Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Heinrich Rickert, Heidelberg, 8.6.1908, 7 S., hs. (lat. Schrift), Wasserzeichen R. DIEFFENBACHER (geteilter Bogen), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_55-57
- Creator
- Recipient
- ParticipantsArnold Ruge ; Auguste Comte ; Emil Lask ; Fedor Stepun ; Friedrich Wilhelm Joseph Schelling ; Georg Jellinek ; Georg Mehlis ; Georg Simmel ; Georg Wilhelm Friedrich Hegel ; Heinrich Rickert ; Johann Gottlieb Fichte ; Marie Mehlis ; Max Weber ; Nicolai von Bubnoff ; Oskar Siebeck ; Paul Hensel ; Richard Kroner ; Robert Pattai ; Sergius Hessen ; Wilhelm Eduard Weber
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationUniversitätsbibliothek Heidelberg
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Windelband an Heinrich Rickert, Heidelberg, 8.6.1908, 7 S., hs. (lat. Schrift), Wasserzeichen R. DIEFFENBACHER (geteilter Bogen), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_55-57
Heidelberg, 8. Juni 08
Lieber, werter Freund,
Die Pfingstruhe bringt mir endlich die Möglichkeit, für all das Liebe und Freundliche zu danken, das mir zu meinem Geburtstage[1] in so überwältigender Weise zuteil geworden ist. ich hatte zögernd darein gewilligt, den Heidelberger Zuhörern die Freude, die sie mir machen wollten und schon vorbereitet hatten, nicht zu verderben. Und nun sind sie zu den älteren Jahrgängen zurückgegangen, und Sie, lieber Freund, stehen an der Spitze dieser Ehrung, die mir wahrlich mehr eine Mahnung zur Leistung des Erwarteten, als einen Lohn für schon Gelungenes bedeutet! Haben Sie herzlichen Dank dafür, dass Sie mit so liebenswürdiger Anerkennung Sich in diese Reihe gestellt haben! Sie haben dem ganzen dadurch tiefere Bedeutung und höhere Wirksamkeit gegeben. Und wenn Sie auch nicht persönlich dabei zugegen waren, – schon dass Sie die Möglichkeit erwogen, danke ich Ihnen von ganzem Herzen, und ebenso Ihrer verehrten | Frau Gemahlin für ihren freundlichen Gruss! Es waren zwei schöne Feiern, des Morgens als bei mir Lask sprach, in seiner feinen, gedankenvollen, unmittelbar schaffenden Art, die ich so noch nicht erlebt hatte, und mit einem mich mit Beschämung ergreifenden Inhalt, – des Nachmittags, als im festlich geschmückten Seminar die Schüler mich begrüssten und Ruge eine dem Moment wohl angemessene Ansprache hielt. Der Tag hat mich wirklich mit stolzer Freude erfüllt; aber er hat mich den sorgenden Blick auf die dunkle Zukunft gelehrt, die ängstliche Ueberlegung, ob es mir noch beschieden sein wird, zu vollbringen was ich möchte und was so viel Ehre und Anerkennung eigentlich erst rechtfertigen wollte. Es wird mir immer deutlicher, wie sehr sich, was ich bisher gemacht, als programmatisch, als Aufgabenstellung darstellt, und wie viel an einigermassen adaequater Durchführung mangelt. Gerade darum ist es für mich von besonders beruhigender und tröstender Bedeutung, zu wissen, dass ich auf | meinem Wege nicht allein stehe und dass die Erfüllung dessen, was ich für nötig anerkannt, in anderen guten Händen ist! Glauben Sie mir das, und seien Sie überzeugt, dass die Versicherung davon, die Sie mir durch die beabsichtigte Widmung Ihres neuen Buches[2] geben wollen, mir das sachlich wertvollste Geschenk gewesen ist! ich nehme es dankbar an. Lask hatte mir schon davon erzählt, dass sich Ihnen einige anfänglich geplante Aufsätze zu einer Untersuchung über die logischen Grundprobleme auswuchsen, und ich bin sehr gespannt darauf, wie Sie denken können. Im Laufe des Sommers hoffe ich früher oder später nach Freiburg zu kommen[3], und ich werde mich dann sicher so einrichten, dass ich ein nicht zu kurzes Plauderstündchen mit Ihnen habe. Vielleicht ist dann schon endlich in unsrer Professurfrage[4] etwas geschehen. Traurig genug, dass an Sie die Regierung absolut nicht heranzubringen ist! ich habe die Hoffnung darauf[5] leider begraben müssen: ich fürchte, was ich an jeder[a] Stelle gesagt habe, die Regierung wird zu spät einmal einsehen, wie sie Heidelberg durch | diese Ihrer Meinung und dem äusseren Scheine nach gerechte Politik zu Gunsten Freiburgs dauernd