Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Heinrich Rickert, Heidelberg, 23.6.1908, 8 S., hs. (lat. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_58-59
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Windelband an Heinrich Rickert, Heidelberg, 23.6.1908, 8 S., hs. (lat. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_58-59
Heidelberg, 23.6.08
Hochgeschätzter Freund,
Es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen erst heute antworten kann: ich war vier Tage lang verreist, zugleich meine Frau mit Stutzens[1] in Münster a/St[ein], mein Sohn[2] in Karlsruhe, also die Korrespondenz verwaist, und so fand ich, als ich gestern spät Abend heimkam, Ihren Brief[3] unter dem Berge. Wenn ich ihn zuerst beantworte, so sage ich Ihnen in erster Linie mein herzliches Bedauern über die Beschwerden[4], unter denen Sie wieder zu leiden gehabt haben und von denen ich leider schon in Baden-Baden hörte: hoffentlich ist die Besserung inzwischen recht gründlich fortgeschritten; ich nehme den wärmsten Anteil daran und bitte mir bald hoffentlich recht Erfreuliches darüber zu mitzuteilen.
Was nun die Staatsprüfungen[5] anlangt, so ist das wahrlich kein Vergnügen, wohl aber eine | schmerzliche Pflicht. Die Examen hat lang der alte Gust[av] Wendt[6] in Karlsruhe besorgt, und der treffliche, verdiente Mann hat es wohl zuletzt in seinem hohen Alter etwas zu einer schematischen Form herabsinken lassen. Nach seinem Rücktritt war die Gefahr, dass ein andrer Oberschulrat, ein gewisser Oster[7], ehemaliger katholischer Geistlicher und Gymnasialdirector in Konstanz, die Sache übernahm, wodurch nichts gebessert gewesen wäre. Damals war es hauptsächlich unser verstorbener Dieterich[8], der darauf drang, dass man mich darum ersuchte, und ich habe nach langen Ueberlegungen um der Sache willen die schmerzliche Unbequemlichkeit auf mich genommen, aber sorglich gebeten, dass dann auch abwechselnd Sie gefragt werden möchten, – nicht um mich zu entlasten, nicht um Ihnen eine | Freude zu machen (leider ist es ja das Gegenteil), sondern um jeden Schein zu vermeiden, als sollte hier ein Fach für den Heidelberger monopolisiert werden, während sonst überall beide Universitäten alternieren. Sie verstehen, dass gerade ich das mit Rücksicht auf die Freiburger Herren tun musste. Nun wäre es in der Tat sehr unglücklich, wenn es von Ihnen auf Uebinger[9] übergehen sollte: dann wäre man wieder schlimmer daran als je zuvor. Aber es ist freilich, gerade für Sie, eine höchst unerfreuliche Sache. Es waren das vorige Mal[10] (bisher meine einzige Erfahrung darin) ca. 150 Candidaten. ich prüfte immer 3 zusammen eine halbe oder 6 zusammen eine ganze Stunde, sodass jeder 10 Minuten daran kam. Das waren 25 Stunden: durch Rücktritte auf 23/24 reduciert. Nun kann man den Tag nicht mehr als 6 Stun|den prüfen, das ist schon eine Qual. Sie müssen also auf vier Tage rechnen. Das verteilt sich aber auf drei Abteilungen, Altphilologen, Neuphilologen, Math[ematiker]-Naturwissenschaftler. Die Reise müsste also mindestens zweimal, eher öfter gemacht werden. Bei mir lag die Sache diesmal noch besonders unbequem, indem die Termine zwischen meine schon bestehenden Reisedispositionen eingeschoben werden mussten, und bei den zwei letzten Terminen (für die Mathematiker) misslang das, sodass da schliesslich der alte Wendt einspringen musste.
