Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Heinrich Rickert, Straßburg, 17.3.1901, 4 S., hs. (dt. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_32
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Windelband an Heinrich Rickert, Straßburg, 17.3.1901, 4 S., hs. (dt. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_32
Strassburg, 17.3.01
Lieber Freund und College,
Vielleicht haben Sie gelegentlich gehört, wie böse das neue Jahrhundert uns hier mitgespielt, unser Haus wieder mit hartnäckigen Influenzabazillen[1] überschwemmt hat. Namentlich zum Semesterschluß ist es mir recht wenig gut ergangen, und ich laborire an den Folgen noch derartig, daß ich nicht weiß, ob ich die nun seit drei Monaten von Woche zu Woche hinausgeschobne Absicht nach Freiburg zu kommen in der nächsten Zeit zur Ausführung, namentlich etwa zu längerer Ausführung, bringen kann. Deshalb schicke ich Ihnen hier nun endlich meine lang fällige zweite Auflage[2] und damit ein paar Kleinigkeiten, die Ihnen nichts Neues sagen – lediglich der Vollständigkeit halber.
Sobald wir uns sehen, müssen wir eine Frage erörtern, die für Henselʼs Encyclopädie[3] | praktische, für mich aber sonst theoretische Bedeutung hat. H[ensel] verlangt jetzt von mir, die Ethik zu übernehmen. Nun weiß ich aber keine Ethik zu schreiben[4], die nicht in Geschichtsphilosophie ausliefe[5]; mit bloßer „Moral“ geben wir uns doch nicht mehr ab; wir brauchen doch mindestens die concrete Sittlichkeit, und das ist eben der Staat und seine Stellung in der Geschichte. Nun glaube ich mich aber zu entsinnen, daß Sie in derselben Encyclopädie die Logik bearbeiten und dieser, wie Hensel meinte, die Geschichtsphilosophie einverleiben wollten. Dann würde es sich fragen, ob die formale und die materiale Seite der Geschichtsphilosophie sich so sondern ließen, daß sie auf Logik und Ethik reinlich verteilbar wären. Ob wir wol dies Kunststück fertig brächten? Unmöglich ist es nicht; aber es müßte gründlich | darüber geredet werden!
Was ist denn nun aus Ihrer katholischen Philosophie[6] geworden oder was soll werden? Es würde mich doch sehr interessiren, welche Stellung die Fakultät eingenommen hat; wer weiß, wann wir hier in ähnliche Lage kommen können?! Je länger ich mirʼs überlegt habe, um so richtiger erscheint es mir, sich Candidaten, deren Rechtgläubigkeit von den Interessenten für genügend erachtet wird, vorschlagen zu lassen und sie dann auf ihre wissenschaftliche Leistung hin entweder anzunehmen oder abzulehnen.
Eine andre Frage ist die Promotionsangelegenheit, – eine Frage von viel elementarerer Bedeutung. Der tückische Angriff des Preußischen Ministeriums auf das philosophische Doctorat hat ja leider alle Chancen des Erfolgs, da die preußischen Fakultäten sich auf die Dauer kaum dagegen wehren werden, zu | diesen „Mindestforderungen“[7] hinabzusteigen. Damit wird wieder ein Stein aus dem alten Bau des akademischen Leben herausbröckeln, – die Bureaukratisierung der Wissenschaft einen großen Schritt vorwärts thun. Nur die süddeutschen Fakultäten können hier versuchen, dem Verhängniß nach Möglichkeit zu widerstreben. Tübingen unter der sehr energischen Führung Sigwartʼs und wir haben zunächst das Unsrige gethan: was denkt man bei Ihnen über die Sache? sind Sie überhaupt damit schon amtlich befaßt worden? Die preußischen Fakultäten sind es bis auf den heutigen Tag nicht! Würde bei Ihnen irgend Stimmung für einen gemeinsamen Schritt[8] sein? ich denke während der Ferien auch mit Kuno Fischer[9] darüber in Verbindung zu treten.