schädigt. Aber auch Simmel will sie nicht als Ordinarius: sie sieht offenbar in ihm eine Spezialität, um nicht zu sagen eine Kuriosität, die man sich wohl als Luxus in Form einer Honorarprofessur leisten, aber nicht als vollgültige Vertretung der akademischen Philosophie gelten lassen sollte. Aber bitte, lassen Sie davon nichts verlauten: denn wenn S[immel] etwas davon merkte[6], dass seiner Berufung, falls es noch überhaupt dazu kommt, von der Regierung dieser Sinn beigelegt wird und dass davon ihre Form abhängen wird, so müsste ich befürchten, dass er auf sie nicht einginge. Habe ich nicht Recht? Oder meinen Sie gar, dass, falls es so weit kommt, es Pflicht wäre, S[immel] darüber aufzuklären[7], wie die Regierung seine Berufung meinen würde? Er müsste es eigentlich herausfühlen, und ich wäre schon in schwieriger Lage, wenn er dann bei mir anfrüge. ich müsste befürchten, ihn abzuschrecken, und das möchte ich auf keinen Fall. Schreiben Sie mir doch – es ist möglich, dass es zum Klappen kommt, ehe ich Sie spreche – wie Sie das auffassen | würden!
Und nun zur Beantwortung Ihrer Anfrage[b], die ich heut vor acht Tagen bei der Rückkehr aus Wien[8] hier vorfand, und zugleich die Bitte, zu entschuldigen, dass ich heut erst dazu komme; die Tage und Abende bisher waren absolut ausgefüllt und in gehetztester Weise in Anspruch genommen. Die Frage setzt mich einigermassen in Verlegenheit; denn ich weiss von Dr. Mehlis nicht viel mehr als Sie. Er ist eine Natur von echt nordwestdeutscher Unaufgeschlossenheit und zudem noch offenbar in sich gescheucht durch das Scheitern in seinem ersten Beruf, das ja gewiss durchaus nichts Nachteiliges bedeutet, aber sichtlich[c] ihm stark innerlich zugesetzt hat. Auch ich habe davon nur erst bei der Promotion durch die Vita[9] und die Papiere Kenntnis erhalten und dann kurz mit ihm (soweit wie offenbar auch Sie) darüber gesprochen, da ich kein Recht sah, ihn weiter darüber zu befragen, als er von sich aus sagen wollte. Und das war nur das Allgemeinste, woraus höchstens im Ton hervorging, dass sich da innere[d] Konflikte abgespielt hatten. Für den[e] neuen | Beruf brachte er lebhaftes, vielleicht gerade in solchen Erlebnissen persönlich gereiftes Interesse, grossen Fleiß, hervorragende Arbeitskraft und eine geradezu erstaunlich Aneignungsfähigkeit mit. Er lebte sich ja, wie mir das erst hinterher klar wurde, in völlig Neues ein, und das gedrückte Wesen, das auch zunächst in einer gewissen Unzugänglichkeit gegen die Kameraden sich darstellte, liess ihn als einen etwas seltsamen Menschen[f] erscheinen, der vielen für eingebildet galt. Seine Schrift über Comte’s Geschichtsphilosophie (er war damals hier im zweiten oder dritten Semester[g]) habe ich wesentlich wegen ihres grossen Fleißes prämiert und ihn, wie im Urteil so auch persönlich darauf hingewiesen, dass sie nicht druckreif sei, weil es an der begrifflichen Verarbeitung des Materials fehle. In dieser Hinsicht hat er seitdem, wie die Dissertation über Schelling[h] zeigt, sehr grosse Fortschritte gemacht: er hat mit entschiedener Intelligenz sich die Gesichtspunkte philosophischer Auffassung und Beurteilung angeeignet: ob sich daraus | eine eigene und ursprüngliche Leistungsfähigkeit entwickeln wird, möchte ich nicht entscheiden, da er mir persönlich zu wenig nahe getreten ist. Aber mit den Kameraden, mit den reiferen unter meinen hiesigen Zuhörern ist er in einem Kränzchen[10], das sie ganz unter sich und ohne mich haben, in näheren Austausch getreten. So kann ich nur sagen: die Fortschritte, die er in seiner hiesigen Entwicklung gemacht hat, waren gross, z. T. überraschend.[i] Wie weit ihm darin Grenzen gesteckt sind, ist mir nicht möglich zu beurteilen: dass er ein Mann ernster Gesinnung und ernster Arbeit ist, kann ich zweifellos aussagen, und ich würde hoffen, dass, wenn ihm eine neue Bahn frei eröffnet wäre, er jedenfalls Tüchtiges darin leisten wird, – ob Hervorragendes, das wage ich nicht vorauszusagen.[j]
Wenn Sie dies zur Bestätigung Ihrer eignen Urteile in der Fakultät verwenden wollen, so steht es Ihnen dazu natürlich gern zur Verfügung.