Nun haben Sie wohl davon gehört, dass wir – ach, ja, Sie wissen es selbstverständlich, da es die Fakultäten gemacht haben, – einen Antrag auf Verlegung an die Universitäten[11] gemacht haben. Geht der durch, so steht die Sache für | Ihre Mitwirkung sehr viel günstiger: Sie haben dann eben nur die Freiburger, und diese in loco[12], sodass Sie nicht zu reisen brauchen. Nun geht allerdings aus der Anfrage an Sie[13], während ich keine analoge habe, deutlich hervor, dass ein hoher Oberschulrat unsere Eingabe zunächst ignoriert; er muss aber wohl im Uebrigen die Kommission jetzt konsultieren, um die Themata für die schriftlichen Arbeiten stellen zu lassen – (mit denen übrigens wir Philosophen Gottseidank nichts zu tun haben, da die Philosophie im badischen Examen kein Fach ist und die Aufsätze der allgemeinen Prüfung Sache der Oberschulräte bleiben) –, und es wäre nicht ausgeschlossen, dass die Kommission nachher verdoppelt und dann für beide Universitäten geteilt würde. Wie die Chancen dafür stehen, weiss ich nicht; Böhm[14] hielt sie für nicht schlecht; aber ich bin skeptisch. | Wenn ich nun einen Rat erteilen darf, so möchte ich Ihnen nahelegen, die Anfrage nicht von der Hand zu weisen, sondern zunächst anzunehmen, allerdings gleich mit dem Zusatz, dass Ihnen mehrere Reisen aus gesundheitlichen Rücksichten zu viel werden würden, und mit dem Anheimgeben, ob man nicht neben Ihnen entweder Jonas Cohn oder mich nehmen wolle. ich bin dann gern bereit, wieder einen Teil zu übernehmen, wenn nur der Zweck erreicht ist, dass Sie selbst wenigstes einen Anteil daran haben. Und sollte dann unser Antrag durchgehen, so wäre die Sache ja von selbst so zu erledigen.
Nun noch ein Wort über die Berufungsfrage[15] – ganz unter uns. Bei meinen letzten Unterredungen mit Böhm schien die Hoffnung zu be|stehen, dass sich die Sache in der Weise erledigen würde, wie ich Ihnen schrieb. Seitdem fürchte ich, haben sich die Aussichten verschlechtert, und zwar durch die unrichtige Taktik unserer Freunde. In den Bernhard-Artikeln der Frankfurter Zeitung[16] war jedesmal eine für den mit unsrer Sache Vertrauten nicht misszuverstehende Anspielung auf den Fall Simmel, und derartige Besprechungen in der Presse sind nur schädlich. Seit unser Vorschlag – leider, leider! – in die Presse gekommen ist, auch durch die Frankfurter, fürchte ich, dass allerlei dunkle Mächte gegen seine Ausführung an der Arbeit sind. Und denen gegenüber wird die Stellung des Ministers unglaublich erschwert, wenn die Ausführung als Nachgiebigkeit gegen Zeitungsforderungen dargestellt[a] werden kann. Das weiss Jeder, der einmal gesehen hat, wie solche Dinge in Ministerien | und an Höfen laufen. Deshalb scheint es mir, als werde unsrer Sache durch solche Anspielungen kein guter Dienst geleistet. ich habe erst jetzt von den Artikeln genauere Kenntnis genommen und bin darüber erschrocken, – ich wäre sehr zufrieden, wenn es grundlos wäre. ich werde, so schwer es mir in meiner Zeitbedrängnis wird, gegen Ende der Woche wieder einmal auf den Karlsruher Busch klopfen[17].
