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- TitleWindelband an Verlag Breitkopf & Härtel, Heidelberg, 15.12.1903, 4 S., hs. (lat. Schrift), Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, 21081 Breitkopf & Härtel, Leipzig, Nr. 5895
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- Physical LocationSächsisches Staatsarchiv Leipzig
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Windelband an Verlag Breitkopf & Härtel, Heidelberg, 15.12.1903, 4 S., hs. (lat. Schrift), Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, 21081 Breitkopf & Härtel, Leipzig, Nr. 5895
Heidelberg, 15.12.03
Sehr geehrte Herren,
Indem ich Ihnen in der Anlage das mir gefälligst übersandte Manuscript[1] zurücksende, beehre ich mich folgende Bemerkungen anzufügen:
Rasmus Nielsen, von dem das übersetzte Werk handelt, scheint mir nach allem was ich von ihm teils literarisch teils aus gelegentlichen Aeusserungen nordischer Zuhörer weiss, doch nicht die Bedeutung zu haben, dass man ihn den „Philosophen des Nordens“[2] zu nennen berechtigt wäre. Das würden nicht viele seiner engeren oder weiteren Landsleute unterschreiben, und erst recht für die deutsche Philosophie, aus der die von ihm entwickelten Gedanken grossenteils stammen, kann er wohl nicht als eine solche von Norden hereinstrahlende Leuchte gelten. Die persönliche Bewunderung des Verfassers für seinen Helden in Ehren! – weit geteilt zu werden scheint sie auch in dessen Heimat nicht. Eine Notiz über Rasmus Nielsen findet sich bei Ueberweg-Heinze[3], 9. Aufl. Bd. IV. p. 516: sie dürfte so ziemlich | das Richtige treffen. Nielsen’s Denken zeigt einen der zahlreichen Versuche, die Philosophie, und zwar wesentlich die des deutschen Idealismus mit dem religiösen Bewusstsein auszugleichen: sie ist, wie auch der Verfasser weiss, eine Parallelerscheinung zu vielen andern, und ich kann, soweit die Darstellung reicht (ich kann Nielsen selbst nicht lesen), keineswegs finden, dass sie besonders originell sei. Es ist deshalb nicht zu erwarten, dass philosophische Fachleser bei uns aus dem Buche viel Neues und Wertvolles lernen werden. Aber da die Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Glauben (um die es sich doch in der Hauptsache zu handeln scheint) einigermassen auf der Tagesordnung der öffentlichen Meinung steht, so ist es nicht ausgeschlossen, dass es in weiteren Kreisen Interesse hervorruft.
Geschrieben ist das Werk offenbar mit Geist, frisch und anschaulich. Das gilt namentlich für den biographischen Teil, aus | dem auch persönlich warmes Interesse spricht. Ob auch die Darlegung der Lehre ähnlich klar und ansprechend ist, kann ich nicht beurteilen, da sie im Manuscript ausfällt. Das ausführliche Schluss-Capitel, das vorliegt, erweckt keine gleich günstige Erwartung. Es vergleicht Nielsen mir zahlreichen deutschen und ausserdeutschen Philosophen, bezw. philosophischen Schriftstellern, zeigt viel Kenntnis und auch sachgemässe, manchmal allerdings auch schiefe Auffassung: aber die Verarbeitung dieser Lesefrüchte des durchweg gebildeten Verfassers, von deren Fülle es gilt, das weniger mehr gewesen wäre, ist nicht recht durchsichtig, und giebt kein anschauliches Bild.
Die Uebersetzung scheint mir – soweit man ohne Vergleichung mit dem Original urteilen darf – recht gut zu sein. Abgesehen von einzelnen Verstössen, die zu eng wörtlichen Anschluss an das Original verraten, ist sie sehr gewandt und flüssig, zeugt von durchaus kenntnisreicher und verständnisvoller Verwen|dung der philosophischen Ausdrucksweise. Es ist mir keine Stelle begegnet, an der ich ein Missverständnis des Originals vorauszusetzen Anlass hätte. Das Ganze liest sich gut: ich bin nur den Eindruck nicht los geworden, als ob Autor und Uebersetzerin ihre tüchtige Arbeit für einen Gegenstand einsetzen, bei dem ich zweifelhaft bleibe, ob ein entsprechender Ertrag an neuer Einsicht herauskommt. Es ist sehr möglich, sogar wahrscheinlich, dass das Werk in der nordischen Literatur mit seiner Opposition gegen die[a] Richtung der Brandes u. s. w. durchaus am Platze ist und günstig wirkt: für uns liegt sein Gedankeninhalt in einer Richtung, die an tief und klar denkenden Vertretern ebensowenig Mangel hat wie an gut und eindrucksvoll schreibenden. Das Interesse an der Uebersetzung wäre wesentlich der Einblick in Strömungen, die in der nordischen Litteratur ebensowenig ausgeblieben sind wie bei uns.
