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- TitleWindelband an Heinrich Rickert, Heidelberg, 6.11.1906, 4 S., hs. (lat. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_53
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Windelband an Heinrich Rickert, Heidelberg, 6.11.1906, 4 S., hs. (lat. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_53
Heidelberg, 6 Nov[ember] 06
Lieber Freund und College,
Ihre heute früh eingetroffnen Zeilen[1] beweisen mir[a] leider, ebenso wie Ihr erster Brief[2], dass die Ungewissheit schwer auf Ihnen liegt: und doch bin ich nicht in der Lage, den Feuerbrand zu löschen, den ich, wie es scheint, in Ihre Seele geworfen habe. Werfen musste! denn ich kann nur im vollen Einverständnis mit Ihnen vorgehen. Nun bin ich aber heute im Ganzen nicht viel weiter als neulich[3], wo ich mit Ihnen sprach: und wenn sich etwas geändert hat, so ist es nur eine Verwicklung, die meine Verantwortung und bisher meine Unentschiedenheit steigert. Das neue Moment besteht in dem Ergebnis meiner Unterredung mit Böhm[4], und obwohl ich es bisher selbst noch nicht völlig verarbeitet habe, so will ich es Ihnen doch nicht vorenthalten, muss allerdings dafür wie für alles, was ich daran knüpfe, Ihre vollste Discretion voraussetzen, – wie ich denn auch deshalb „eingeschrieben“[5] berichte. In dem Sinne, wie ich es Ihnen nach den verschiedenen Richtungen bezeichnet hatte, sprach ich mit B[öhm] alle Möglichkeiten durch: so kamen wir | ganz unvorgreiflich auch auf das Ordinariat[6] und die etwaigen Vorschläge zu sprechen; und da nannte ich Sie. B[öhm] fand das sehr begreiflich, setzte aber in seiner rückhaltlosen Weise sofort hinzu: dann würde es die Pflicht des Ministeriums sein, Sie davon zu überzeugen, dass das nicht ausführbar sein würde. Es wäre Torheit der Regierung, Sie von Fr[eiburg] fortzunehmen und, solange ich hier wäre, Sie hierher zu bringen; sie würde Freiburg in den grössten Nachteil versetzen, und es würde dort ein Sturm der Entrüstung – mit Recht – losgehen. Er erinnerte an die Aufregung, die Max Weber’s Versetzung[7] herbeigeführt habe: das würde der Minister[8] nicht wieder haben wollen. Es sei einfach unmöglich. Mir kam das nicht ganz unerwartet; ich glaube, dies Moment auch in unsrer Unterredung kurz gestreift zu haben; aber unerwartet war mir allerdings die Energie, mit der es sich dem bloss als möglich geäusserten Gedanken entgegenstellte. Es entsteht nun die Frage, ob es versucht werden soll, diesen Widerstand zu überwinden: und ich berichte Ihnen, da Sie es wünschen, ganz offen, dass ich darüber noch nicht entschieden bin. Es handelt sich weniger um die Ueberlegung, wie gross die Aussichten wären, die Sache durchzusetzen, als um die Erwägung der Folgen, die ein Misslingen haben | würde. Denn ich muss – nicht nur in meinem Interesse, sondern in dem der Sache, d. h., der Heidelberger Philosophie – bedenken, dass, wenn wir Vorschläge für ein Ordinariat machen und wenn die Regierung dann etwa Ihre Versetzung schliesslich doch ablehnt, die andern Vorschläge so sein müssten, dass wir nötigenfalls auch mit diesen gut führen. Je ernster das an mich herantritt, um so klarer wird es in mir selbst: ich kann ernsthaft und ehrlich neben mir nur Sie wollen. Abgesehen davon, dass ich mit Simmel wie mit Hensel auf entschiednen Widerspruch jedenfalls bei einem Teile der Fakultät stossen würde, von dem ich heute noch nicht weiss, wie gross er ist, – so muss ich, während ich persönlich[b] überzeugt bin, dass ich mit beiden gut auskommen würde, doch im Interesse der Universität und der Sache mich fragen, ob ich damit die Persönlichkeit gefunden hätte, die ich sehen möchte. Und das kann ich nun weder für S[immel] noch für H[ensel] bejahen. Was den einen anlangt, so muss ich bei aller Anerkennung seiner überlegnen philosophischen Potenz