Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Heinrich Rickert, Heidelberg, 6.3.1905, 4 S., hs. (lat. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_51
- Creator
- Recipient
- ParticipantsAdolf Lasson ; Auguste Comte ; Emil Lask ; Emile Boutroux ; Ernst Troeltsch ; Franz Böhm ; Friedrich Alfred Schmid ; Friedrich Alfred Schmid bzw. Konrad Arnold Schmid ; Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher ; Friedrich Wilhelm Joseph Schelling ; Georg Wilhelm Friedrich Hegel ; Heinrich Rickert ; Henri Berr ; Johann Gottlieb Fichte ; Karl Philips ; Ludwig Stein ; Maurice Straszewski ; Theodor B. G. Janssen ; Tjeed Hoekstra
- Place and Date of Creation
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- Physical LocationUniversitätsbibliothek Heidelberg
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Windelband an Heinrich Rickert, Heidelberg, 6.3.1905, 4 S., hs. (lat. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_51
Heidelberg, 6.3.05
Lieber Freund und College,
Ihren freundlichen Brief hätte ich gern schon längst beantwortet, wenn nicht der Semesterschluss so heftig[1] gewesen wäre. Hoffentlich komme ich nun nicht zu spät – zunächst um Ihnen glückliche Fahrt gen Süden und eine recht gründlich erholsame Reise zu wünschen! sodann, Sie wegen der Schleiermacherʼschen Geschichtsphilosophie zu bitten, dass Sie ganz nach eignem Ermessen verfügen! Wir haben ein paar Arbeiten über Schelling und Hegel, aber keine eigentlichen über Schleiermacherʼs Geschichtsphilosophie in Arbeit. Ein junger Holländer Theologe[2], der Schleiermacherʼs Lehre von der Persönlichkeit behandeln sollte und wollte, fand das schliesslich zu schwer und scheint überhaupt durchgebrannt zu sein; denn ich habe ihn | in den letzten Wochen überhaupt nicht mehr zu sehen bekommen. Hier ist also volle Freiheit. Nun hat allerdings Troeltsch als Preisaufgabe der theologischen Fakultät[3] für dieses Jahr gerade Schleiermacherʼs Geschichtsphilosophie gestellt. Allein er sagt mir, es sei sehr zweifelhaft, ob das überhaupt einer bearbeiten würde, noch mehr aber, ob das bei einem der etwa Möglichen bis zu einer promotionsreifen Lösung führen würde. Wenn Sie also einen tüchtigen Mann dafür haben, so steht garnichts im Wege, ihn das machen zu lassen[4]. Ja, selbst wenn gleichzeitig an beiden Orten dasselbe Thema behandelt würde, wäre es schliesslich auch kein Unglück.
Mit Alfr[ed] Schmidʼs Habilitation[5] ist es in der Tat, wie Sie vermuteten, lange nicht so gut gegangen, wie natürlich mit Lask[6], wo ja Alles vortrefflich war: namentlich war auch seine Antrittsvorlesung mit ihrer musterhaften Klarheit, | vortrefflichen Darstellung und auch physisch sehr gelungner Redeform ausserordentlich glücklich und eindrucksvoll. Alfr[ed] Schmidʼs Arbeit ist ausreichend, aber nicht hervorragend, – wohl etwas schnell geschrieben. Seinen Probevortrag dagegen, – ich bitte das natürlich unter uns zu behalten – musste ich lebhaft bedauern. Er war sehr unglücklich: sachlich nicht ausgereift, nicht durchsichtig disponiert; vor allem aber dadurch misslungen, dass er ausgearbeitet und nicht gelernt war: so war es ein halb freies, halb unfrei nach der Niederschrift haschendes Sprechen. Und auch in dem kleinen Colloquium war nicht viel Festes aus ihm herauszubekommen. So konnte ich nur mit starker Reserve die Zulassung befürworten. Aeusserlich hat er also keinen Misserfolg – aber vor den Collegen war es doch so etwas. Jedenfalls war mir nicht ganz behaglich dabei, | und wenn ich morgen mit ihm spreche, werde ich ein ziemlich ernstes Wort mit ihm zu reden haben; er muss sich zum Docieren noch sehr zusammennehmen. Aber, wie gesagt, dies unter uns!
