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- TitleWindelband an Hans Vaihinger, Heidelberg, 19.3.1909, 4 S., hs. (lat. Schrift), am Rand der 1. S. Notiz von anderer Hand mit blauem Stift: Windelband, Staats- und UB Bremen, Autographensammlung Aut. XXIII, 9
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Windelband an Hans Vaihinger, Heidelberg, 19.3.1909, 4 S., hs. (lat. Schrift), am Rand der 1. S. Notiz von anderer Hand mit blauem Stift: Windelband, Staats- und UB Bremen, Autographensammlung Aut. XXIII, 9
Heidelberg, 19 März 1909
Hochgeehrter Herr Kollege,
Gegen die Erwähnung meiner brieflichen Bemerkung über das Verhältnis des sensus communis aestheticus zum „übersinnlichen Substrat der Menschheit“ in Analogie zu dem Verhältnis des „empirischen Bewusstseins überhaupt“ zum „Bewusstsein überhaupt“ selbst (darum handelte es sich, wenn ich mich recht entsinne) habe ich natürlich nichts einzuwenden; die briefliche Fassung ist hoffentlich so, dass sie gedruckt werden[1] kann. ich nehme an, daß ich dabei ohne Titulatur erwähnt werde; sollte das aber geschehen, so bitte ich davon Notiz zu nehmen, dass ich den Titel Geh[eimer] Hofrat nicht führe, sondern Geheimrat[2] bin.
Zugleich bitte ich, verehrter Herr Kollege, gütigst zu entschuldigen, dass ich Ihre freundliche Anfrage vom 12. Febr[uar] in der Fülle der Geschäfte noch nicht beantwortet habe. ich wollte es von Wiesbaden aus[3] tun, wo ich die erste Hälfte dieses Monats zugebracht habe, um mich vor Antritt des Rectorats noch etwas zu kräftigen: aber | dort hat mich die Kur auch wieder nicht zu der vernachlässigten Korrespondenz kommen lassen. Ihre Absicht, Liebmann zum 70. Geburtstag durch ein Heft der Kantstudien zu feiern, begrüsse ich mit der grössten Sympathie, und ich unterschreibe vollständig die Motive, welche Ihr Brief dafür entwickelt hat. Wir sind ihm eine solche Anerkennung durchaus schuldig; und ich bin gern bereit, das Meinige dazu zu tun[4]; bin Ihnen deshalb sehr dankbar, wenn Sie mir dazu in dem geplanten Heft[5] noch dazu eine so hervorragende Stelle einräumen wollen. Wie ich das Thema besonders zuspitze, möchte ich allerdings mir noch überlegen. Darf ich Ihnen den Vorschlag machen, mich etwa im Au|gust an die Sache zu erinnern[a] und mir dabei mitzuteilen, welche Themata sonst schon behandelt werden sollen? Leider kann ich Ihnen weitere Autoren, von denen ich annähme, dass sie dem leider so vereinsamten Manne näher stünden, auch nicht nennen; auf Kinkel[6] würde ich auch kein grosses Gewicht legen.[b] ich hoffe aber stark, dass Sie noch einen Beiträger gewinnen, von dem Sie bisher nicht schreiben, – nämlich Vaihinger!
Die Dresdner Berufungsfrage[7] ist ja nun durch die Uebersiedlung von Elsenhans entschieden. Unser lieber College Bauch, der, soviel ich weis nach Ihrer und meiner Empfehlung auch auf der Liste war, wird noch etwas warten müssen[8]. In Halle selbst darf wohl bei seiner Jugend jetzt noch | nicht an ihn gedacht werden. Doch hoffe ich, dass die durch den mich sehr erschütternden Tod von Ebbinghaus erledigte Professur[9] doch nicht wieder allzu psychologistisch besetzt werden sollte! Wo ich sonst irgend Gelegenheit habe, werde ich, wie bisher, für Bauch[10] einzutreten suchen.
