Bibliographic Metadata
- TitleNr. 12, Heft mit Fadenheftung und Umschlag aus blauem Papier, ohne Titel, Fortsetzung von Heft 8, 1. Zeile beginnt: von den sog. ‚allgemeinen Ergebnissen‘ der … , auf dem Umschlag vermutlich eigenhändige Nummerierung II a, daneben Bleistiftnotiz von anderer Hd. Fock 6, Abfassungszeitraum ca. 1876–1878/79, Umfang: 36 S., davon beschrieben: 29, Textbeginn auf Bl. 1r, hs. (dt. Schrift), schwarze Tinte, Maße: 20,5 x 16,8 cm, Universitätsbibliothek der Tohoku Universität Sendai (Japan): II, A 2–2 WW 1, 12
- ParticipantsAristoteles ; Baruch de Spinoza ; Charles Darwin ; Christian Wolff ; Friedrich Eduard Beneke ; George Berkeley ; Immanuel Kant ; Isaak Newton ; Johann Friedrich Herbart ; John Locke ; John Stuart Mill ; Moritz Drobisch ; Nikolaus Kopernikus ; Platon ; René Descartes ; Sokrates ; Étienne Bonnot de Condillac
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- Physical LocationUniversitätsbibliothek der Tohoku Universität Sendai (Japan)
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Nr. 12, Heft mit Fadenheftung und Umschlag aus blauem Papier, ohne Titel, Fortsetzung von Heft 8, 1. Zeile beginnt: von den sog. ‚allgemeinen Ergebnissen‘ der … , auf dem Umschlag vermutlich eigenhändige Nummerierung II a, daneben Bleistiftnotiz von anderer Hd. Fock 6, Abfassungszeitraum ca. 1876–1878/79, Umfang: 36 S., davon beschrieben: 29, Textbeginn auf Bl. 1r, hs. (dt. Schrift), schwarze Tinte, Maße: 20,5 x 16,8 cm, Universitätsbibliothek der Tohoku Universität Sendai (Japan): II, A 2–2 WW 1, 12
von[a] den sog. allgemeinen Ergebnissen der exacten Wissenschaften geschöpft hatten. Und selbst, wo die bedeutenderen unter ihnen mit ernster und gewissenhafter Arbeit in einer oder der anderen Erfahrungswissenschaft sei es der Natur oder der Geschichte mitten inne standen, entgingen sie doch nicht der Gefahr, von den Voraussetzungen ihres begrifflichen Systems aus die Auffassung der Tatsachen zu vergewaltigen.
So ist es denn, wie auf anderen Gebieten, auch auf demjenigen der rationalen Psychologie dahin gekommen, das von einem aus metaphysischen Grundbegriffen und einigen allgemeinsten Erfahrungselementen combinirten Begriffe der Seele aus die ganze reiche Welt der psychischen Thatsachen deducirt d. h. „erklärt“ werden sollte, und daß man in der Uebereiltheit dieses philosophischen Lehrbaus eine methodische Begründung des psychologischen Wissens vernachlässigte. Es war erst sozusagen in der eilften[b] Stunde, kurz vor jener tödtlichen Verwundung, welche Kant der rationalen Wissenschaft beibrachte, daß die Metaphysik neben sich die Erfahrungswissenschaft zu dulden begann: aber wenn sie dann wie es[c] gleichfalls auch[d] auf anderen Gebieten geschah[e], rationale und empirische Psychologie neben einander stellte, so konnte sie damit nur die völlige Unvermitteltheit zwischen dem metaphysischen Denken und dem Erfahrungswissen ans Licht stellen. Wenn man Wolff’s[f] beide Werke[1], die sich ergänzen sollen, miteinander vergleicht, so sieht man erst ganz, wie wenig sie miteinander zu tun haben, wie vollkommen äußerlich die Seele der rationalen Psychologie den[g] Tatsachen der empirischen Psychologie gegenüber steht und wie völlig illusorisch infolgedessen die Erklärung ist, welche aus der metaphysischen Wissenschaft sich für die empirischen Kenntnisse ergeben soll.
Ist nun aber dieses Mißverhältniß in der Art der metaphysischen Erklärung überhaupt begründet, so liegt eben darin die Beurtheilung der rationalen Psychologie als einer metaphysisch deducierenden Wissenschaft ausgesprochen, und der Wert derselben kann niemals denjenigen einer Hypothese überschreiten, welche erst an den Thatsachen und zwar an einer wissenschaftlich geführten Feststellung und kritischen Durcharbeitung derselben geprüft werden muß.[h] So verhält sich z. B. sehr richtig die empirische Psychologie von Drobisch[i], zu der Hypothese von Herbart’s „rationaler Psychologie“, indem sie zeigen will, daß die wissenschaftlich constatirten Thatsachen des Seelenlebens sich nur durch die herbartsche Hypothese des Seelenwesens als eines einfachen Realen und seiner „Selbsterhaltungen“ gegen die „Beziehungen“ zu den übrigen Seelen erklären lassen.[j] Hätten die metaphysischen Systeme sich selbst und ihren psychologischen Teilen immer nur diese bescheidene Rolle zugewiesen und hätten sie die Geltung eines selbstständigen |[k] Wissens der Erfahrung gegenüber in Anspruch genommen, so hätten sie jene Streitigkeiten vermieden, die ihnen selbst am meisten geschadet haben.
Verderblicher aber noch ist die Rückwirkung, welche von diesem Scheitern der metaphysischen Erklärung sich auf die einseitige Richtung empirischer Forschung erstrecken mußte. Aus der Einsicht in die Willkürlichkeit, Unrichtigkeit und Mangelhaftigkeit der metaphysischen Entwürfe erwuchs nur allzuleicht ein Mißtrauen gegen jeden Erklärungsversuch überhaupt und die Mißerfolge der Metaphysik haben daher alle Zeit einen einem seichten Gerede zur Folie gedient, welches mit der Aufspeicherung von thatsächlichem Wissen das Geschäft der Wissenschaft als abgeschlossen betrachten möchte. Dieser Gefahr ist auch die Psychologie nicht entgangen. Nachdem man sich überzeugt hatte, daß der Mangel der rationalen Psychologie wesentlich darin bestand, daß sie erklären wollte, ohne zu wissen, so ging es nun mit umso hastigerer Emsigkeit an das Sammeln von Thatsachen[l]. Eine solche Periode der bloßen Empirie zeigt für die Psychologie[m] schon die Popularphilosophie des Aufklärungszeitalters. Es herrschte in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine wahre Sucht, psychische Thatsachen zu constatiren. Da wuchsen die „Magazine der Seelenkunde“[2] zu Dutzenden von Bänden an, da bildete sich in Paris die Société des observateurs de l’homme[n], welche 50 Mitglieder, 50 Korrespondenten, und 50 Agrégés besaß: es war die Zeit individualistischer Selbstbespiegelung, die Zeit der Tagebücher und der Briefwechsel. Was nun aber da einer berichtete, das sollte natürlich den anderen möglichst interessant sein, das durfte doch unmöglich auf einen Vorgang hinauslaufen, den Jeder jeden Tag an sich selbst erlebte oder erleben konnte. Jeder berichtete nur, was ihm „auffiel“, und so kam es, daß diese ganze Sammlerei gerade an den Grundthatsachen des psychischen Lebens, eben an den alltäglichen Vorgängen vorbeiging und den Wert einer Curiositätensammlung nicht überschritt. Es war, als wollte man Physiologie von Anfang an durch Aufzeichnung einer Reihe von pathologischen Vorgängen studieren. Die Constatirung anomaler Fälle[o] hat im Fortgange jeder biologischen und deshalb auch der psychologischen Forschung einen sehr hohen Werth: allein derselbe beginnt erst da, wo die Grundprocesse des normalen Lebens bekannt sind und wo dann die pathologischen Vorgänge, indem sie aus ungewöhnlichen Combinationen der allgemeinen Lebensgesetze erklärt werden, ein bestätigendes Licht auf die Kenntniß jener normalen Vorgänge werfen oder durch die bei ihnen nachweisbare Veränderung der Bedingungen zur Prüfung einer über normale Vorgänge aufgestellten Hypothese die Mittel an die Hand geben: überall setzt die fruchtbare Verwertung abnormer[p] Erscheinungen eine gewisse Kenntniß des normalen Processes voraus, und zwar nicht nur jenes rohe und allgemeine Wissen von den normalen Vorgängen, vermöge dessen eben jene „auffallenden“ Thatsachen als anomal bezeichnet und verzeichnet werden, sondern eine erklärende Wissenschaft, welche von denselben zur Lösung bestimmter Probleme einen methodischen Gebrauch zu machen versteht. Aus dem Aufzeichnen von „Merkwürdigkeiten“ allein wird trotz aller Richtigkeit des Satzes, daß alle Erkenntnis aus dem admirari[3][q] hervorgeht, doch niemals eine Wissenschaft. |[r]
Es kommt hinzu, daß die psychologische Selbstbeobachtung, deren zweifelhafter Character noch weiterhin besonders wird hervorgehoben werden müssen, umso unzuverlässiger wird, je weiter ihre vermeintlichen Gegenstände von dem gewöhnlichen Ablauf des psychischen Daseins entfernt liegen. Nirgends liegen die Schlingen der Selbsttäuschung zahlreicher und verwickelter, als auf diesem Gebiete, und nimmt man dann noch hinzu, wie wenige unter den an sich „zuverlässigen“ Menschen richtig zu beobachten und vor allem ihre unwillkürliche Deutung von dem reinen Thatbestande der Wahrnehmung zur sondern gelernt haben, so wird man die Hoffnung, auf diesem Wege zu einer wissenschaftlichen Psychologie zu kommen, als von vorn herein eitel erkennen.