Für Ihre Abhandlung über Geschichtsphilosophie[7] nachträglich meinen Dank! auch als Herausgeber des Buchs, für dessen zweiten Band sie die pièce de résistance[8] bildet. Welche Freude ich an Inhalt und Darstellung gehabt habe, können Sie sich vorstellen! wenn ich auch bei dem „Sein des Sollens“ etwas andre Wege gehe. Mit meinem kleinen Aufsatz habe ich Ihnen ausser der Skizze über Fichte und Comte[9] auch den Genfer Vortrag[10] noch einmal Deutsch geschickt, wegen der Discussion: erstens, weil sie so typisch zeigt, wie unfruchtbar man dabei an einander vorbeiredet, – zweitens weil ich Ihnen das Vergnügen an Steinʼs Bemerkungen nicht vorenthalten wollte, deren Torheit durch ein paar köstliche Druckfehler zu dem lustigsten Unsinn gesteigert worden ist.
Nun also gute Ferien und glückliche Reise!
Mit treuem Gruss von Haus zu Haus Ihr
W Windelband
Kommentar der Herausgeber
1↑Semesterschluss so heftig ] zu Windelbands akademischen Aufgaben trat im Winter 1904/05 sein Engagement in den Akademischen Vortragszyklen des Vereins Frauenbildung – Frauenstudium (Abteilung Heidelberg) hinzu, vgl. den Bericht über die Generalversammlung des Vereins in: Heidelberger Zeitung, Nr. 168 vom 21.7.1905, Zweites Blatt, S. 2; dazu die Ankündigung in: Heidelberger Zeitung, Nr. 8 vom 10.1.1905, Erstes Blatt, S. 2: Verein Frauenbildung – Frauenstudium. Es sei auch an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, daß Herr Geh. Rat Windelband, in Fortsetzung der akademischen Vortragszyklen, am Mittwoch, den 11. Januar mit seinen Vorlesungen über „Platons Sozialphilosophie“ beginnen wird, wieder wie bisher im Singsaale des Gymnasiums; außerdem meldet dieselbe Zeitung in Nr. 262 vom 8.11.1904, Erstes Blatt, S. 2, daß Windelband am 6.11.1904 an der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften in Frankfurt a. M. Vorlesungen zur Einleitung in die Philosophie aufgenommen habe.2↑Holländer Theologe ] nicht ermittelt. In den Heidelberger Personalverzeichnissen finden sich SS 1904–SS 1905 drei Studenten aus den Niederlanden, eingeschrieben an der Philosophischen Fakultät, die in Frage kämen: Tjeed Hoekstra, Theodor B. G. Janssen u. Karl Philips.3↑Preisaufgabe der theologischen Fakultät ] Thema: Die Geschichtsphilosophie Schleiermachers soll in ihrer begrifflichen Grundlage und in ihrem Einfluß auf seine Auffassung der Religionsgeschichte dargestellt werden, vgl. Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe Bd. 20, Briefe III (1905–1915). Hg. v. Friedrich Wilhelm Graf. Berlin/Boston: de Gruyter 2016, S. 111, Anm. 1 sowie UA Heidelberg, Theol. Fak. 60, Bl. 3 u. Bl. 9–14. Es gingen zwei Bearbeitungen der Aufgabe ein.6↑mit Lask ] vgl. Windelband an Franz Böhm vom 27.12.1904. Emil Lask habilitierte im WS 1904/05 in Heidelberg bei Windelband mit einer Schrift über Rechtsphilosophie (vgl. Lask: Rechtsphilosophie. In: Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer Bd. 2. Heidelberg: C. Winter 1905). Der Habilitationsvortrag über das Thema Hegel und sein Verhältnis zur Weltanschauung der Aufklärung fand