Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Harry Bresslau, Heidelberg, 6.1.1910, 4 S., hs. (lat. Schrift), Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, Nachlass Bresslau
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- Physical LocationStaatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße
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Windelband an Harry Bresslau, Heidelberg, 6.1.1910, 4 S., hs. (lat. Schrift), Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, Nachlass Bresslau
Heidelberg, 6.1.10.
Verehrter Freund,
Ihre liebenswürdigen Neujahrswünsche erwidre ich von Haus zu Haus auf das herzlichste! wir haben uns sehr gefreut, ein Lebenszeichen von Ihnen zu erhalten; denn es ist allzu lange her, dass wir einander gesehen haben. Zum Strassburger Historikertage[1] bin ich nicht gekommen; ich fand nach der Rückkehr aus Tirol, wo wir in Klobenstein[2] köstliche Sonnentage erlebt hatten, so viel mit neuen Auflagen[3] und mit lästigen Rectoratsgeschäften zu tun vor, dass ich nicht gut abkömmlich war. Ueberhaupt bin ich von allen diesen Nebendingen so unerfreulich in Anspruch genommen, dass ich garnicht zu Atem, garnicht | zu mir selbst komme; und doch ist es an der Zeit, Kraft und Zeit noch zusammenzuhalten[a], um das zu leisten, wozu man sich berufen fühlt. Darum habe ich auch die Wiederwahl in die Kammer[4] abgelehnt, nicht ohne eignes Bedauern und nicht ohne Widerstand: Sie haben wohl gelesen, wie noch erst eine Anzahl Kollegen es nicht glauben wollten und trotz meiner bestimmten Erklärung mich in die Stichwahl mit dem brachten, den ich selbst als meinen Nachfolger[5] aufgestellt hatte! Nun freue ich mich, nachdem ich Monate von nie gekannter Ueberlastung hinter mir | habe, mit unglaublicher Sehnsucht auf die Ferien: wenn ich am 15. März mein Amt abgebe[6], sause ich spätestens am nächsten Morgen durch den Gotthard. Apropos: hatten Sie nicht in Bordighera – oder war es Ospidaletti? – eine erprobte Adresse[7]? Vielleicht gehe ich in diese Gegend. Dort ist jetzt Jellinek, der im Semesteranfang einen unerfreulichen Nervenkollaps[8] hatte und sich glücklicherweise schon recht gut erholt haben soll. Es packt uns eben alle einmal die Strafe für die „Unnatur“ des Lebens und Arbeitens im Gedanken; aber wenn wir noch einmal zu wählen hätten, würden wir auch schliesslich keine andren Wege einschlagen! |
Dieser Tage schicke ich Ihnen meine Rectoratsrede[9], die schon im November gehalten wurde, aber für deren Verschickung ich bisher keine Zeit gefunden habe: es ist in manchem Betracht eine Art Fortsetzung der Strassburger[10].
In den Ferien war meine älteste Tochter[11] hier, verhältnismässig in gutem Gesundheits- und Zufriedenheitsstande. Von Berlin und Bonn[12] allseits gute Nachrichten. Wenn ich recht gehört, haben Sie nun schon einen Professor-Sohn[13]: ich gratuliere herzlich dazu! Mein Filius[14] steckt in den Akten der Verwaltungsgeschichte Karl Friedrichs von Baden, die er für die historische Kommission[15] bearbeitet.
Grüssen Sie den Stammtisch: er möge wie Sie selbst die alte Gunst bewahren Ihrem treulich ergebnen
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
3↑neuen Auflagen ] des Lehrbuchs der Geschichte der Philosophie, der zweibändigen Geschichte der neueren Philosophie, der 2. Aufl. von Die Philosophie im deutschen Geistesleben des XIX. Jahrhunderts.4↑Wiederwahl in die Kammer ] vgl. Windelband an Karl Hampe vom 14.11.1909 u. an Heinrich Rickert vom 16.11.19097↑erprobte Adresse ] Windelband nahm Aufenthalt im Hotel Angst in Bordighera, Ligurien, einer nachbarstadt von (recte) Ospedaletti, vgl. Windelband an Siebeck vom 23.3.1910 u. an Rickert vom 25.3.1910.9↑Rectoratsrede ] vgl. Windelband: Der Wille zur Wahrheit. Akademische Rede zur Erinnerung an den zweiten Gründer der Universität, Karl Friedrich Großherzog von Baden am 22. November 1909 bei dem Vortrag des Jahresberichts und der Verkündung der akademischen Preise gehalten. Heidelberg: Universitäts-Buchdruckerei J. Hörning 1909, S. 1–17. Selbstanzeige in: Die Philosophie der Gegenwart. Eine internationale bibliographische Jahresübersicht … für 1908/09, S. 263: Heidelberger Prorektoratsrede (22. Nov. 09), worin der Autor zu den Lehren des Pragmatismus und seiner einzelnen Auszweigungen, wie Instrumentalismus, Humanismus (den er lieber ‚Hominismus‘ genannt sehen möchte) usw., teils mit psychologisch-historischer Analyse, teils mit logisch-erkenntnistheoretischer Kritik Stellung nimmt.10↑Strassburger ] vgl. Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft. Rede. In: Das Stiftungsfest der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg am 1. Mai 1894. Strassburg: Universitätsbuchdruckerei J. H. Ed. Heitz (Heitz & Mündel) 1894, S. 15–41.12↑Berlin und Bonn ] Wohnsitze der Familien Goette u. Stutz mit Meta u. Elly, jeweils geb. Windelband.13↑Professor-Sohn ] Ernst Bresslau (1877–1935), Zoologe, 1903 in München habilitiert, 1909 Verleihung des Titels Professor, mehrere Forschungsreisen. 1919 Vorstand der zoologischen Abteilung des Georg-Speyer-Hauses in Frankfurt am Main, 1925 o. Prof. in Köln. 1934 nach Brasilien emigriert, Direktor des Zoologischen Instituts der Universität São Paulo (NDB; Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft. Das Handbuch der Persönlichkeiten in Wort und Bild Bd. 1. Berlin: Deutscher Wirtschaftsverlag 1930).15↑historische Kommission ] Badische Historische Kommission, vgl.: Die Verwaltung der Markgrafschaft Baden zur Zeit Karl Friedrichs. Hg. von der Badischen Historischen Kommission. Bearbeitet von Wolfgang Windelband. Leipzig: Quelle & Meyer 1916.▲