doch an dem wesentlich einreissenden Charakter seines Denkens[9] Anstoss nehmen und zugleich nach den Vorträgen über Kant wie jetzt wieder über Nietzsche[10] (die ich eben angelesen habe) zweifeln, ob er nicht doch gar | weit über die Köpfe hinwegredet und ob er das lebendige positive Interesse, das ich hier jetzt um mich gedrängt sehe, kräftig erhalten würde. An H[ensel] aber – das bleibt absolut unter uns! – vermisse ich bei aller Gelehrsamkeit und aller feinfühliger Anempfindung doch die selbständige, markvoll eigensichre Schöpferkraft. Und wer sonst?! Münsterberg? Das verlangte eine Gründung eines Laboratoriums[11], mit der man sich sehr anstrengen müsste, ohne doch etwas auch nur annähernd mit Harvard[12] Concurrierendes leisten zu können. Also – für das Ordinariat könnte ich nur Sie nominieren. Ob das möglich wird – ob nicht der Erfolg sein wird, dass wir auf das Ordinariat, wie ich Ihnen schon sagte, überhaupt verzichten, in welchem Falle dann aber aus der besprochenen Rücksicht selbst das Extraordinariat[13] vertagt und gegenwärtig nur die Literaturgeschichte besetzt werden würde, – das kann ich noch nicht sagen. Es hat ja Niemand Eile. Die Regierung fragt nicht an, sie wartet, bis ich komme. Die Fakultät macht es gerade ebenso. Und ich habe, in schauderhafter Korrektur, Vorlesungs, Seminar und Promotions’arbeit begriffen, nicht Zeit, herumzulaufen und mich zu orientieren. Deshalb muss ich Sie liebster Freund, bitten, Geduld zu haben und die ganze Sache vom Standpunkt völliger Ungewissheit und Problematicität zu betrachten.
Für heut – es ist sehr spät – herzlichsten Gruss! Der Ihrige wie stets
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
6↑das Ordinariat ] das 2. philosophische in Heidelberg, das in Kuno Fischers hohem Alter († 5.7.1907) vakant zu werden schien, aber nicht sicher im Stellenplan des Ministeriums für die Universität Heidelberg verankert war.7↑Max Weber’s Versetzung ] Max Weber war 1894–97 Prof. in Freiburg, 1897–1903 in Heidelberg (www.leo-bw.de).8↑der Minister ] Alexander Freiherr von Dusch (1851–1923), seit 1905 Staatsminister und Präsident des badischen Staatsministeriums, 1905–1911 Minister für Justiz, Kultus und Unterricht (www.leo-bw.de).9↑wesentlich einreissenden Charakter seines Denkens ] dieses Urteil über Georg Simmel wiederholte Windelband in seinem Gutachten zur Besetzung der 2. philosophischen Professur an der Universität Heidelberg vom 17.2.1908 fast wörtlich. Dort heißt es über Simmel u. a.: Man kann ihn keiner der allgemeinen „Richtungen“ zurechnen; er ist von jeher seinen eigenen Weg gegangen, zunächst mit äußerst scharfsinniger, aber wesentlich negativer und einreißender Kritik in seiner zweibändigen „Einleitung in die Moralwissenschaft“, dann mit immer tieferer und umfassenderer Bearbeitung der philosophischen Gesellschaftswissenschaft. Dieses Gutachten verhinderte, obwohl es für Simmel sprechen sollte, im Verein mit der offen antisemitischen Stellungnahme des früheren Heidelberger, dann Berliner Historikers Dietrich Schäfer vom 26.2.1908 die Berufung Simmels. Das Gutachten Windelbands ist mit Kommentar abgedruckt in Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 24, S. 277–283, die Stellungnahme Schäfers ebd., S. 286–289. Vgl. zum ganzen Vorgang Horst Gundlach: Wilhelm Windelband und die Psychologie. Heidelberg: University Publishing 2017, S. 261–282.10↑Vorträgen über Kant wie jetzt wieder über Nietzsche ] Simmel hat mehrere seiner verschiedenen Vorträge über Kant und über Nietzsche im Druck erscheinen lassen, vgl. Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 7 u. 8. Welche davon hier gemeint sind, ist nicht klar. 1906 war von Simmel erschienen: Nietzsche und Kant. In: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt (Neue Frankfurter Zeitung), Nr. 5 vom 6.1.1906, 1. Morgenblatt, S. 1–2.▲