Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Heinrich Rickert, Heidelberg, 23.5.1910, 4 S., hs. (lat. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_83
- Creator
- Recipient
- ParticipantsAdam Zielénczyk ; Albrecht Ruge ; Arnold Ruge ; Erich Frank ; Fanja Finkelstein ; Fedor Stepun ; Heinrich Lanz ; Heinrich Rickert ; Immanuel Kant ; Leo Ssagaloff ; Leonid Kljukowski ; Mejer Meisner ; Michael von Cartagi ; Nicolai von Bubnoff ; Sergius Hessen ; Siegfried Karl Ehrhardt Lantzius-Beninga ; Theodor Kistiakowski
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationUniversitätsbibliothek Heidelberg
- URN
- Social MediaShare
- Archive
- ▼
Windelband an Heinrich Rickert, Heidelberg, 23.5.1910, 4 S., hs. (lat. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_83
Heidelberg, 23.5.10.
Lieber Freund,
Für die liebenswürdigen Glückwünsche zu meinem Geburtstage[1] herzlichen Dank! sie wirken bei mir schon als Trost für das an sich unerfreuliche Memento des Altwerdens, das solch ein Tag bedeutet. Und in den letzten Tagen habe ich wieder fühlen müssen, dass die Maschine nicht mehr so functioniert, wie es zu wünschen wäre. Ein kleiner Gichtanfall, der wohl nicht ohne Zusammenhang mit der abnormen Hitze und den elektrischen Spannungen war, hat mich für ein paar Tage arbeitsunfähig gemacht und die Niederschrift meines Logosbeitrages[2] verhindert, d. h. nur verzögert; denn ich hoffe nun | in dieser Woche damit fertig zu werden. Nur zur Durchsicht mehrerer Dissertationen bin ich gekommen. Es ist merkwürdig, wie ich jetzt damit von Russen überlaufen[3] bin, und es ist nicht zu leugnen, dass sie verhältnismässig Tüchtiges leisten. Wir bekommen eben die Elite, die eifrig, fleissig und scharfsinnig ist. Zugleich habe ich nun auch Rugeʼs Habilitationsschrift gelesen und begutachtet[4]: sie ist vortrefflich, und ich bin erstaunt, wie er zwischen aller Vielgeschäftigkeit zu einer so ernsten und in sich geschlossenen, und dabei einer in die letzten Probleme der | kantischen Freiheitslehre so eigenartig eindringenden Leistung hat kommen können. Dabei hat der arme Kerl[5] mit neuen schweren Sorgen zu kämpfen; er ist noch vor Pfingsten abgereist, weil er erfuhr, dass sein Vater[6] schwer und wie es schien hoffnungslos erkrankt war. Das ist für ihn in jeder Hinsicht bedeutungsvoll, und ich bin, da ich seitdem noch nichts weiter von ihm gehört habe, recht besorgt für ihn.
Neben diesen amtlichen Ansprüchen an das Lesen habe ich leider noch nicht Zeit gefunden, die neue Auflage Ihrer „Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft“[7], für deren Zustellung ich bestens | Dank sage, auf die Veränderungen hin anzulesen. Sie werden ja vermutlich die principiellen Fragen weniger berühren. In den letzteren mache ich jetzt für meinen Teil, wie Sie wohl bemerkt haben, jetzt mehr und mehr den Process durch, jene Unterscheidung zwischen dem Akt und dem Inhalt des Urteils (bzw. des Wertens), die ich in meinen ersten logischen Beiträgen[8] an dem besondern Problem der Negation für mich aufrollte, bis in die letzten Gliederungen des Systems zu verfolgen, und wenn ich dazu komme, für Rugeʼs Encyclopädie die Logik[9] zu bearbeiten, so wird sich zeigen, ob ich damit zu einem brauchbaren Princip gediehen bin. Darüber sollten wir wieder einmal reden! ich hoffe, dass ich im Laufe des Sommers noch einmal dazu nach Freiburg komme[10]!
Inzwischen mit herzlichem Gruss wie stets der Ihrige
W Windelband
Kommentar der Herausgeber
2↑Logosbeitrages ] vgl. Windelband: Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus. In: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur 1 (1910), Heft 2, S. 186–196.3↑von Russen überlaufen ] darunter u. a.: Nicolai von Bubnoff (1908), Adam Zielénczyk (Datum der Promotion: 19.5.1909), Fedor Stepun (3.2.1910), Erich Frank aus Prag (12.5.1911), Heinrich Lanz aus Moskau, Staatsangehöriger der USA (20.7.1911), Fanja Finkelstein aus Riga (9.8.1911), Michael von Cartagi aus Kischinev (30.6.1911), Mejer Meisner aus Kowel (14.10.1910), Leo Ssagaloff aus Elisabetgrad (8.11.1911), Leonid Kljukowski aus Kamenz-Podolsk (31.12.1912), Siegfried Karl Ehrhardt Lantzius-Beninga aus Kassel, Staatsangehöriger Russlands (21.1.1913). Vgl. das entsprechende Jahres-Verzeichnis der an den Deutschen Universitäten erschienenen Schriften (Theodor Kistiakowski hatte bereits 1898 in Straßburg bei Windelband provoviert, Sergius Hessen hatte 1909 bei Rickert in Freiburg promoviert).4↑Rugeʼs Habilitationsschrift gelesen und begutachtet ] vgl. Arnold Ruge: Die Deduction der praktischen und der moralischen Freiheit aus den Prinzipien der kantischen Morallehre. Tübingen: Laupp 1910 sowie Windelbands Habilitationsgutachten über Arnold Ruge vom 23.5.1910 (Abschnitt Dokumente der vorliegenden Edition).5↑arme Kerl ] zur Außensicht auf Ruge als im Prinzip chancenloses und nach dessen Tod fallengelassenes Protegé von Windelband vgl. Das Stehaufmännchen oder Privatdozent a. D. Arnold Ruge. Von Dr. B–t. In: Neues Wiener Journal, Nr. 11037 vom 10.8.1924, S. 14 (ANNO). Der Autor, der sich als ehemaliger Kommilitone bezeichnet, datiert die Selbstradikalisierung Ruges auf die Zeit ab 1915.7↑neue Auflage Ihrer „Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft“ ] vgl. Windelband an Rickert vom 2.5.19108↑meinen ersten logischen Beiträgen ] vgl. Windelband: Beiträge zur Lehre vom negativen Urteil. In: Strassburger Abhandlungen zur Philosophie. Eduard Zeller zu seinem siebenzigsten Geburtstage. Freiburg/Tübingen: Akademische Verlagsbuchhandlung J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1884, S. 165–195.9↑Logik ] vgl. Windelband: Die Prinzipien der Logik. In: Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften. Hg. v. W. Windelband u. A. Ruge, 1. Bd. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1912, S. 1–60.▲