am 11.1.1905 statt (www.leo-bw.de). Friedrich Alfred Schmid [Noerr] habilitierte 1905 bei Windelband mit einer Arbeit über: Friedrich Heinrich Jacobi. Eine Darstellung seiner Persönlichkeit und seiner Philosophie als Beitrag zu einer Geschichte des modernen Weltproblems. Heidelberg: Carl Winters Universitätsbuchhandlung 1908. Thema und Datum des Habilitationsvortrages nicht ermittelt.7↑Abhandlung über Geschichtsphilosophie ] vgl. Rickert: Geschichtsphilosophie. In: Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer … hg. v. W. Windelband. 2. Bd. Heidelberg: C. Winter 1905; dass. in: Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. 2., verbesserte u. um das Kapitel Naturphilosophie erweiterte Aufl. [in 1 Bd.] Heidelberg: C. Winter 1907, S. 529–554.8↑pièce de résistance ] frz. Kern, Herzstück, Hauptsache („Stück, das Widerstand leistet“, Küchensprache)9↑Skizze über Fichte und Comte ] vgl. Windelband: Fichte und Comte. Separatdruck: Extrait des Comptes rendus du IIme Congrès internationale de Philosophie. Genf: Henry Kündig o. J. [1905]. 7 S., pag. S. 279–293. Mit Diskussion.10↑Genfer Vortrag ] vgl. Windelband: Die gegenwärtige Aufgabe der Logik und Erkenntnistheorie in Bezug auf Natur- und Kulturwissenschaft. In: Congrès international de Philosophie. IIme session tenue à Genève du 4 au 8 Septembre 1904. Genf: Henry Kündig 1905, S. 104–119, Diskussion S. 119–124. Ein Separatdruck ist wahrscheinlich, aber bibliographisch nicht nachgewiesen. An der Diskussion beteiligten sich Adolf Lasson, Ludwig Stein, Henry Berr, Maurice Straszewski u. Emile Boutroux. Steins Beitrag ist im Kongreßbericht S. 121 mit den folgenden Worten wiedergegeben (Wortlaut wie in der Vorlage): Zwischen Ereignisswissenschaften und Gesetzeswissenschaft gähnt eine Kluft. Dort Contingenz, Freiheit, hier Nothwendigkeit und Allgemeingültigkeit. Hier fehlt die Verbindung. Ereignisse allein und ihre subjective Bewertung mögen fester Wissenskunst sein, aber sie sind keine objective Wissenschaft, die es immer mit allgemeinen Beurteilungen zu tun haben. Aber Ereignisse haben auch ihre Regelmässigkeiten und Rhythmen, wie die Moralstatistik zeigt und Kant uns schon geschildert hat. Wer soll den Koran der Bewertung aufstellen. Kommen wir nicht zu den späteren Aegyptern zurück, welche sagen, nicht der Mensch, sondern der Mensch ist das Mass aller Dinge? Sollen wir nicht einer Anarchie subjectiver Bewertung anheimfallen, oder Windelbands Normalbewusstsein acceptieren, das er uns als Gegenstand des Glaubens, nicht des Wissens gelten lässt, so gibt es nur ein Mittel, die Brücke von den Ereigniswissenschaften zu den Gesetzeswissenschaften zu schlagen, und das ist die Soziologie, welche die Regeln, Rhythmen, Gesetzmässigkeiten aufzudecken und zu formulieren hat. Die Soziologie sucht das Gesetzwiederkehrende an den Ereignissen und Geschehnissen auf wissenschaftliche Formeln zu bringen. Und hier ist der Treffpunkt von Natur und Kultur, jene Gesetzeseinheit, welcher die Philosophie aller Zeiten entgegenstrebt, ohne sie je zu erreichen.▲