Bei Ihnen in der Familie geht hoffentlich Alles nach Wunsch! Mit herzlichem Gruß von Haus zu Haus der Ihrige
W Windelband
Kommentar der Herausgeber
2↑zweite Auflage ] von Windelband: Geschichte der Philosophie. 2., durchgesehene u. erweiterte Aufl. Tübingen/Leipzig: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1900.5↑in Geschichtsphilosophie ausliefe ] Windelband las im WS 1900/01 in Straßburg: Ethik (Grundzüge der Moral-, Rechts- und Geschichtsphilosophie); im SS 1904 in Heidelberg: Ethik (Moral- und Geschichtsphilosophie).6↑katholischen Philosophie ] vgl. Windelband an Rickert vom 14.1.1901. Das Ministerium der Justiz, des Kultus und des Unterrichts wandte sich am 7.1.1901 nach der Berufung Matthias Baumgartners, Professor der philosophischen Disziplinen der propädeutischen Theologie an der theologischen Fakultät nach Breslau an die philosophische Fakultät Freiburg mit der Mitteilung, es sei beabsichtigt, bei der Wiederbesetzung des Lehrstuhls die seitens der theologischen Fakultät wiederholt angeregte Frage der Transferierung dieser Professur in die philosophische Fakultät zur Entschließung zu bringen. Die Frage von 1897 wurde also wieder akut, die Fakultät wehrte sich – erfolglos: Das Ministerium oktroyierte die Professur am 19.3.1901. Die Fakultät übermittelte am 22.3.1901 die Vorschläge der Berufungskommission (Entwurf, von Rickerts Hd.),: Die Fakultät ist, wie sie von vornherein vermuthet hatte, auch nach eingehender Erwägung und sorgfältiger Prüfung nicht in der Lage für die aus der theologischen Fakultät zu übertragende Professur der Philosophie einen Gelehrten katholischer Konfession als Ordinarius in Vorschlag zu bringen. Der einzige Mann, der für ein Ordinariat in Betracht gezogen werden könnte, ist Prof. Dr. Clemens Bäumker in Bonn und dieser hat leider auf die Frage, ob er geneigt sei, einem Rufe an die hiesige Universität zu folgen, geantwortet, daß man definitiv von ihm absehen möge. Daher muß die Fakultät die hohe Regierung bitten, von der Besetzung der Professur mit einem Ordinarius zunächst absehen zu wollen. | Auch die Zahl der für ein Extraordinariat in Betracht kommenden Gelehrten kathol[ischer] Konfession ist nach dem übereinstimmenden Urtheil aller, auch der kathol[ischen] Fachmänner, ebenfalls nur sehr klein; doch glaubt die Fakultät hierfür wenigstens 2 Männer gefunden zu haben, die sie in Vorschlag bringen kann (1. Adolf Dyroff, geb. 1866, Gymnasiallehrer München, seit 3 Semestern PD; 1897: Die Ethik der alten Stoa; 1899: Demokritstudien; hauptsächlich philologisch orientiert; 2. Johannes Uebinger, geb. 1854, war Lehrer der Philosophie am Priesterseminar Posen, ao. Prof. am Lyceum Hosianum Braunsberg, 1881: Dissertation über Cusanus; 1888: Die Gotteslehre des Nicolaus Cusanus; das sei literarisch ein zu kleines Gebiet). Das Ministerium teilt der Fakultät am 17.4.1901 mit, daß zum 15.4. Dyroff auf das Ordinariat berufen sei. Danach tritt häufiger Wechsel ein: Dyroff geht 1903 nach Bonn, Uebinger wird berufen, dieser erkrankt bald und fällt mehrere Semester aus, bis er 1911 in den Ruhestand tritt. An Uebingers Stelle tritt Arthur Schneider (geb. November 1876, ao. Prof. der Philosophie in München, Schüler Baeumkers), der jedoch bereits 1913 als Nachfolger Baeumkers nach Straßburg geht. Der Fakultät gelang es in Folge mit dem Argument, die Zahl derjenigen, die sich zu Lehrern für katholische Theologen eignen, ohne Priester zu sein, sei sehr klein, eine Vakanz bis 1917 zu erreichen (die Vertretung der Propädeutik übernimmt der PD Dr. Engelbert Krebs, Priester, an der theologischen Fakultät). Die Akte schließt mit der Berufung Joseph Geysers aus Münster zum 1.4.1917 (vgl. für sämtliche Nachweise UA Freiburg, B 38/131, Angelegenheiten der zweiten philosophischen Professur 1897–1916).7↑„Mindestforderungen“ ] vgl. Windelband an Rickert vom 26.3.1901 sowie z. B. UA Heidelberg, H-IV-102/132, Philosophische Fakultät 1901–02, Dekanat Bezold, Bl. 319: Das Ministerium des Kultus und des Unterrichts übersendet am 7.2.1902 der philolosophischen Fakultät der Universität Heidelberg die zwischen den beteiligten Unterrichtsministerien vereinbarten Grundsätze über die Mindestforderungen für die Doktorpromotion an den deutschen philosophischen und naturwissenschaftlichen Fakultäten vom 29./30. Juni 1901. Die Promotionsordnung sei daraufhin zu überarbeiten. Vgl. die Anlage dieses Schreibens, Bl. 320, enthaltend die erwähnten Grundsätze; dort heißt es u. a. über die Zulassung zur Promotion, diese sei geknüpft an den Nachweis der Reife eines deutschen neunstufigen höheren Lehranstalt und eines dreijährigen Universitätsstudiums, Ausnahme: entweder Anerkennung gleichwertiger ausländischer Vorbildung, oder – das wird Windelband auch in Straßburg beschäftigt haben (in den Freiburger oder Straßburger Fakultätsakten ist der Wortlaut der Mindestforderungen nicht ermittelt): 2. der Mangel dieser gleichwertigen Vorbildung ersetzt wird durch die Einreichung einer als hervorragende Leistung anzusehenden Dissertation. Die Zulassung darf in dem letzteren Falle nur auf einstimmigen Beschluß der Fakultät oder Fakultätssektion und unter Gutheißung des vorgeordneten Ministeriums erfolgen. Die Promotionsordnungen können darüber bestimmen, ob […] die Studienzeit an techn[ischen] oder anderen deutschen Hochschulen abgelegt werden darf.9↑mit Kuno Fischer ] es ist kein Schreiben in dieser Sache von Windelband an Fischer ermittelt, will man nicht jenes vom 2.11.1901 als solches verstehen.▲