Nach einer andern Richtung neigt man in unserem Jahrhundert zu einem verwandten Fehlgriff der „reinen Empirie“. Nachdem durch das Mißlingen der metaphysischen Versuche der nachkantischen Philosophie eine ähnliche Erschlaffung des systematischen Denkens, wie vor Kant eingetreten war, ergriff man umso gieriger die Fülle der Thatsachen, welche aus einer schnellen Erweiterung der „vergleichenden Psychologie“[s] sich zu ergeben versprach. Die junge Wissenschaft der Ethnographie[t] schien auch der Psychologie das Heil bringen zu sollen. Da lagen in den Beobachtungen, welche von doch immerhin mehr oder minder wissenschaftlich gebildeten Männern gemacht worden waren, unzählige Erfahrungen über das Seelenleben der Erdenbewohner vor, so massenhaft, so reich, so mannigfaltig, daß ein breiterer Boden für eine empirische Wissenschaft niemals erhofft werden könnte. Es kam die Statistik[u] hinzu, welche mit Einem Male ungeahnte Regelmäßigkeiten, oder, wie man sogleich umdeuten sich zu verbessern meinte, Gesetzmäßigkeiten in den Massenvorgängen des psychischen Lebens, vor allem der Willensentschließung, aufdeckte und bei größerer Genauigkeit des Sammelns immer reichere Ausbeute versprach. Diesen Schatz, hieß es denn, solle man nur sorgfältig hüten, solle ihn immer weiter und weiter wachsen lassen; nur so werde einmal eine Psychologie zustande kommen. Aller systematisirenden, aller erklärenden Versuche solle man sich entschlagen, und nur immer Thatsachen sammeln und wieder sammeln.
Wenn diese Richtung sich gern als eine naturwissenschaftliche ausgiebt, so hat sie dazu nicht das mindeste Recht. Keine einzige unter den Naturwissenschaften verfährt mit einer so rohen und principienlosen Aufspeicherung von Erfahrungsmaterial. Jede weiß, daß der wissenschaftliche Werth der Thatsachen ein gar verschiedener ist, und daß diese Verschiedenheit nur beurtheilt werden kann vermöge der Stellung, welche eine Thatsache in dem methodischen Zusammenhange der Lösung eines bestimmten Problems einzunehmen verspricht. Thatsachen aufsuchen ist, an und für sich und um seiner selbst willen betrieben, nur ein Geschäft müßiger Neugierde und[v] hat einen wissenschaftlichen Sinn nur, wenn man weiß, welche Probleme man damit lösen will; dazu aber genügt nicht eine vage, allgemeine Beziehung, sondern nur eine ganz präcise, specielle Fragestellung. Diese aber beruht jedesmal auf einer methodischen Behandlung des schon vorher gewonnenen Wissens, auf dem Versuche zusammenhangender Erklärung der bekannten Erscheinungen, auf der Prüfung der zu diesem Zwecke aufgestellten Hypothesen. Eine wissenschaftlich werthvolle Erfahrung ist selbst |[w] nur durch systematische Behandlung des Gegenstandes, niemals durch ein wüstes Thatsachensammeln möglich. Es ist eine vergebliche Hoffnung, daß planlos aufgelesene Erfahrungen einmal von selbst zu einer Wissenschaft zusammen schießen sollten. Gerade je mehr ihrer werden, umso mehr behindern sie die freie Aussicht des ordnenden Denkens. Und selbst davon abgesehen, ist auch hier der Wert der einzelnen Beobachtung ganz und gar von der wissenschaftlichen Fragethätigkeit des Beobachters abhängig. Derselbe äußere Thatbestand zeigt bekanntlich Jedem, der ihn wahrnimmt, nur diejenige Seite, welche derselbe sehen will, und für eine Wissenschaft sind immer nur diejenigen Beobachtungen brauchbar, welche von ihrem Gesichtspuncte aus angestellt wurden. Jede wissenschaftliche Beobachtung, gleichviel ob reine Beobachtung oder Experiment, ist eine auf den Voraussetzungen wissenschaftlicher Ueberlegung angestellte Frage an die Natur der Dinge, und diese ist bekanntlich überall klug genug, nur gerade so weise zu antworten, als sie gefragt worden ist.
So werthvoll deshalb für einen systematischen Abschluß der psychologischen Forschung die Verwendung dieser ethnographischen und statistischen Massenbeobachtungen sein wird, so werthlos sind dieselben für die Grundlegung der Psychologie: umgekehrt vielmehr bedürfen sie selbst, um überhaupt verwertbar zu werden, einer genauen Durcharbeitung mit psychologischen Grundbegriffen und einer einheitlichen Methode der psychologischen Fragestellung. Jeder Entdecker, jeder Reisende, jeder Missionar hat bisher in seiner Weise, von seinem mehr oder weniger willkürlichen Gesichtspuncte aus Thatsachen beobachtet und gesammelt. Des Ethnographen mühseliges Amt ist es, aus dieser colossal weitschichtigen und der Beherrschung durch einen Menschen sich sehr bald entziehenden Literatur das Wesentliche auszusichten: und was ist in diesem Falle[x] das Wesentliche? Eben dasjenige, was auf ganz bestimmt formulirte psychologische Fragen eine Antwort giebt oder verspricht. Und woher anders sollen diese Fragen kommen, als aus einer methodischen Bearbeitung der Probleme? Besser aber noch wäre es, wenn diese Probleme, vorher entwickelt, der Beobachtungsthätigkeit bereits zugrunde lägen, dieselbe auf die wichtigen Punkte hin richteten und so zu dem gesuchten Resultate führten. Dieser Weg hat wegen des Mangels einer allgemein anerkannten methodischen Grundlage der Psychologie bisher im Allgemeinen nicht betreten werden können; nur in einzelnen Fällen liegen Versuche in diese Richtung vor, wie z. B. Darwin[y] bei seinen Forschungen über den Ausdruck der Gemüthsbewegungen[4] das Spezialproblem des Erröthens durch ganz specielle Formulirungen der von einer beträchtlichen Anzahl von Reisenden zu beantwortenden Fragen einer wahrhaft methodischen Lösung nahe gebracht hat. Was aber andrerseits die Statistik anbetrifft, so sind die psychologischen Vorgänge, welche sie überhaupt zahlenmäßig zu registriren vermag, derartig complizirter und in so verschiedener Weise zustande kommende Endresultate, daß von dieser summirenden Betrachtung eine Einsicht in die seelischen Grundprocesse nimmermehr zu erwarten steht. Die relativen Regelmäßigkeiten und Abhängigkeitsverhältnisse, welche man für Willens|[z]entschlüsse wie Selbstmorde, Heirathen und Verbrechen[5] nachweist, setzen sich aus psychologisch so sehr differenten Fällen zusammen, das gerade die Psychologie gegen deren Summirung viel eher zu protestieren, als dieselbe zu benutzen hat. Für die Statistik mag es gleichgiltig sein, welche Gründe den einen, welche den anderen zum Selbstmorde getrieben, für sie ist es eben Selbstmord No x und Selbstmord No x + 1; für die Psychologie läge in diesem Falle das Interesse gerade auf der anderen Seite, zu begreifen, wieso verschiedene psychische Bedingungen schließlich zu demselben brutalen Ende geführt haben. Und in der Wahrscheinlichkeitsrechnung und in der Statistik ist allemal durch den Verzicht auf die individuelle Eigenthümlichkeit der einzelnen Fälle bedingt[aa]: und gerade diese ist bei den Vorgängen der Willensentscheidung für die Psychologie die Hauptsache. Sie hat darum, wie später noch genauer zu zeigen ist, ein gegentheiliges Interesse daran, daß nicht verschiedenartige seelische Prozesse vermöge eines nur äußerlich[ab] ähnlichen Ausganges unter eine und dieselbe polizeiliche Rubrik auch wissenschaftlich gestellt werden.