Und nun lassen Sie mich noch einmal Ihnen herzlichst danken! ich bleibe mit den herzlichsten Grüssen von Haus zu Haus getreulich der Ihrige
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
c↑sichtlich ] über den Wortanfang von anderer Hand mit Bleistift ein kleines s als Lesehilfe geschriebenj↑Wie … vorauszusagen. ] von anderer Hand mit Bleistift unterstrichen und zusätzlich am Rand angestrichenKommentar der Herausgeber
2↑Widmung Ihres neuen Buches ] in den nach 1908 erschienenen Werken Rickerts findet sich keine Widmung an Windelband. Rickerts Die Logik des Prädikats und das Problem der Ontologie. Heidelberg: C. Winter 1930 ist Paul Hensel gewidmet.4↑Professurfrage ] des 2. Lehrstuhls für Philosophie neben Windelband, vgl. Windelband an Jellinek vom 27.4.1908.6↑etwas davon merkte ] vgl. den Kommentar zu Windelband an Jellinek vom 27.4.1908: Max Weber diskutierte die Frage weitaus nachdrücklicher mit Jellinek (Schreiben vom 21.3.1908) und mit Rickert (vom 27.3. u. 1.4.1908) – wie auch mit Simmel selbst.7↑aufzuklären ] vgl. Georg Simmel an Max Weber vom 17.7.1908: Nach Ihrer heutigen Nachricht sehe ich das Heidelberger Abenteuer als abgeschlossen an […]. Von Windelband hatte ich vor einigen Tagen einen Brief von einer Wärme u. Herzlichkeit, die mich im höchsten Grade überrascht u. erfreut hat. Es ist in diese Sache so viel Eifer u. Bemühung gesetzt worden, ein so großer Aufwand „schmählich vertan“, daß ich eine tiefe Verstimmung über diesen Ausgang nicht leugnen kann. […] Allein, daß nun weit länger als ein Jahr dieses ergebnißlose hin u. her sich abspielt, daß die vorzüglichsten Männer sich so vergebens für mich eingesetzt haben, als ob ein Fluch, der über mir läge, alle Bemühungen mit Unfruchtbarkeit schlüge, daß die Überzeugungen u. der gute Wille aller Sachkenner nicht Kraft genug haben, die bornirte Böswilligkeit eines Berliner Geheimrats aufzuwiegen – das ist denn doch wohl ein gerechter Grund, deprimirt zu sein; ja, ich würde es für eine tadelnswerte Indifferenz u. Stumpfheit halten, wenn einen dies gleichgiltig ließe. Ich stelle Ihnen anheim, Jellinek von diesem Brief Mitteilung zu machen (Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 22, S. 636; vgl. Max Weber Gesamtausgabe, Abt. II, Bd. 5, S. 592–593 den Begleitbrief Webers zu dem zitierten Schreiben Simmels, das Weber an Jellinek weiterreicht).8↑Rückkehr aus Wien ] Windelband hatte am 29.5.1908 in Wien einen Vortrag auf der 2. ordentlichen Jahresversammlung des Vereines der Freunde des humanistischen Gymnasiums gehalten, vgl. Windelband: Über Wesen und Wert der Tradition im Kulturleben. In: Mitteilungen des Vereins der Freunde des humanistischen Gymnasiums. In zwanglosen Heften. Heft 7. Wien/Leipzig: Carl Fromme 1908, S. 22–40; eingebettet in einen ausführlichen Bericht über den Vortragsabend, sowie den Bericht (mit Inhaltsreferat) in: Neues Wiener Journal, Nr. 5247 vom 30.5.1908, S. 3; ferner die Zusammenfassung des Vortragsinhalts durch den Hörer Robert Pattai, Reichtagsabgeordneter in Wien, in ders.: Das klassische Gymnnasium und die Vorbereitung zu unseren Hochschulen. Reden und Gedanken. Wien: Selbstverlag (in Kommission bei Manz) 1908, S. 69–70.9↑Vita ] vgl. UA Freiburg, B 38/355, Habilitation Georg Mehlis 1909–1924, Gesuch vom 4.3.1909: Geb. am 8.3.1875 in Hannover, Vater: Georg Mehlis († 1891), Justizrat (Rechtsanwalt), Mutter: Marie geb. Heins, evangelisch. Nach anfänglichem Privatunterricht ab 1886 Schulbesuch, Februar 1895 Abitur. Danach Offizierslaufbahn: 1895–1902 in Leipzig Militärdienst, 1896 Beförderung zum Offizier, Juli 1902 Abschied. Studium: Oktober 1902–Oktober 1903 in Marburg Germanistik, Philosophie und Geschichte. Oktober 1903 in Heidelberg Philosophie (November 1904 goldene Preismedaille für die Bearbeitung der Aufgabe der Philosophischen Fakultät über die Geschichtsphilosophie Comtes, Ausarbeitung als Habilitationsschrift vorgelegt). 