Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Karl Dilthey, Heidelberg, 30.12.1903, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Dilth. 141
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- Physical LocationNiedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
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Windelband an Karl Dilthey, Heidelberg, 30.12.1903, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Dilth. 141
Heidelberg, 30.12.03
Liebster Freund,
Das alte Jahr soll nicht zu Ende gehen, ohne daß ich Dir noch einmal sage, wie glücklich und dankbar ich darüber bin, daß es mir ein reichlicheres Wiedersehen[1] mit Dir gewährt hat, als seit langer Zeit: und das war um so erfreulicher, als ich in Dir überall die alte innerliche Frische und Sicherheit Deines Wesens wiederfinden durfte. Möge Dir das erhalten bleiben zu deiner und unserer Freude!
Seit Semesterbeginn hab’ ich leider nicht mehr von mir hören lassen. Ich bin recht beschäftigt; ich habe ja in der Fakultät nach allen Richtungen mein Fach allein zu vertreten, da Kuno Fischer nicht nur amtlich beurlaubt, sondern tatsächlich so mitgenommen ist, daß er | sich um Nichts kümmern kann. Er hofft zwar in seinen wechselnden Zuständen noch immer, das Katheder im Sommer wieder besteigen zu können; aber es ist leider sehr zweifelhaft. – Neben allen diesen Geschäften geht auch die Geselligkeit[2], zum Glück nicht mehr ganz so anspruchsvoll wie im Sommer, einher, und so kommt man zum Besten, zur eigenen Arbeit, viel weniger als ich wünschte. Auch in der Familie ist wieder mancherlei los: Stutzen’s gehen nun sicher nach Bonn[3], und ich freue mich sehr für sie darüber. Die Freiburger Verhältnisse waren immerhin etwas eng und ihm z. T. lästig geworden: da kommen sie nun mit glücklicher Stellung in feinere, weitere Lebensumrisse, und das wird beiden gut tun. Natürlich hat das seine Wirkungen auch auf uns! so geht z. B. | meine gute Frau morgen wieder für einige Zeit zum Kinderhüten nach Freiburg, damit Stutzen’s inzwischen Wohnung in Bonn suchen können. Auch Dore’s Studienpläne[4] sind dadurch etwas unsicher geworden: auch Bonn hat ja solche Frauenkurse[5], und das ist unter diesen Umständen immerhin zu erwägen. Ich selbst freilich rate mehr zu Goettingen, gerade weil dort das Studium als solches für sie ungestörter sein würde, und das ist doch die Hauptsache, wenn sie sich einmal dazu entschlossen hat; und sie ist von Euch allen so liebenswürdig aufgenommen worden, daß sie sich schon ganz an den Gedanken gewöhnt hatte. Nun, die Sache wird sich ja entwickeln, ebenso wie bei Wolf[6], der nun natürlich zum Sommer auch nicht nach Freiburg geht, aber noch nicht weiß, wohin sonst. Von Goette’s[7] hatten wir zum Fest sehr gute Nachrichten; Sigfrid war selbst hier, leider nur mit kurzem Urlaub. | Jetzt ist Wolf drüben in Strassburg.
Was sagt man denn bei Euch zu dem sog. akademischen Schutzverein gegen die Buchhändler[8]? Ich finde die Sache so ungerechtfertigt wie aussichtslos; ich sehe namentlich darin ein großes Unrecht gegen unsre Verleger, und ich hätte nicht übel Lust, eine Gegenerklärung[9] zu deren Gunsten hervorzurufen. Insbesondere ist mir die Leidenschaft zuwider, mit der die Sache von Leipziger Personalgezänk aus betrieben wird. Unsre akademische Jugend, die sich überall fangen zu lassen scheint, würde sich sehr umsehen, wenn einmal die Entscheidung über den Druck ihrer Erstlingsarbeiten in die Hände akademischer Genossenschaften gelegt würde! –
Doch genug! Meine Frau und Dora tragen mir herzliche Grüße und Neujahrswünsche für Dich auf! Ich schließe die meinigen für Dich und auch mit besten Empfehlungen für Deine Wirtschafterin an! Bleibe mir gut! Dein getreuer
W Windelband
Kommentar der Herausgeber