Alles dies beweist, auf wie falschen Wege die Psychologie ist, wenn sie meint, die ehemalige Mangelhaftigkeit ihres empirischen Wissens lediglich durch die Masse der Thatsachen, welche sie aufsammelt, wieder gut machen zu sollen. Auch von den Thatsachen der Beobachtung gilt es, daß man sie wägen soll und nicht bloß zählen. Der wahrhafte wissenschaftliche Empirismus ist nicht die gedankenlose Sammelwuth, sondern eine Methode der Beobachtung und eine systematische Arbeit immanenter Erklärung.[ac] Das ist die Kehrseite der Sache, welche der Kurzsichtigkeit derjenigen entgegengehalten werden muss, die nach Empirie sich immer noch heiser schreien, wo Niemand sie mehr vernachlässigt; das ist der Punkt, in welchem unsre erfahrungsweise Zeit von der systematischen Energie der metaphysischen Vergangenheit noch gar viel zu lernen hat. Und wenn jene Vergangenheit darin fehlte, daß sie kein anderes System besaß, als dasjenige einer willkürlichen Hypothese der Erklärung, so gebührt uns nicht planloses Tasten nach beliebigen Thatsachen, sondern eine systematische Arbeit nach einer Methode der Forschung. Der Gedanke systematischer Einheit[ad] ist dem wissenschaftlichen Leben wesentlich und unerlässlich. Die metaphysischen Wissenschaften glaubten ihn in einem Realprincip der Erklärung[ae] zu besitzen; die empirischen Wissenschaften müssen ihn finden in einem Formalprincip der Methode[af]. Solange die Wissenschaft nicht einen einheitlichen Gesichtspunct der sachlichen Erklärung gefunden hat, von welchem aus sie alle Thatsachen ihres früher gewonnenen Wissens deductiv zu entwickeln vermag, solange bedarf sie als Basis ihrer Einheitlichkeit einer Methode des Forschens, an deren Hand sie jene sachliche Einheit sucht. Jede empirische Wissenschaft bedarf, um in kantischen Ausdrücken zu reden, eines regulativen Princips, solange ihr das constitutive noch fehlt.[ag] Wenn deshalb die empirische Psychologie den Seelenbegriff als eine unerwiesene Hypothese fahren läßt, so muß sie selbst sich eine neue Seele schaffen in einer sicher bestimmten Methode. |[ah]
Um aber diese zu bestimmen, darf man sich durch die allgemeinen Worte „Erfahrung“ und „Induction“ nicht abspeisen lassen. Daß „alle menschliche Erkenntniß von der Erfahrung anhebt“[6] und daß alle Einsicht in den Zusammenhang von Thatsachen nur durch das Aufsteigen vom Besonderen zum Allgemeinen gewonnen werden kann, gilt uns als ein selbstverständlicher und unbestrittener Satz: was wir wissen wollen, ist vielmehr bei jeder einzelnen Wissenschaft, wie mit Rücksicht auf ihren besonderen Gegenstand diese Erfahrung wissenschaftlich angestellt, und wie mit derselben Rücksicht der Gewinn allgemeiner Sätze wissenschaftlich erzielt werden soll. Denn nur für das deductive Schlußverfahren bestehen jene rein formalen Gesetze der Logik, welche für jeden beliebigen Inhalt die gleich allgemeine und nothwendige Geltung haben: der Name der inductiven Methode ist dagegen[ai] eine Zusammenfassung zahlreicher sehr verschiedener Erkenntnißweisen, von denen jeder einzelne durch die besondere Natur des dadurch zu begreifenden Gegenstandes bedingt ist. Was ihnen allen gemeinsam ist, beschränkt sich auf einige logische Bestimmungen von so magerer[aj] Allgemeinheit, daß sich daraus ohne die genaue Kenntniß des wirklichen Lebens der einzelnen Wissenschaften eine „Theorie der Induction“ nicht ableiten läßt. Hierin liegt auch[ak] der Grund, weshalb dieser wichtigste Theil der Logik seiner vollständigen und abschließenden[al] Ausbildung noch immer harrt, während sein deduktiver[am], rein formaler[an] Teil im Wesentlichen mit Einem Schlage schon von Aristoteles aufgestellt werden konnte.
Es liegt deshalb eine vollkommen unberechtigte Verwischung des Eigenthümlichen der einzelnen Wissenschaften darin, wenn man in neuerer Zeit die für gewisse Naturwissenschaften gültige Erkenntnisweise als eine Universalmethode für alle empirischen Wissenschaften[ao] geltend zu machen sucht. Es ist das der gleiche Uebergriff, wie ihn ehemals die Metaphysik beging, indem sie alles Wissen auf ihrem deductiven Wege zu erzeugen vorgab. Freilich bilden alle Wissenschaften Ein großes Reich geistiger Arbeit: allein neben der Wirksamkeit sehr weniger allgemein geltender Grundgesetze hat jede Provinz in demselben den Anspruch auf vollkommene Selbstverwaltung und autonomische Entwickelung. Der Fanatismus allgemeiner Centralisation, in welcher Form er auch auftreten möge, metaphysisch oder naturwissenschaftlich, ist in allen Fällen gleich wenig berechtigt und gleich wenig fruchtbar. Unter ihm aber hat gerade auch die Psychologie in empfindlichster Weise gelitten.
Denn es war für ihren Fortschritt keine günstige Fügung der Umstände, daß in der Zeit, wo sie sich von der Metaphysik zu emancipieren begann, sie bereits andere Wissenschaften vorfand, denen diese Befreiung früher geglückt war und die nun schon im Vollbesitz einer eigenen Methode auf einen Schatz von Erfolgen pochen durften. Dadurch gerieth sie in Gefahr, statt an dem Entwurfe einer eigenen Methode zu arbeiten, sich jene anzueignen, welche mit ihr die allgemeine Tendenz der Erfahrung und des inductiven Fortschrittes theilte[ap], und so kam es, daß die Psychologie, aus der Sklaverei der Metaphysik in diejenige der Naturwissenschaft[aq] fallend, niemals auf die eigenen Füße sich zu stellen vermochte.
Und doch wurde es dem Einsichtigen bald klar, daß sie dieser Methode zu folgen eben |[ar] vermöge ihres Gegenstandes völlig außerstande ist. Denn der methodische Werth der naturwissenschaftlichen Erfahrungen besteht überall in meßbaren Quantitätsverhältnissen, und die beweisende Kraft der naturwissenschaftlichen Inductionen ruht überall auf der Grundlage mathematischer Berechnungen: dieses mathematische Element aber fehlt den Erfahrungsthatsachen der Psychologie und deshalb auch den in ihr angestrebten Inductionen. Das war bekanntlich der Grund, aus welchem Kant, für den die Newton’schen Principien eine feste Ueberzeugung bildeten, der Psychologie den Character einer Naturwissenschaft im wahren Sinne des Wortes absprach. Später hat Herbart[as] aufgrund einer Reihe von teils metaphysischen teils empirischen Voraussetzungen diese vermißte Einführung des mathematischen Elementes in die Psychologie versucht, ohne derselben eine dauernde Geltung verschaffen zu können, da abgesehen von der Angreifbarkeit jener Voraussetzungen auch die von ihm beabsichtigte Art der Einführung des mathematischen Calcüls und die[at] Grundlage seiner Rechnungen berechtigte Einwürfe erfuhren.
Mit ausgebreiternem[au] Erfolge und mit scheinbar viel größerem Rechte hat sich eine directe Anlehnung der Psychologie an die Physiologie[av] vollzogen. Die seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts mit immer größerer Genauigkeit gewonnene Einsicht in den Zusammenhang leiblicher und seelischer Functionen legte die Hoffnung nahe, daß man diese durch jene werde begreifen lernen; eine leichtfertige Metaphysik, der Materialismus, zögerte nicht dem psychischen Leben[aw] alle Selbständigkeit des Seins und der Wirksamkeit abzusprechen, und der Begriff der Psychologie als einer exacten Naturwissenschaft schien sich in demjenigen der Nervenphysiologie aufzulösen. Selbst, wo man vorsichtig genug war, solche[ax] metaphysischen Voraussetzungen abzulehnen, hat diese Ansicht bei denjenigen Forschern, deren wissenschaftliche Gesichtspuncte von der Naturwissenschaft herkommen, auch in unserer Zeit ihre bestechende Kraft behalten. Die Sicherheit, mit welcher namentlich die Physiologie der Sinnesorgane die „psychophysischen“ Beziehungen festzustellen und auf diese Weise auch gewisse seelische Thatsachen einer Art wenigstens relativer Messung unterwerfen zu können schien, sollte[ay] die Psychologie[az] auf den Boden der allgemeinen naturwissenschaftlichen experimentellen Beobachtung stellen, und in der Voraussetzung, daß aus der bloßen Combination dieser einfachen Elemente das Seelenleben besteht, hofft man eine „physiologische Psychologie“ gefunden zu haben, welche den Charakter einer exacten Naturwissenschaft trägt.