Unser Kongressbericht[11] ist bis etwa zum 40sten Bogen umgebrochen, bis zum 25sten gedruckt, und der Satz in Fahnen scheint bald beendet. Welch ein Ballast von Unbedeutendheiten steckt darin! ich denke, die Hauptsache der Korrektur wird Elsenhans hier noch erledigen können.
Hoffentlich geht es Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin[12] nach diesem nicht enden könnenden Winter doch recht gut; wir wünschen das Beste, und ich bleibe mit aufrichtigen Grüssen von Haus zu Haus ergebenst der Ihrige
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
a↑Zugleich … erinnern ] von anderer Hd. am Rand mit blauem Stift angestrichen und mit 4 Ausrufezeichen hervorgehobenKommentar der Herausgeber
1↑gedruckt werden ] vgl. Windelband an Vaihinger vom 22.7.1908 sowie Hans Amrhein: Kants Lehre vom „Bewusstsein überhaupt“ und ihre Weiterbildung bis auf die Gegenwart. Berlin: Reuther & Reichard 1909 (Kantstudien Ergänzungshefte Nr. 10), S. 167–172: § 26: Das Bewusstsein überhaupt bei Wilhelm Windelband; hier S. 170–171, Anm. 1: In dem oben zitierten Schilleraufsatz S. 403 identifiziert Windelband das „Bewusstsein überhaupt“ mit dem „übersinnlichen Substrat der Menschheit“. Diese auf den ersten Blick auffallende Identifikation, welche wiederum metaphysisch ausgedeutet und ausgebeutet werden könnte, findet eine willkommene Erläuterung durch einen Brief Windelbands an Vaihinger, vom 22.VII.08, welcher sich auf die ersten 6 Bogen dieser Schrift, die als Dissertation der Universität Halle gesondert herausgegeben worden sind, bezieht. Aus diesem Briefe sei, mit Erlaubnis beider genannten Gelehrten, Folgendes angeführt: „Aufmerksam machen möchte ich für die weitere Behandlung auf die analogen Bestimmungen der Kritik der Urteilskraft, in der, ohne den Terminus „Bewusstsein überhaupt“, an „das übersinnliche Substrat der Menschheit“ zur Auflösung der ästhetischen Antinomie appelliert wird, § 57, S. 236f., und Anm. I, S. 242f., Anm. II, S. 244, sodann § 59, S. 258 (Paginierung der ersten Auflage). Vergleicht man damit, was in der Analytik des Schönen § 20 und 21 über den ästhetischen „Gemeinsinn“ angeführt ist, so könnte man auf den Gedanken kommen, dass dieser sensus communis aestheticus sich zu jenem „intelligibeln Substrat“ genau so verhielte, wie das „empirische Bewusstsein überhaupt“ zu dem „Bewusstsein überhaupt" selber; ich stelle anheim, diesen Gedanken weiter zu verfolgen: ich selber betrachte, was die Ästhetik anlangt, die § 20f. in der Analytik des Schönen als die entwicklungsgeschichtliche Vorstufe jener § 57ff. in der Dialektik des Geschmacks; auch die Kritik der Urteilskraft ist so wenig wie die Kr. d. r. V. in einem Jahre geschrieben worden; vielmehr zeigt die Analytik des Schönen (und die des Erhabenen) wesentlich den Typus des Entwurfs über „die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft“ aus den Jahren 1772ff., wie in der Kr. d. r.V. die transscendentale Ästhetik; und wie diese erst in der Analytik und Dialektik vertieft und korrigiert wird, so ist es auch in der Kr. d. U. mit der Lehre vom Schönen geschehen. In gewissem Sinne aber ist der Fortschritt für beide Fälle derselbe: der vom empirischen sensus communis zum transscendentalen Bewusstsein überhaupt.