolles und taktloses Auftreten bereiten wird. Es würde mir ungerecht und ebenso unzweckmässig erscheinen, wegen solcher jugendlicher Auswüchse sich zurückhaltend gegen eine wissenschaftliche Kraft zu zeigen, die für die Fakultät entschieden wertvolle Leistungen verspricht. Schon bisher muss ich mit der höchsten Anerkennung das organisatorische Talent rühmen, mit dem Dr. Ruge bei der Einrichtung und dem Ausbau des philosophischen Seminars dem Unterricht und dem Studium des Philosophie wesentliche Dienste geleistet hat. Mit rastlosem Eifer hat er an der Gestaltung unsrer Bibliothek gearbeitet und, vielleicht nicht ohne Strenge gegen die Seminarmitglieder, | für musterhafte Ordnung gesorgt: ich glaube nicht, dass ohne seine hingebende Tätigkeit das Seminar auf den erfreulichen Stand gekommen wäre, den es jetzt einnimmt. Gerade durch diese Arbeit aber und durch die analogen Leistungen, welche er bei der Organisation des philosophischen Kongresses im Jahre 1908 entwickelte, ist Dr. Ruge auf allen Gebieten der Philosophie, insbesondre auch der ausländischen heimisch geworden, und er besitzt so das nötige Rüstzeug zu einer instruktiven Betätigung in Vorlesungen und Uebungen. Dazu kommt, dass er sich nach den Anregungen seiner Tätigkeit in das weitschichtige Unternehmen der internationalen philosophischen Bibliographie[2] eingelassen hat, die ihn in stete Berührung mit den wissenschaftlichen Bewegungen und Persönlichkeiten bringt.
Es spricht in hohem Masse für seine Leistungsfähigkeit, dass er mitten in der Riesenarbeit, die er sich mit solchen Unternehmungen aufgehalst hat, die Sammlung und innere Sicherheit für die Abfassung einer Habilitationsschrift[3] gefunden hat, die eine rückhaltlose Anerkennung ihres wissenschaftlichen Wertes verdient. Als Dr. Ruge (vor seiner Promotion) zum besonderen Arbeitsgebiet Kant’s Freiheitslehre wählte, war ich selbst nicht sicher, ob sich ihm dies als ausgiebig genug erweisen würde. Aber schon seine Doktordissertation[4], welche die theoretischen Freiheitsbegriffe behandelt, kam durch scharfsinnige und genaue Unterscheidungen zu beachtenswerten Resultaten. Jetzt hat er die praktischen Freiheitbegriffe Kant’s durch eine sorgfältige und subtile Durchforschung des schon so viel behandelten Materials mit überraschender Klarheit zu sondern verstanden. Sein Aufweis der Uebergänge aus Kant’s Logik des reinen Willens zu der ethischen Theorie und von da wieder zur Begründung der Moral, der Uebergänge von der „reinen Vernunft“ zu den anthropologisch gefärbten Vernunfterscheinungen ist für die gesamte Auffassung der Transscendentalphilosophie, ihrer Aufgabe und ihrer Methode von höchst interessanter Bedeutung.
Hiernach scheint mir Dr. Ruge für eine erfolgreiche Mitarbeit an dem Unterricht der Philosophie, der an unserer Fakultät zur Zeit ein erfreuliches Interesse bei den Studierenden findet, alle erforderliche Gewähr zu bieten, und ich beantrage daher seine Zulassung zu den weiteren Habilitationsleistungen[5].
Heidelberg, 23t Mai 1910
W Windelband
Kommentar der Herausgeber
1↑Büchlein ] vgl. Arnold Ruge: Kritische Betrachtung und Darstellung des Deutschen Studentenlebens in seinen Grundzügen. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1906.2↑internationalen philosophischen Bibliographie ] vgl. Die Philosophie der Gegenwart. Eine internationale Jahresübersicht. Hg. v. Arnold Ruge Heidelberg: Weiss 1910–14.3↑Habilitationsschrift ] vgl. Arnold Ruge: Die Deduction der praktischen und der moralischen Freiheit aus den Prinzipien der kantischen Morallehre. Tübingen: Laupp 1910. 78 S.4↑Doktordissertation ] vgl. Arnold Ruge: Die transzendentale Freiheit bei Kant. Diss. Heidelberg 1908. IV, 82 S.5↑Habilitationsleistungen ] vgl. in derselben Akte Bl. 266–277 zum Verfahren: die Probevorlesung handelte am 16.7.1910 über das Thema Das Problem der Persönlichkeit in Beziehung auf Kants Ethik; am Probevortrag in der Fakultätssitzung vom 11.6.1910 über Das Verhältnis vom System der Philosophie zur Geschichte der Philosophie (abgedruckt u. d. T. System und Geschichte der Philosophie in: Logos 2 (1911/12), S. 360–376) wurde bemängelt, daß Ruge nicht frei vorgetragen habe; entschuldigt wird das damit, daß kurz vorher sein Vater gestorben sei. Am 16.7.1910 wurde die venia legendi erteilt.▲