Dabei ist nur eins übersehen – das Wichtigste. So nöthig nämlich der Einblick in den gesetzmäßigen Ursprung der Elemente des psychischen Lebens ist, – das Interesse der Psychologie richtet sich vor allem auf die Erkenntniß der Bewegung, welche zwischen denselben stattfindet und das eigentliche Wesen der psychischen Lebendigkeit ausmacht. Denn nur in verbundener und mannigfach vermittelter Gestalt treten jene Elemente vor unsre Erfahrung. Und es ist ein voreiliger Schluß, zu meinen, daß, wenn die Physiologie sich mit der Untersuchung der Elemente beschäftigen kann, dieselben Methoden auch für die Erkenntniß ihrer Verbindungen ausreichen. Von einer allgemeinen physiologischen Methode der Psychologie könnte deshalb nur die Rede sein, wenn die Berechtigung derselben gerade für die wichtigsten psychologischen Thatsa|[ba]chen, diejenigen der Vereinigung der psychischen Elemente zweifellos festgestellt wäre. Eine besonnene Betrachtung muß diese Berechtigung durchaus verneinen und deshalb in der Ausdehnung der physiologischen Methode auf die im eigentlichen Sinne psychologischen Fragen[bb] den verfehlten Versuch einer Grenzverletzung zwischen den beiden Wissenschaften zurückweisen[bc]. Wenn gleichwohl die sich als physiologisch characterisirende Psychologie mit scheinbarem Erfolge auch die complicirteren Thatsachen, wie diejenigen der Wahrnehmung, der[bd] Association, der Apperception u. s. w. behandelt, so geschieht das nicht so wohl mit Benutzung der physiologischen Methode, als vielmehr unter stillschweigender Anerkennung der specifisch psychologischen Erfahrung und der von dieser aus schon früher von den Psychologen festgestellten Erkenntnisse. Auf dem Grenzgebiete der Erforschung der Sinnesempfindung sind sich beide Wissenschaften begegnet und haben sich mit entschiedenstem Erfolge miteinander verquickt: was würden aber die Physiologen sagen, wenn darauf pochend der Psychologe nach seiner Methode den Mechanismus der Athembewegung erkannt zu haben behauptete, weil er weiß, wie verschieden dem Menschen beim Einziehen und beim Ausstoßen der Luft, wie verschieden ihm bei normaler und bei anomaler Athmung zu Muthe ist?[be] Und das wäre doch nur gerade eben so kühn, wie wenn man die Thatsachen des Bewußtseins aus Beobachtung von Nervenzuständen begriffen zu haben vorgibt.
So unberechtigte Ansprüche auf die Beherrschung der gesamten Psychologie würden jedoch von Seiten der naturwissenschaftlichen Auffassung niemals haben erhoben werden können, wenn jene auf ihrem eignen Gebiete sattelfest gewesen wäre und wenn sie das, was oben als specifisch psychologische Erfahrung[bf] bezeichnet wurde, klar und weniger angreifbar hätte hinstellen können, als es die vage und streitige Lehre vom „inneren Sinn“[bg] zu thun vermochte. Wer jetzt für die Psychologie ein eigenes Gebiet der Erfahrung in Anspruch nimmt, welches der Art und dem Inhalt nach völlig bestimmt und abgegrenzt, eine eigne Wissenschaft für seine Bearbeitung erfordert[bh], sieht sich einer Reihe von schwerwiegenden Einwürfen bedeutender Forscher ausgesetzt, – Einwänden, welche in der That vollkommen in der Natur der Sache begründet sind. Die Leichtigkeit der Täuschung, welche der Selbsterfahrung auch des wissenschaftlich gebildetsten Menschen anhängt, wird zu verhängnißvoller Schwierigkeit durch die Uncontrolirbarkeit[bi] dieser Erfahrungen, und die Vermischung mit Erinnerungen, ohne welche dieses selbsterkennende Wissen nicht möglich ist, droht selbst von jenem Reste von Zuverlässigkeit noch das meiste abzuziehen. Ganze Klassen psychischer Phänomene entziehen sich ihren Begriffen nach jenem Zustande ruhiger Reflexion, der allein Beobachtung und richtige Selbsterkenntnis möglich macht. Und auf so schwankenden und wie es scheint durchaus nicht immer das ganze Gebiet umfassenden Grundlagen – soll weiter gebaut werden? Was für eine Erkenntnis von Gesetzen soll aus so unsicheren und unbestimmten Thatsachen gewonnen werden, zumal auf einem Gebiete, welches die sichtende und abklärende Anwendung mathematischer Bestimmungen in keiner Weise gestattet? So scheint es, als müsse diese Psychologie der inneren Erfahrung auf eine Art von belletristischer Ausführung vager und unklarer Allgemeinheiten oder auf willkürliche Versuche individueller Phantasien hinauslaufen, jedenfalls aber von dem Range einer „exakten |[bj] Wissenschaft“ ausgeschlossen bleiben. –
Was in diesen vorläufigen Bemerkungen über die verschiedenen Richtungen angedeutet wurde, in denen man die Begründung der empirischen Psychologie versucht hat und weiter versucht, wird nach allen Seiten hin im Folgenden seine Begründung, Ausführung, Untersuchung und Beantwortung finden. An dieser einleitenden Stelle konnte die kritische Uebersicht derselben nur den Zweck haben, durch Aufzeigung der[bk] Mannigfaltigkeit von Standpunkten jene obige Behauptung zu erhärten, daß das allgemeine Bekenntniß zur empirischen und inductiven Methode für die Begründung einer wissenschaftlichen Psychologie nicht ausreicht. Sie sollte außerdem zeigen,[bl] daß jeder Schritt darüber hinaus schon auf streitiges Gebiet führte. Fast nicht minder getheilt, als einst die metaphysischen Parteien mit ihren verschiedenen Seelenbegriffen, sind jetzt die empiristischen Parteien mit ihren Methoden. Sie haben vor jenen zweifellos den Vorzug, daß sie alle, jede in ihrer Weise und in ihren Grenzen, an der Ausbreitung des psychologischen Wissens mit unverkennbarem Erfolge arbeiten. Aber je mehr die Ergänzung, welche sie auf diese Weise für einander bilden, sich auf das thatsächliche Wissen beschränkt, umso lebhafter ist für die Psychologie das Bedürfnis, sich ihrer einheitlichen Aufgabe als einer erklärenden Wissenschaft[bm] bewußt zu bleiben und aus der bunten Zerstreutheit[bn] ihrer empirischen Auszweigungen sich zur systematischen Einheit eines methodischen Princips zusammenzufassen. Schon droht ihr auf der einen Seite die völlige Unterwerfung unter die Ansprüche der physiologischen Forschungen, auf der anderen Seite das traurige Geschick, in einem Wust unverstandener Thatsachen sich wie im Sande zu verlaufen: und nur die Besinnung auf den innersten Kern ihrer eigenthümlichen Aufgabe kann ihr die Selbstständigkeit retten, die ihr gebührt. |[bo]
Erster Theil[bp].
Methodologie der Psychologie.[bq]
Die empirische Psychologie der Gegenwart, die „Psychologie ohne[br] Seele“[7], wie sie von einem ihrer berufensten Kritiker genannt worden ist, sieht sich nicht in der Lage, von einer Definition der „Seele“[bs] auszugehen und hat vielmehr ein gegentheiliges Interesse daran, daß, wo Jemand sei es woher immer einen Begriff vom Seelenwesen mitbringt, er ihn an der Schwelle ihrer voraussetzungslosen Untersuchungen zurücklasse und wenigstens vorläufig suspendiere. Nichtsdestoweniger, ja um so mehr erwächst ihr aber die Aufgabe, ihr Forschungsgebiet durch eine genaue und feste Begriffsbestimmung abzugrenzen, damit sie einerseits ihren Anspruch, eine selbständige Wissenschaft mit einem nur ihr zukommenden Umfange von Gegenständen der Erkenntniß zu sein, wissenschaftlich rechtfertige und andrerseits aus dieser grundlegenden Definition die Nothwendigkeit der eigenthümlichen Behandlung ihrer Objecte methodisch ableitet.