2↑Geselligkeit ] z. B. bei dem Festessen anläßlich der Heidelberger Universitätsfeier zu Ehren Ihres Wiederherstellers, Großherzog Karl Friedrich, vom 22.11.1903, vgl. den Bericht in: Heidelberger Zeitung, Nr. 274 vom 23.11.1903, Erstes Blatt, S. 2.3↑Stutzen’s gehen nun sicher nach Bonn ] Ulrich Stutz, seit 1896 o. Prof. in Freiburg, wurde nach Bonn berufen, wo er 1904 eine Professur antrat (NDB).4↑Dore’s Studienpläne ] Dora Windelband taucht in den Mitgliederlisten der Kant-Gesellschaft 1919 als Oberlehrerin Dora Windelband, Spandau, Kaiserstr. 32 auf, vgl. auch Windelband an Paul Siebeck vom 11.10.1911, 22.3.1914 u. 28.11.1914. 1906 findet sie sich als neu in die Spandauer Höhere Mädchenschule eingetretene Oberlehrerin im: Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeinde-Angelegenheiten der Stadt Spandau für die Zeit vom 1. April 1905 bis 31. März 1906, S. 147. Ihre Ausbildung (sie gehörte auch zu den Teilnehmerinnen des 2. Internationalen Kongresses für Philosophie 1904 in Genf), vielleicht nach dem Besuch der Schule bzw. des Lehrerinnenseminars von Bertha Lindner in Straßburg (vgl. Windelband an Paul Siebeck vom 2.11.1902), vervollständigte sie in den wissenschaftlichen Fortbildungskursen für Lehrerinnen in Göttingen (s. u.), vgl. Windelband an Karl Dilthey vom 7.8.1906. Voraussetzung für den sechssemestrigen Studiengang, abgeschlossen mit einer Laufbahnprüfung zur Oberlehrerin, war nicht nur der Besuch eines Lehrerinnenseminars, sondern auch eine mehrjährige Lehrerfahrung. Wo Dora Windelband diese Erfahrung erbracht hat, ist nicht bekannt.5↑Bonn hat ja solche Frauenkurse ] in Bonn wurden wissenschaftliche Fortbildungskurse für Lehrerinnen seit Ostern 1899 durchgeführt, in Göttingen bestanden sie bereits seit 1894. Diese von privaten Initiativen bzw. eingesetzten Komitees verantworteten Kurse wurden von Professoren der jeweiligen Universitäten bestritten, jedoch überwiegend außerhalb deren üblichen Lehrbetriebs (vgl. Wissenschaftliche Fortbildungskurse für Lehrerinnen in Göttingen. In: Die Lehrerin in Schule und Haus 10 (1894), S. 275–277: Göttingen ist die erste deutsche Hochschule, deren Docenten den Lehrerinnen eine aufopferungsvolle Privatthätigkeit widmen; Wissenschaftliche Fortbildungskurse für Lehrerinnen in Bonn. In: Die Lehrerin in Schule und Haus 14 (1897/98), S. 598–600 sowie unter gleichem Titel in dass. 20 (1903/04), S. 345–347; online via www.digizeitschriften.de).6↑Wolf ] der Studienverlauf Wolfgang Windelbands rekonstruiert sich wie folgt: WS 1903/04–SS 1904 eingeschrieben an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg, WS 1904/05 für Geschichte in Berlin, SS 1905 wieder in Heidelberg, WS 1905/06 wahrscheinlich in Straßburg, SS 1906 wahrscheinlich in Freiburg, WS 1906/07–WS 1907/08 in Heidelberg, ab SS 1908–WS 1908/09 sowie WS 1909/10 im Heidelberger Verzeichnis unter den Studierenden als Dr. Windelband aufgeführt (Personalverzeichnisse Heidelberg; Hallischer Professorenkatalog). Dissertation: Badens Erwerbungen in den Koalitionskriegen (1795–1805). Tübingen: H. Laupp Jr. 1908. Vollständig erschienen u. d. T. Der Anfall des Breisgaus an Baden. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1908.8↑akademischen Schutzverein gegen die Buchhändler ] dieser Verein hatte sich in Leipzig gegründet, um – letztlich erfolglos – gegen die Abschaffung von bisher für wissenschaftliche Literatur von den Verlagen für ihre Autoren eingeräumte Rabatte zu protestieren. Einen Teilerfolg erzielte der Schutzverein durch das ihm durch das Reichsgericht in Leipzig zugebilligte Recht, eigene Werke der im Verein vertretenen Professoren von den Verlegern zu denselben Rabatten wie für Sortimentsbuchhändler nicht nur abzunehmen, sondern v. a. an Studenten weiter zu verkaufen (Hochschul-Nachrichten. Hg. v. Paul von Salvisberg, Heft 181 vom Oktober 1905, S. 11). Vgl. Karl Bücher: Der deutsche Buchhandel und die Wissenschaft. Denkschrift, im Auftrage des Akademischen Schutzvereins verfaßt. Zwei Auflagen Leipzig: B. G. Teubner 1903; Verhandlungen zwischen dem Akademischen Schutzverein und dem Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig. Stenographischer Bericht über die am Dienstag den 31. Mai 1904 im Deutschen Buchhändlerhaus zu Leipzig abgehaltene Kommissionssitzung. Leipzig: Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig 1904.▲