Mit nochmals herzlichem Wunsche für Ihre Gesundheit und mit der Bitte, mich Ihrer verehrten Frau Gemahlin angelegentlich zu empfehlen, getreulich der Ihrige
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
5↑Staatsprüfungen ] zum höheren Lehramt, abzulegen vor dem Oberschulrat in Karlsruhe. Windelband gehörte zu den Prüfern.6↑Wendt ] Gustav Wendt (1827–1912), Pädagoge, seit 1867 Direktor des Großherzoglichen Gymnasiums in Karlsruhe, 1868 außerordentliches, 1875 ordentliches Mitglied des Oberschulrats, 1907 im Ruhestand (www.leo-bw.de).7↑Oster ] Rudolf Oster (1842–1907), Gymnasialdirektor, 1866 Priesterweihe, Religionslehrer an einem Gymnasium, sollte 1873 eine Pfarrei in Pfullendorf übernehmen. Diese Kandidatur war heftig umstritten und führte zur Demission Osters (www.leo-bw.de; Irmtraud Götz von Olenhusen: Klerus und abweichendes Verhalten. Zur Sozialgeschichte katholischer Priester im 19. Jahrhundert: Die Erzdiözese Freiburg. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994, S. 359ff.).8↑Dieterich ] Albrecht Dieterich (geb. 1866), Klassischer Philologe, Prof. in Heidelberg seit 1903, war am 6.5.1908 verstorben (NDB).9↑Uebinger ] Rickert nicht belastbarer katholischer Kollege in Freiburg seit 1903, vgl. Windelband an Rickert vom 17.3.1901.11↑Antrag auf Verlegung an die Universitäten ] vgl. UA Heidelberg, H-IV-102/138 (Philosophische Fakultät 1908/09, Dekan: Schöll), Bl. 140: am 19.12.1908 stellte die Heidelberger philosophische Fakultät beim badischen Ministerium der Justiz, des Kultus und des Unterrichts den Antrag, die zentralen Prüfungen der Lehramtskandidaten für das höhere Lehramt aus Karlsruhe an die Universitäten zu verlegen. Dieser wurde abschlägig beschieden. Am 5.1.1909 wiederholte die Fakultät ihren Antrag, da aus ihrer Sicht die Ablehnung nicht ausreichend begründet sei (Bl. 148), darauf erwiderte am 24.2.1909 das Ministerium der Justiz, des Kultus und des Unterrichts an die philosophische Fakultät Heidelberg, mit Durchschlag des Schreibens für die philosophische Fakultät Freiburg, eine Begründung seiner Ablehnung: die Prüfungen seien Sache der Oberschulbehörde, diese habe nun einmal ihren Sitz in Karlsruhe. Das zentralisierte Verfahren verfolge u. a. das Ziel, daß der jeweilige Oberschulrat alle Kandidaten kennenlerne, denn er sei schließlich für deren Anstellung verantwortlich.14↑Böhm ] Franz Böhm, Ministerialrat im badischen Ministerium für Justiz-, Kultus und Unterricht, vgl. Korrespondentenverzeichnis.15↑Berufungsfrage ] auf den 2. Heidelberger Lehrstuhl, vgl. Windelband an Rickert vom 6.11.1906 u. an Franz Böhm vom 11.6.1908.16↑Bernhard-Artikeln der Frankfurter Zeitung ] die Berufung des Staatswissenschaftlers Ludwig Bernhard (1875–1935) aus Kiel an die Berliner Universität rief einen Skandal hervor, weil sie ohne vorherige Befragung der dortigen philosophischen Fakultät durch das Kultusministerium vorgenommen wurde, vgl. den Bericht im Juniheft 1908 der Hochschul-Nachrichten (Paul von Salvisberg), S. 293. In der Frankfurter Zeitung (Nr. 168 v. 18.6.1908, 1. Morgenblatt, S. 1; Nr. 172 v. 22.6.1908, Abendblatt, S. 1; Nr. 174 v. 24.6.1908, 2. Morgenblatt, S. 1; Nr. 190 v. 10.7.1908, 4. Morgenblatt, S. 1, sämtlich abgedruckt in der Max-Weber-Gesamtausgabe Abt. I, Bd. 13) erschien eine anonyme Artikelserie zum Fall Bernhard, die von Max Weber stammte.17↑auf den Karlsruher Busch klopfen ] die Redensart bezieht sich hier auf den Sitz des Ministeriums. Eine Intervention Windelbands bei Franz Böhm z. B. ist nicht ermittelt; eine Unterredung hat vor dem 6.8.1908 stattgefunden (vgl. Windelband an Böhm vom 6.8.1908).▲