Diesem doppelten Zwecke scheint es jedoch wenig zu entsprechen, wenn man die neuere Psychologie gewohnt sieht, in der anfänglichen Bestimmung ihrer Aufgabe den Begriff der Seele lediglich aus der substantivischen in die adjectivische Form zu übersetzen. Indem man das metaphysische Seelenwesen dahingestellt sein lassen will, wird die Psychologie als die Wissenschaft von den seelischen Thätigkeiten oder, wie man sich lieber ausdrückt, als die „Wissenschaft von den psychischen Erscheinungen“[bt] definirt. Der letztere Ausdruck hat einen erkenntnistheoretischen Nebensinn, der an andrer Stelle noch ausführlicher behandelt werden wird, um dessen willen er am Anfange der Untersuchung nicht als glücklich bezeichnet werden darf. Denn das Wort „Erscheinung“ läßt unwillkürlich die Beziehung auf ein Ding-an-sich vermuthen welches dahinter stecke; dieser Ausdruck schließt die Annahme eines Seelenwesen nicht nur nicht aus sondern scheint andeuten zu sollen, daß die empirische Psychologie für die Erkenntniß desselben unzulänglich, sich mit der Erforschung seiner Erscheinungen begnügen wolle. Aber selbst, wenn man sich dieses Nebengedankens entschlägt und als den Gegenstand der Psychologie denjenigen Inhalt unserer Erfahrungen bestimmt, welchen wir „seelisch“ oder „psychisch“[bu] nennen, so genügt doch auch dies noch nicht. Für das gewöhnliche Bewußtsein freilich mag diese Begriffsbestimmung insofern ausreichen, als man mit ziemlicher Sicherheit darauf rechnen kann, dass dabei ungefähr der richtige Kreis von Pro|[bv]blemen verstanden werden wird: aber dies gewöhnliche Bewußtsein ist weder im Stande, über den gemeinsamen Character der unter dem Begriff des „Psychischen“ fallenden Erfahrungen eine genügende Rechenschaft zu geben, noch auch dies Gebiet mit zweifelloser Sicherheit gegen andre abzustecken noch endlich für die wissenschaftliche Behandlung desselben irgend welche Folgerungen aus jener Definition zu ziehen.
Erstes Kapitel.[bw]
Der Begriff des Psychischen.[bx]
Fragt man nämlich, was denn eigentlich das Psychische sei, so wird man – zumal in der gewöhnlichen Denkweise – nicht leicht einer einfachen, schlanken Antwort begegnen, sondern sich etwa auf folgende Erwägungen hingewiesen finden: man möge sich vergegenwärtigen, wie man Vorstellungen habe und verknüpfe, wie sich an deren Inhalt Gefühle anschließen, wie daraus Wünsche und Entschlüsse zu eigner Thätigkeit hervorgehen u. s. f. In allen diesen Functionen, so verschieden sie auch sonst ausfallen möchten, sei doch ein Gemeinsames, und dies eben bezeichne man als „psychische Function“. Was nun freilich dies Gemeinsame eigentlich sei, können nicht so unmittelbar gesagt werden: aber es mache sich diese Zusammengehörigkeit alle der erwähnten Vorgänge unter den gemeinsamen Begriff des Psychischen mit so sichrer Evidenz geltend, daß darüber niemand im Zweifel sein könne und somit auch jeder wissen müsse, was er unter einer Wissenschaft von den psychischen Erfahrungen zu verstehen hat.
In diesem Verhältnisse befindet sich in der That das ursprüngliche Bewußtsein zu der allgemeinen Vorstellung der Seelenthätigkeit. Es kann die letztere nicht durch Abstraction aus den einzelnen Arten gewonnen haben; denn es vermag kein gemeinsames Merkmal anzugeben, welches sich in allen diesen Arten fände und auf welches die Abstraction reflectiert haben müsste: und so bleibt ihm, wenn es sagen soll, was es unter psychischer Thätigkeit versteht, nur die Aufzählung der einzelnen Arten und der Appell an ein unbestimmtes Gefühl von ihrer Zusammengehörigkeit übrig.
Es ist auch die Vorstellung des Psychischen durchaus nicht die Einzige, bei der wir uns in dieser Lage finden. Wenn wir Roth, Grün, Blau u. s. w. unter der allgemeinen Vorstellung „Farbe“ zusammenfassen, so ist in diesem absolut einfachen und unteilbaren Qualitäten kein gemeinsames Merkmal enthalten, welches nun etwa, wie das sonst bei allgemeinen Begriffen der Fall ist, den Inhalt eines abstrahierten Gattungsbegriffs „Farbe“ ausmachte, und wenn man den ungeschulten Verstand fragt, was Farbe sei, so wird der in ganz ähnlicher Weise mit der Aufzählung der Arten Roth, Grün, Blau u. s. w. antworten. Die neuere Logik[by] ist mit Recht auf diese nicht durch Abstraction gewonnenen Collektivvorstellungen[bz] aufmerksam geworden und hat sie als „Allgemeinvorstellungen“ den eigentlichen „Gattungsbegriffen“ gegenübergestellt, von denen sie psychologisch und logisch, nach Ursprung und Gebrauch wohl unterschieden werden müssen. So ist denn auch der in |[ca] der gewöhnlichen Ausdrucksweise umlaufende Begriff des Psychischen als ein solcher Collektivname und als eine unbestimmte Allgemeinvorstellung anzusehen, welche nicht durch gemeinsame Merkmale ihrer Arten definirt, sondern nur durch Enumeration derselben aufgewiesen werden kann.
Bliebe es nun bei dieser „unsagbaren“ Allgemeinheit der Vorstellung von der psychischen Thätigkeit, so würde dieselbe der wissenschaftlichen Bearbeitung keinen Ansatzpunct bieten können. Denn da man dabei ausdrücklich auf das Bewußtsein eines characteristischen Merkmals verzichtet, an welchem man jede psychische Function als solche erkennen könnte, so dient diese Allgemeinvorstellung zwar vielleicht zu einer vorläufigen und unbestimmten Bezeichnung, nicht aber zu einer wissenschaftlich festen und klaren Absteckung des Gebiets der Psychologie. Und da derselben jeder bestimmte Inhalt fehlt, so kann man nicht hoffen, von ihr aus zur Begründung einer psychologischen Methode zu gelangen.
Die erste Aufgabe besteht somit darin, jener nur unbestimmt andeutenden Bezeichnung einen festen Sinn unterzuschieben, welcher dem weiteren Fortschritt der vorbereitenden Untersuchungen zugrunde gelegt werden kann.
1.[cb]
Dem ersten Bedürfniß der Abgrenzung bietet sich nun zunächst eine negative Definition dar. Zwar warnt die Logik mit Recht davor, Etwas durch dasjenige zu definieren, was es nicht ist, weil man dadurch der ganzen Unfruchtbarkeit der sogenannten unendlichen Urtheile anheimfällt: allein die negative Definition gewinnt überall da einen wenn auch nur vorbereitenden Erkenntnißwerth, wo sie auf eine zweiteilige, kontradictorische Disjunction begründet ist, und dieser relativ günstige Fall scheint vorzuliegen, wenn man das Psychische als das Nicht-Physische[cc] bestimmt. Nicht nur nämlich fällen wir über jede psychische Tätigkeit das Urtheil, daß sie als solche nicht physischer Natur sei, sondern wir gehen auch an die Betrachtung der Dinge mit der Voraussetzung heran, daß alle Erscheinungen möglicher Erfahrung entweder als psychische oder als physische sich ausweisen werden, sodaß wir, des tertium non datur[cd] von vornherein gewiß, in der Erkenntniß, daß irgend eine Thatsache der Erfahrung nicht physischer Natur ist, unmittelbar auch die zweite besitzen, wonach sie dem psychischen Gebiete angehört. Denn Etwas, was weder physisch noch psychisch wäre, mag zwar vielleicht hypothetisch denkbar sein, ist aber jedenfalls in der Erfahrung niemals gegeben; und so theilt sich das ganze Gebiet „möglicher Erfahrung“[8] in diese beiden Gebiete der psychischen und der physischen Thatsachen.
Allein die Richtigkeit dieser Disjunction, nicht einmal gänzlich unangegriffen, beweist noch weniger für ihre Brauchbarkeit. Sie würde uns überhaupt nicht weiterhelfen, wenn nicht das eine ihrer Glieder eine bevorzugte Stellung in unserm Wissen einnähme. Wenn wir nur wüßten, daß Physisches nicht psychisch, Psychisches nicht physisch ist, so bliebe dieser Zirkel von Negationen völlig werthlos. Er |[ce] gewinnt eine Bedeutung erst dadurch, daß das eine der Glieder uns von vornherein als positiv bekannt zu gelten pflegt. Denn das menschliche Denken, immer und überall vom Sinnlichen anhebend, betrachtet zunächst die Körperlichkeit als ein völlig bekanntes und gewohntes, und so erscheint ihm die Einsicht in die Unkörperlichkeit gewisser Functionen schon als eine neue und wichtige Erkenntniß. So ist denn auch historisch das Bedürfniß nach einer Psychologie als gesondertem Wissenszweige aus der Ueberzeugung, dass die Seele etwas Immaterielles[cf] sei, entsprungen, und die ersten Definitionen derselben bemühen sich darum, ihr alle die Eigenschaften, welche der Körperlichkeit am auffallendsten zufallen, ausdrücklich abzusprechen. So bezeichnete Socrates, soviel wir aus Xenophon entnehmen dürfen, die Seele als das Unsichtbare; so fügte Platon andre negative Bestimmungen hinzu, wie das Unzusammengesetzte[cg], das Unzerstörbare: und erst von dieser Einsicht in die Immaterialität gewisser Erfahrungsgegenstände datirt die wissenschaftliche Psychologie.