“ | Diese Ausführungen Windelbands (zu denen man noch seine kritischen Bemerkungen zu seiner Edition der Kr. d. U. in der Akademie-Ausgabe, Erste Abt., Bd. V, S. 513-542 vergleiche) sind, abgesehen von ihrer Bedeutung für die Interpretation Kants, darum besonders bemerkenswert, weil sie die bei Windelband selbst hervortretende Neigung zu erhellen und vielleicht auch zu erklären geeignet sind, dem Bewusstsein überhaupt einen Schein des Metaphysischen zu geben. Was die Interpretation Kants betrifft, so ist zu unterscheiden zwischen einer Identifikation des „Bewusstseins überhaupt“ mit dem „übersinnlichen Substrat der Menschheit“ einerseits, und einer blossen Parallele beider andererseits. Man wird wohl nicht leugnen können, dass in der Kr. d. U., welche ja überhaupt sich weit über die Positionen der Kr. d. r. V. hinauswagt, schon die Identifikation angebahnt ist.2↑Titel Geheimer Hofrat … Geheimrat ] ausweislich der Standesliste von Windelbands Hd. (vgl. Windelband an Heinrich Buhl vom 29.11.1902) trug Windelband mit seiner Ernennung zum Professor in Heidelberg den Titel eines Geheimerats 2. Klasse. Bereits am 27.1.1881 war ihm der Titel eines (badischen) Hofrats verliehen worden (UA Freiburg B 24/4190 Personalakte Windelband).4↑das Meinige dazu zu tun ] vgl. Windelband: Otto Liebmanns Philosophie. In: Zum 70. Geburtstag Otto Liebmanns. Festschrift der „Kantstudien“. Mit Beiträgen v. … hg. v. H. Vaihinger u. B. Bauch. Berlin: Reuther & Reichard 1910, S. III–X sowie in: Kant-Studien 15 (1910), S. III–X.5↑geplanten Heft ] das erste Heft der Kant-Studien 15 (1910) sowie die druckgleiche Festschrift der Kant-Studien zum 70. Geburtstag Otto Liebmanns, Berlin: Reuther & Reichard 1910, enthält: Walter Kinkel: An Otto Liebmann. 2 Sonette; Windelband: Otto Liebmanns Philosophie; Erich Adickes: Liebmann als Erkenntnistheoretiker; Hugo Falkenheim: Otto Liebmanns Kampf mit dem Empirismus; Walter Kinkel: Das Verhältnis von Philosophie und Mathematik nach O. Liebmann; Hans Driesch: Otto Liebmanns Lehre vom Organismus; Richard Hönigswald: Zu Liebmanns Kritik der Lehre vom psychophysischen Parallelismus; Bruno Bauch: Kritizismus und Naturphilosophie bei Otto Liebmann; Fritz Medicus: Otto Liebmann als Dichter; Oswald Weidenbach: Der idealistische Begriff des Subjekts.8↑warten müssen ] Bruno Bauch (1877–1942), 1901 bei Rickert promoviert, 1903 bei Vaihinger habilitiert, 1910 Titularprofessor in Halle, 1911 o. Prof. in Jena, 1903–16 Redakteur der Kant-Studien (BEdPh).10↑für Bauch ] ein indirektes Zeugnis, das zugleich ein Licht auf die Außenwirkung Windelbands wirft, bietet Ernst Windisch aus Leipzig an Wilhelm Wundt vom 19.9.1909 zur Nachfolgefrage nach dem Tod Max Heinzes: An Windelband ist wohl nicht zu denken, er würde wohl auch schwerlich zu haben sein, bei der Rolle, die er in Heidelberg und Karlsruhe spielt. Ich habe gehört, daß er Katholik ist. Zufällig lernte ich […] Dr. Bauch kennen, der mir von W. erzählte. Wenn ich ihn recht verstanden habe, sprach er von einer südwestdeutschen philosophischen Schule mit W. an der Spitze, von deren Bestehen ich noch nichts wußte (NA Wundt/III/1501-1600/1558/221-224; https://histbest.ub.uni-leipzig.de/content/estate_wundt.xed). Dies ist die bislang früheste Erwähnung des Namens südwestdeutsche Schule.11↑Kongressbericht ] vgl. Bericht über den III. Internationalen Kongress für Philosophie zu Heidelberg 1. bis 5. September 1908. Hg. v. Th. Elsenhans. Heidelberg: C. Winter 1909.▲