Mir vorzüglicher Hochachtung ganz ergebenst der Ihrige
W Windelband
NB![b] ich möchte nicht verfehlen darauf hinzuweisen, dass ein mit Nielsen voraussichtlich genau vertrauter und nach meinen Erfahrungen[4] persönlich stets sehr liebenswürdiger Beurteiler in Prof. Harald Höffding[5] in Kopenhagen zu finden wäre.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑„Philosophen des Nordens“ ] 1903 erschien: Rasmus Nielsen, Nordens Filosof. En almenfattelig Fremstilling af Peter A. Rosenberg. København: K. Schønberg 1903, 247 S. Übersetzung nicht ermittelt. Ferner erschien: Mindeskrift over Rasmus Nielsen. Udg. paa Hundredaarsdagen efter hans Fødsel af V. Klein og P. A. Rosenberg. København: K. Schønberg 1909, 118 S.3↑bei Ueberweg-Heinze ] vgl. Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie. Vierter Theil. Das neunzehnte Jahrhundert. Neunte, mit einem Philosophen- und Litteratoren-Register versehene Aufl., hg. v. Max Heinze. Berlin: S. Mittler u. Sohn 1902, S. 515 u. 516–517 (§ 61 Philosophie in Dänemark und Norwegen, innerhalb des Referats über Sören Kierkegaard): Auch Rasmus Nielsen (1809–1884), Prof. der Philos. in Kopenhagen, war in seiner früheren Zeit eifriger Hegelianer. […] Kierkegaard hat grosse Bedeutung für das geistige Leben Dänemarks, nicht minder Norwegens, auf dem kirchlichen wie auf dem litterarischen Gebiete. An ihn schloss sich der schon oben erwähnte Rasmus Nielsen in seiner nachhegelschen Zeit an, in der er auch eifrig Naturwissenschaften trieb. Sein Hauptwerk: Grundideernes Logik, 2 Bde., 1864–1866, war die Veranlassung zu einem die Gemüther sehr aufregenden Streit zwischen den Monisten, d. h. Martensen und andererseits Bröchner und Georg Brandes, und den Dualisten, d. h. Nielsen und seinen Anhängern, die Beides: Wissenschaft und Glauben gelten lassen wollten. Ferner veröffentlichte Nielsen ausser einer Reihe Cursen „For Universitetsaaret“, wie Logik og Psychologie, Propädeutik og Logik, und vielen kleinen Schriften, Religionsphilosophie, Kopenh. 1869, und Natur og Aand (Natur und Geist), ebd. 1873. In Christiania, wo er als Gast an der Universität Vorlesungen hielt, erntete er durch diese grossen Beifall und gab sie später heraus: Hindringer og Betingelser for det aandelige Liv i Nutiden (Hemmnisse und Bedingungen des geistigen Lebens der Gegenwart), 1868. Besonnene Kritik übte gegen ihn J. M. Monrad.5↑Harald Höffding ] 1843–1931, seit 1883 Prof. an der Universität Kopenhagen. Höffding verfaßte: Geschichte der neueren Philosophie. Eine Darstellung der Geschichte der Philosophie von dem Ende der Renaissance bis zu unseren Tagen. 2 Bde., übersetzt v. F. Bendixen. Leipzig: O. R. Reisland 1896 (dazu eine kurze Besprechung von Windelband in ders.: Deutsche Litteratur der letzten Jahre über vorkantische neuere Philosophie I. Unter Mitwirkung v. P. Hensel besprochen. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 10/NF 3 (1897), S. 294–298). Nielsen ist bei Höffding nicht erwähnt.▲