Wollte man dieselbe hiernach als die Wissenschaft von der immateriellen Vorgängen bezeichnen, so würde ein Widerspruch nur von Seiten der materialistischen Theorie zu erwarten sein, welche die Ansicht durchzusetzen sucht, daß in dem psychischen Erscheinungen auch nur eine, wenn auch besonders complicirte und bisher unverstandene Art der physischen zu sehen sei. Allein der Materialismus ist eine Metaphysik, welche im besten Falle den Abschluss, niemals aber den Ausgangspunct der Psychologie bilden kann und im Beginne derselben so gut wie jede andere Metaphysik abgelehnt werden muss. Er selbst sieht sich genöthigt, den Unterschied der physischen und der psychischen Thatsachen als einen wenigstens scheinbar bestehenden anzuerkennen, und selbst wenn er deshalb Recht mit seiner Behauptung hätte, daß diese unserer Weltauffassung jetzt ganz allgemein geläufige Disjunction nur eine im Laufe der Zeiten groß gezogene Täuschung sei, so bliebe doch dies unmittelbare Bewußtsein für’s Erste noch neben ihm bestehen. Denn dasselbe hat sich bisher durch keine noch so fein gesponnene Deduction überreden lassen, daß in Thätigkeiten wie Empfindung, Vorstellung, Urtheil, Gefühl, Wunsch, Wille, Nachdenken u. s. f. etwas den räumlichen Bewegungen der Körper wesentlich Gleichartiges vorliege, sondern es hält noch immer an der Ueberzeugung fest, welche dem Materialismus allmählich auch von rein naturwissenschaftlicher Seite entgegengehalten wird, daß selbst die feinste Form und Complication der räumlichen Bewegung auch mit der einfachsten Stufe des psychischen Lebens so völlig disparat bleibt, wie es nur überhaupt zwischen verschiedenen Inhaltsbestimmungen unserer Vorstellungen möglich ist. Wäre also der Materialismus als erklärende Theorie der Wissenschaft bewiesen (wovon er sehr weit entfernt ist), so bliebe er dem |[ch] unbefangenen Bewußtsein gerade so fremd und paradox, wie etwa die copernikanische Theorie oder wie andrerseits die idealistische Weltansicht, welche den fundamentalen Dualismus einer völligen Unterscheidung physischen und psychischen Erfahrungsinhaltes von der umgekehrten Seite her aufzuheben trachtet.
Die durchgängige Unvergleichlichkeit physischer und psychischer Thatsachen[ci] ist allerdings eine Grundthatsache unseres Bewußtseins und als solche unbestreitbar, wenn man aus ihr keine metaphysischen Folgerungen zieht. Sie ist deshalb auch als Ausgangspunct für die Bestimmung der Aufgabe der empirischen Psychologie von einer großen Reihe von Forschern gewählt worden, unter denen Beneke[cj] in Deutschland, Mill[ck] in England als hauptsächliche Vertreter dieser Ansicht angeführt werden mögen. Es mag auch gern zugestanden werden, daß das allgemeine Bewußtein diese Unterscheidung mit völliger Sicherheit ausführt und deshalb in jedem einzelnen Falle sich über die Zugehörigkeit einer besonderen Erscheinung zu dem einen oder dem anderen Gebiete nicht täuscht: wissenschaftlich sicheren Grund fänden wir jedoch in dieser Unterscheidung nur dann, wenn ein bestimmtes, positives Kriterium angegeben werden könnte, wonach wir in allen Fällen diese Unterscheidung auszuführen auch die Berechtigung hätten. Dies ist nun, solange wir nur auf den Inhalt der Vorstellungen reflectieren, nicht der Fall, und darum stoßen wir nur auf die Kehrseite dessen, was oben über die allgemeinen Vorstellung des Psychischen bemerkt werden mußte.
Wie die ursprünglichen Collektivvorstellungen nicht auf gemeinsame Merkmale, so stützen sich die ursprünglichen Unterscheidungen nicht auf bewußte Kriterien. So wenig als wir ein gemeinsames Merkmal aller Farben oder aller Töne aus ihrem Inhalt schöpfen können, so wenig können wir auch sagen, woran wir dem Inhalte nach[cl] im Allgemeinen Farben und Töne voneinander unterscheiden: und so wenig als wir das gemeinsame Merkmal aller Thätigkeiten bestimmen können, ebensowenig sind wir uns eines allgemeinen Kriteriums bewußt, wonach wir in allen Fällen Psychisches von Physischem unterscheiden, obwohl wir alle diese Unterscheidungen mit derselben Sicherheit fortwährend ausführen, wie jene Zusammenfassung des Einzelnen zu Gruppenbezeichnungen. Es stünde vielmehr gerade der Psychologie zu, diese unmittelbare und ihres Grundes sich nicht bewußte Unterscheidung über das in ihr waltende Kriterium aufzuklären. Und so führt auch diese allerdings tatsächlich gegebene Unterscheidung des Physischen und des Psychischen immer doch wieder auf das vorige Bedürfniß eines positiven Allgemeinbegriffs vom Psychischen zurück.
Allein selbst wenn wir uns mit der allgemeinen Bestimmung, nicht physisch zu sein, mache das Wesen der psychischen Thatsachen aus, zufrieden geben und die damit gegebene[cm] Abgrenzung des Forschungsgebiets der Psychologie für ausreichend halten wollten, so besäßen wir darin doch immer noch nicht die geringste Andeutung darüber, wie wir dies Immaterielle erforschen sollten; die |[cn] zweite Aufgabe der gesuchten Definition, der Ausgangspunct einer methodologischen Untersuchung zu sein, bliebe völlig unerfüllt. Aus dem Begriffe des „Immateriellen“ folgt auch nicht der geringste positive Gesichtspunct für die Erkenntnißweise desselben.[co] Den Beweis davon liefert gerade die platonische Psychologie, welche deshalb ein eigne psychologische Methode nicht besaß und sich an Stelle derselben mit einer unklaren Mischung von willkürlich aufgegriffenen und verwendeten Beobachtungen einerseits und metaphysischen Voraussetzungen, Analogien und Phantasien andrerseits begnügen mußte.
Es half aus demselben Grunde Nichts, an die Stelle jener rein negativen Beziehung des Psychischen zum Physischen, nämlich der absoluten Unterscheidung und des contradictorischen Gegensatzes, eine positive Beziehungsform zu setzen und somit das Psychische statt durch die bloße Immaterialität durch gewisse Verhältnisse zu characterisiren, in denen es sich zur körperlichen Welt befinden sollte. Zwar war es ein entschiedener Fortschritt, wenn Platon zu seinen negativen Begriffsbestimmungen der Seele die positive hinzufügte, sie sei das den Körper Beherrschende oder das sich des Körpers Bedienende, und wenn Aristoteles sie als die Entelechie des Leibes, als den in demselben sich realisirenden Zweckgedanken bestimmte. Indessen das[cp] gab höchstens eine Reihe von Veranlassungen, von physischen Vorgängen aus die ihnen entsprechenden psychischen zu suchen; aber wenn man eben wirklich[cq] nur wüßte, daß das Psychische etwas Anderes als das Physische ist und daß es sich an und in bestimmten körperlichen Thätigkeiten entwickelt, so bliebe man immer noch rathlos, wie man erfahren sollte, was denn nun dieses Immaterielle, welches sich am Materiellen gestalten soll, eigentlich selber sei. Das Psychische bliebe auf diese Weise überall[cr] der unbekannte Endpunct einer bekannten Beziehung, und wenn Aristoteles in der That nicht auf anderem Wege Etwas von der Seele gewußt hätte, als auf dem, welche jene Definition möglich gemacht hätte, so wäre sein schönes Buch περὶ ψυχὴς[9] ungeschrieben geblieben. In der principiellen und methodischen Auffassung des Psychischen[cs] ist daher das Alterthum über diese Unfähigkeit, dasselbe anders als durch Beziehungsbegriffe zu der vorher als bekannt vorausgesetzten Körperlichkeit zu denken, niemals hinausgekommen. –
Offenbar also theilt sich der gesammte Inhalt unserer Vorstellungen in diese beiden großen Hauptgebiete des Physischen und des Psychischen; was wir einem und demselben Gebiete zuschreiben, erscheint uns relativ vergleichlich und dabei völlig unvergleichlich mit jedem Inhalte, der dem anderen Gebiete angehört. Nun sind wir zwar überzeugt, daß diese Unvergleichlichkeit und jene relative Unvergleichlichkeit[ct] dem Inhalte unserer Vorstellungen selbst zukommen: allein, solange wir diesen Inhalt selbst durchforschen und zergliedern mögen, wir finden doch darin keine Gründe, Merkmale und Kriterien dafür, und so legt sich die Vermuthung nahe, daß der eigentliche Grund dieses unseres[cu] Verhaltens schließlich doch nicht in dem Inhalte, sondern in der Form der Vorstellung, daß er nicht ursprünglich in dem Gegenstand, sondern vielmehr in der Art, wie wir zu der Vorstellung desselben gekommen sind, enthalten sein müsse.