1906 in Heidelberg über Schelling promoviert, ab März 1907 Studium bei Rickert in Freiburg fortgesetzt. Das Gutachten Rickerts vom 6.4.1909 bescheinigt der Arbeit, ein dankenswertes Unternehmen darzustellen wegen des Einflusses, den Comte immer noch ausübe. Die Arbeit sei geeignet, weit verbreitete Irrtümer (z. B. daß Comte nichts mit Fichte oder Hegel gemein habe) zu korrigieren. Darin sei sie freilich nicht vollkommen originell, wie Rickert mit Verweis auf Windelbands Genfer Vortrag von 1904 über Fichte und Comte feststellt. Am 27.4.1909 Probevorlesung über: Kritik als Funktion der Wertwissenschaft. Am 15.3.1915 wird Mehlis zum ao. Prof. ernannt. Das letzte Blatt der Akte bildet das Entlassungsgesuch vom 14.4.1924: Der philosophischen Fakultät teile ich ergebenst mit, dass ich aus gesundheitlichen Gründen [!] genötigt bin, auf meine venia legendi zu verzichten. Nach Rücksprache mit meinem Arzte, der es für unbedingt notwendig erachtet, dass ich Freiburg verlasse, um in einem südlichen Klima Heilung zu suchen, habe ich mich zu diesem schweren Schritt entschliessen müssen. Ich benutze die Gelegenheit, um der Fakultät für das stets bewiesene Wohlwollen meinen Dank auszusprechen. Vgl. Rickert an Oskar Siebeck vom 23.7.1934: Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, daß Sie mich immer über die Logosangelegenheiten genau unterrichten, denn ich werde das Interesse an dieser Zeitschrift, die doch wohl ohne meine Schüler und mich niemals entstanden wäre, nicht verlieren, solange ich lebe. […] Der Brief von Mehlis ist einigermaßen erstaunlich. Ich habe zu Mehlis niemals ein näheres persönliches Verhältnis gehabt. Er war mir von Windelband dringend zur Habilitation empfohlen worden, und ich konnte, da Mehlis eine genügende Habilitationsschrift vorlegte, die Bitte Windelbands nicht abschlagen. Von seiner anormalen Veranlagung [!] hatte ich damals keine Ahnung, sonst würde ich gegen die Habilitation Bedenken gehabt haben. Persönlich hat sich Mehlis mir gegenüber immer tadellos benommen, und wir sind infolgedessen äußerlich stets gut miteinander ausgekommen. Als er Freiburg verließ und seinen Lehrstuhl [durchgestrichen, hs. darüber: stelle] dort aufgab, war ich nicht mehr dort, und ich bin daher über die Gründe, die ihn veranlaßt haben, Freiburg zu verlassen, nicht mit absoluter Sicherheit unterrichtet. Ich glaube aber nach allem, was ich gehört habe, daß er nicht freiwillig von Freiburg fortgegangen ist und sich nach Italien begeben hat. [am unteren Rd.: Juristisch beweisen kann ich das aber leider nicht.] Wie er dazu kommt, jetzt an Sie wegen des neuen Logos zu schreiben, nachdem er sich durch viele Jahre hindurch garnicht mehr um den Logos gekümmert hat, wird niemand ganz verstehen (zitiert nach: Briefe und Dokumente zur Geschichte der Zeitschrift Logos. UB Leipzig. Nachlass Klaus Christian Köhnke, NL 330/3/1/5, S. 339–340).10↑Kränzchen ] bestehend aus Nicolai von Bubnoff, Sergius Hessen, Richard Kroner, Georg Mehlis und Fedor Stepun. 1909 erschien das Gemeinschaftswerk: Vom Messias. Kulturphilosophische Essays. Leipzig: Engelmann. Aus diesem Kreis ging auch die Anregung zur Gründung der Zeitschrift Logos hervor.▲