Die Analogie, welche wir schon mehrfach benutzten, lädt uns ein, dieser Vermuthung zu folgen und genauer nachzugehen. Bei Farben und Tönen setzen wir auch voraus, daß die Vergleichlichkeit der Glieder jeder Gruppe untereinander und die relative |[cv] Unvergleichlichkeit der beiden Gruppen mit einander, im Inhalte der Empfindungen selbst ihren Grund habe: allein Merkmale der Vergleichung und Kriterien der Unterscheidung anzugeben, verbietet in diesem Falle schon die absolute Einfachheit der verglichenen und unterschiedenen Vorstellungsinhalte. Schlüge uns jedoch Jemand die Definition vor, Farben seien die Empfindungsqualitäten, welche durch den Sehnerv, Töne diejenigen, welche durch den Gehörnerv, vermittelt werden, so würden wir sie nicht nur richtig finden, sondern auch zugestehen müssen, daß wir darin ein aussagbares Kriterium der Vergleichung und Unterscheidung gefunden hätten. Nur darüber müßten wir uns dabei klar bleiben, daß dieses Kriterium dem Inhalt der verglichenen und unterschiedenen Vorstellungen selbst völlig fremd ist und sich lediglich auf die Art bezieht, wie wir zu diesen Vorstellungen gekommen sind.
Ein Aehnliches scheint sich nun in der That bei jenen umfassenderen Gruppen des Physischen und des Psychischen zu finden: auch für sie haben wir uns gewohnt, zwei verschiedene Erkenntnißweisen[cw] anzunehmen, und die empirische Psychologie der neueren Zeit entsprang zunächst diesem Gedanken, welcher jenen beiden Hauptgruppen des Erfahrungsinhalts, dem Physischen und dem Psychischen, eine analoge Duplicität von Erfahrungsweisen, nämlich diejenige des äußeren[cx] und diejenige des inneren Sinnes[cy] gegenüberstellt und auf Grund dieser Unterscheidung die Psychologie als die Erfahrungswissenschaft des inneren Sinnes[cz] bestimmt.
2.[da]
Wenn Socrates der Erste gewesen ist, bei dem sich sozusagen das wissenschaftliche Auge der Menschheit nach innen aufschlug, so gebührt der platonischen Philosophie die eminente Culturbedeutung, die fundamentale Differenz des Physischen und des Psychischen zur vollen, bewußten Klarheit gebracht zu haben, und nachdem die immaterielle Welt, welche sie jenseits der materiellen Welt als das wandellose Reich der ewigen Wesenheiten lehrte, zum Gegenstande der religiösen Sehnsucht der späteren Jahrhunderte geworden war, bemühte sich das christliche Denken, diesen Gegensatz von „Natur[db] und Geist“ practisch und theoretisch so scharf[dc] und so principiell als möglich zu fassen. In der Entwickelung des mittelalterlichen Denkens vertiefte sich daher die Kluft zwischen dem Physischen und dem Psychischen immer mehr: und daß die wieder erwachende Wissenschaft trotz ihrer methodischen Auflehnung gegen die Scholastik doch von derselben eben diesen fundamentalen Gegensatz in voller Schärfe übernahm, zeigt sich nicht nur in dem Dualismus von denkenden und ausgedehnten Substanzen, welche die cartesianische Metaphysik aufstellte und der Spinozismus nur scheinbar überwand, nicht nur in der Vorliebe, mit welcher sich das 17. und das 18. Jahrhundert an Hypothesen über den Zusammenhang von |[dd] Leib und Seele abmühten, sondern vor Allem auch darin, daß der Erste, welcher die Philosophie aus dem metaphysischen auf den erkenntnißtheoretischen Standpunct umzulegen begann, Locke[de], die gesammte Erfahrung in zwei Gebiete zerlegte, welche er durch den Gegensatz von Sensation und Reflexion oder denjenigen des äußeren und des inneren Sinnes bezeichnete. Dabei trat diese Unterscheidung schon bei ihrem Urheber ganz unbefangen mit der Voraussetzung[df] desselben erkenntnißtheoretischen Anspruchs auf, welche man noch jetzt mit diesen Bezeichnungen überall verbindet, daß nämlich der äußere Sinn uns andere, und zwar physische Dinge, resp. deren Eigenschaften, Zustände und Thätigkeiten, der innere dagegen uns selbst, d. h. unsre psychischen Eigenschaften, Zustände und Thätigkeiten zum Bewußtsein bringe.
Seit Locke[dg] ist nun diese Unterscheidung mit mannigfachen Wendungen wiederholt und mit Vorliebe der empirischen Psychologie zu Grunde gelegt worden; in Deutschland fand sie ihre entscheidende Einführung durch Kant’s transcendentale Aesthetik. Auffallend ist es nur, daß, so oft diese scheinbar so einfache und einleuchtende Unterscheidung eingetreten ist, sie stets nicht nur mannigfach Widerspruch fand, sondern auch immer bald wieder ihre eignen Grenzen verwischte. Diese Flüssigkeit der Grenzbestimmung zwischen äußerem und innerem Sinn läßt geheime Schwierigkeiten in derselben vermuthen, und es wird sich verlohnen, denselben an der Hand der Geschichte nachzugehen.
Schon bei Locke[dh] selbst fehlt es in dieser Hinsicht nicht an Unklarheiten und Unsicherheiten. Vorstellungen, welche uns von körperlichen Organen, wie den fünf Sinnen, zugeführt werden, sollten doch in jedem Falle dem äußeren Sinn angehören: nun war aber eine der werthvollsten Errungenschaften der Locke’schen[di] Untersuchungen gerade die Befestigung der schon früher geahnten und zuerst von Descartes[dj] klar ausgesprochenen Einsicht, daß die sinnlichen Qualitäten nur vermöge einer allgemeinen Täuschung für Abbilder der äußeren Wirklichkeit gehalten werden, in Wahrheit aber nur ein Bewußtwerden gewisser Empfindungszustände bedeuten, in welche wir durch die Einwirkung der Dinge versetzt werden. Danach wären also alle die sog. secundären Qualitäten, Farbe, Töne, Gerüche u. s. f. Empfindungen nicht fremder, sondern unserer eignen Zustände, somit also Thätigkeiten des inneren Sinnes, und doch werden wir uns nicht ausreden lassen, ihren Inhalt zur physischen Welt zu rechnen, sodaß demnach die beiden Unterscheidungen einerseits von innerem und äußerem Sinn, andrerseits von psychischer und physischer Welt sich nicht mehr zu decken scheinen.
Nicht minder wichtig ist das Folgende. Nachdem Locke[dk] im Anfang seiner Untersuchungen Sensation und Reflexion als die beiden einzigen und ursprünglichen Quellen alles Vorstellungsinhalts bezeichent hat, ergiebt sich in der Folge, daß, da die Seele überhaupt nur auf äußere Einwirkung oder deren Nachwirkung in Thätigkeit tritt, alle die von der Reflexion oder dem inneren Sinn erfahrenen Functionen erst auf |[dl] Grund von Sensationen möglich sind; und da die Reflexion oder der innere Sinn selbst zu diesen Reactionen der Seele auf äußere Anregungen gehört, so schiebt sich der anfänglichen Unterscheidung von äußerem und innerem Sinn bei Locke[dm] allmälig und unmerklich die andre von ursprünglicher und abgeleiteter Seelenthätigkeit unter. Dabei geraten nun aber die anderen Reactionen der Seele, als da sind Gedächtniß, Unterscheidung, Gefühl, Wille u. s. w. in bedenklichstes Gedränge. Den eigentlichen Sensationen gegenüber erscheinen sie als abgeleitet und somit dem inneren Sinn zugehörig, der eigentlichen Reflexion gegenüber erscheinen sie als ursprünglich und auf gleicher Stufe mit den Sensationen, – eine schwankende Stellung, deren Unsicherheit noch dadurch erhöht wird, daß Locke[dn] die affectionirten Vorgänge der Lust und der Unlust auch nur als Vorstellungsprocesse und zwar ausdrücklich[do] als Vorstellungen unserer Zustände, d. h. also recht eigentlich als Acte der Reflexion in der Bedeutung des inneren Sinnes angesehen wissen will.
Die Kritik der Locke’schen[dp] Lehre, welche in diesen beiden Betrachtungen angedeutet ist, hat die Geschichte der Philosophie selbst vollzogen.
Was den ersten Punct anbetrifft, so legte die Zwischenstellung, welche die Empfindung der sinnlichen Qualitäten zwischen dem äußeren und dem inneren Sinne einnahm, den Gedanken nahe, jenen Unterschied von Sensation und Reflexion, der für Locke[dq] als ein qualitativer galt, zu nur gradueller Bedeutung herabzusetzen und wieder nur eine[dr] Art der Erfahrung zu statuiren, deren verschiedene Stufen beide sein sollten. Principiell war es dabei gleichgiltig, ob man diese einheitliche Thätigkeit selbst als äußere oder als innere Erfahrung bezeichnete: aber je nachdem man den Nachdruck entweder wie Condillac und die englischen Associationspsychologen[ds] darauf legte, daß nach Locke[dt] selbst aller Inhalt auch der Reflexion nur aus der Sensation stammt und somit die Thätigkeiten des inneren Sinnes nur Umformungen der äußeren Sinnesfunctionen enthalten, oder wie Berkeley[du] darauf, daß die Eindrücke der Sinne uns auch nur Veränderungen unseres eignen Zustandes zu erkennen geben und somit die niedrigste Form der inneren Sinnesthätigkeit bilden, – nahm natürlich diese Entwickelung eine zumal erkenntnißtheoretisch und metaphysisch sehr verschiedene Richtung. Allein mochte so der locke’sche Empirismus dort in einen Sensualismus des äußeren Sinnes, hier in einen Sensualismus des inneren Sinnes[dv] umgebildet werden, – auf beiden Wegen war jene fundamentale[dw] Unterscheidung von äußerem und innerem Sinn, worauf nach Locke’s[dx] Vorgange namentlich die Schotten die Selbstständigkeit der empirischen Psychologie gründen wollten, durch diese innere Dialectik wieder verloren gegangen.[dy]
Kommentar zum Textbefund
a↑von ] am Kopf der S. mit rotem Farbstift paginiert als: 11; direkte Fortsetzung des Textes von Heft Nr. 8g↑den ] danach gestrichen: Ist hiermit der Anspruch, welche die Deduction oder metaphysische Methode auf die Entwickelung des psychologischen, wie jedes andern Wissens erheben möchte, zurückgewiesen, so folgt daraus nicht jene unreife und knabenhafte Verwerfung derselben in Bausch und Bogen, wie sie leider seit einiger Zeit Unsitte geworden ist. Nicht die Masse, sondern das System des Wissens bleibt das höchste Ziel der Wissenschaft: und jene Gesammterklärung, welche die Metaphysik anstrebt, ist nichts anderes, als der verfrühte Versuch seiner Realisirung. Allein wenn dieser Versuch eben in seiner Verfrühtheit hinfällig ist, so bleibt er darum doch nicht wertlos: jedes System der Philosophie ist gewissermaßen ein Ueberschlag der menschlichen Wissenschaft, wie weit sie sich ihrem Ideale genähert hat; es würde Werth haben, selbst wenn es nur dazu diente, jenes höchste Ziel der Forschung im Auge zu behalten, und wenn nicht noch außerdem der Einblick in seine Unzulänglichkeit derjenige in die Aufgabe der weiteren Arbeit wäre.j↑So … lassen. ] mit Einfügungszeichen auf Bl. 1v geschrieben, mit Wiederholung des Einfügungshinweises, mit rotem Farbstift: auf pag. 11 einzuschieben:k↑selbstständigen | ] gegenüber auf der Umschlaginnenseite Inventarstempel und Signaturetikett, Bl. 1v Besitzstempel der Tohoku, Bl. 2r ein weiterer Stempel über die ersten 6 Zeilen des Textes; Bl. 1v Text zur Einfügung auf Bl. 1r, Fortsetzung des Textes auf Bl. 2r, mit rotem Farbstift paginiert als: 12r↑Wissenschaft. | ] Bl. 2v Text zur Einfügung auf Bl. 3r, Fortsetzung des Textes auf Bl. 3r, mit rotem Farbstift paginiert als: 13w↑selbst | ] Bl. 3v Text zur Einfügung auf Bl. 4r, Fortsetzung des Textes auf Bl. 4r, mit rotem Farbstift paginiert als: 14z↑Willens| ] Bl. 4v Text zur Einfügung auf Bl. 5r, Fortsetzung des Textes auf Bl. 5r, mit rotem Farbstift paginiert als: 15aa↑bedingt ] danach Einfügung von Fußnotenzeichen und -text, auf Bl. 4v geschrieben: Vgl. meine „Lehren vom Zufall“ pag. bricht abah↑Methode. | ] Bl. 5v Text zur Einfügung auf Bl. 6r, Fortsetzung des Textes auf Bl. 6r, mit rotem Farbstift paginiert als: 16ar↑eben | ] Bl. 6v Text zur Einfügung auf Bl. 7r, Fortsetzung des Textes auf Bl. 7r, mit rotem Farbstift paginiert als: 17ba↑Thatsa| ] Bl. 7v Text zur Einfügung auf Bl. 8r, Fortsetzung des Textes auf Bl. 8r, mit rotem Farbstift paginiert als: 18bc↑Grenzverletzung … zurückweisen ] statt gestrichen: Verwischung des Eigenthümlichen der einzelnen Wissenschaften zurückweisen.bj↑„exakten | ] Bl. 8v Text zur Einfügung auf Bl. 9r, Fortsetzung des Textes auf Bl. 9r, mit rotem Farbstift paginiert als: 19bo↑gebührt. | ] danach vignettenartiger Schlußstrich, Rest der S. leer, Bl. 9v leer, Fortsetzung des Textes auf Bl. 10r, mit rotem Farbstift paginiert als: 20bv↑Pro| ] Bl. 10v Text zur Einfügung auf Bl. 11r, Fortsetzung des Textes auf Bl. 11r, mit rotem Farbstift paginiert als: 21by↑neuere Logik ] danach Einfügungszeichen; auf Bl. 10v wiederholt, danach geschrieben: (Sigwart § 7 und Lotze § 12) „Das erste Allgemeine“cg↑Unzusammengesetzte ] danach Fußnotenzeichen und -text: Nicht nur der Ausdruck ἀξύνϑετον [das Unzusammengesetzte], sondern auch die scheinbar positiven Wendungen ἁπλοῦν [das Unbedingte] und μονοειδής [das Eingestaltige] haben diesen negativen Ursprung und Sinn.cn↑die | ] Bl. 14v Text zur Einfügung auf Bl. 15r, Fortsetzung des Textes auf Bl. 15r, mit rotem Farbstift paginiert als: 25cv↑relative | ] Bl. 15v leer, Fortsetzung des Textes auf Bl. 16r, mit rotem Farbstift paginiert als: 26dl↑auf | ] Bl. 17v Text zur Einfügung auf Bl. 18r, Fortsetzung des Textes auf Bl. 18r, mit rotem Farbstift paginiert als: 28dv↑Sinnes ] danach Fußnotenzeichen und -text: dessen metaphysischen Character man sich übrigens in Deutschland abgewöhnen sollte als Idealismus zu bezeichnen, da dieser Terminus darauf nur unter Voraussetzung des englischen und französischen Wortgebrauchs von idea und idée passt, und in der deutschen Philosophie unter Idealismus seit Kant etwas ganz anderes versteht. Berkeley’s Lehre ist nach unserer Terminologie Spiritualismus und zwar sensualistischer Spiritualismus, und gerade in dieser Zusammensetzung besteht ihre Monstrosität. Vergleiche meine Gesch[ichte] d[er] neueren Philos[ophie] 1, p[agina] bricht abKommentar der Herausgeber
1↑Wolff’s beide Werke ] vgl. Christian Wolff: Psychologia empirica (1732) und Psychologia rationalis (1734).2↑„Magazine der Seelenkunde“ ] Anspielung auf die Zeitschrift ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde hg. v. Karl Philipp Moritz, 10 Bde. 1783–1793.4↑über den Ausdruck der Gemüthsbewegungen ] vgl. Darwin: The Expressions of the Emotions in Man and Animals, 1872.5↑Selbstmorde, Heirathen und Verbrechen ] vgl. z. B. Richard von Krafft-Ebbing: Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie. Stuttgart: Enke 1875, S. 18: Aus den statistischen Untersuchungen eines Quetelet, aus den Arbeiten von Wagner, Drobisch, Oettinger u. A, ergibt sich die bemerkenswerthe Thatsache, dass die scheinbar ganz willkürlichen Handlungen, wie z. B. Selbstmord, Heirathen, Verbrechen, in annähernd gleichen Quoten alljährlich wiederkehren und statistisch so gering variiren, dass z. B. die Zahl der Selbstmorde, Heirathen, Verbrechen, ja selbst gewisser Categorien von Verbrechen für das künftige Jahr annähernd genau vorausbestimmt werden können.7↑„Psychologie ohne Seele“ ] vgl. Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Iserlohn: J. Baedeker 1886, S. 465.▲