Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Heinrich Rickert, Straßburg, 29.10.1898, 4 S., hs. (dt. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_26
- Creator
- Recipient
- Participants
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationUniversitätsbibliothek Heidelberg
- URN
- Social MediaShare
- Archive
- ▼
Windelband an Heinrich Rickert, Straßburg, 29.10.1898, 4 S., hs. (dt. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_26
Strassburg, 29.10.98
Lieber Herr College,
Es wird mir nun wirklich doch von Tag zu Tag zweifelhafter, ob ich in dieser Ferienzeit noch dazu komme, mit Ihnen zu reden, wie ich es gewünscht habe. Von Langackern aus[1] war es so sehr schwer, eine Treffen zu bestimmen: die Postverbindung war so schauderhaft – ich stehe z. B. hier mit der Siebeckʼschen Druckerei[2] in sehr viel besserem Verkehr als dort –, daß ich am dritten Tag vorher hätte an Sie schreiben müssen. Und so zog sich, da ich mitten in starker Arbeit steckte und allerlei Besuch sich eben einstellte, die Sache immer und immer wieder hin: zuletzt hatte ich mit Stutzenʼs[3] verabredet, noch einen Tag allein bei Ihnen zu bleiben, um dann ordentlich Zeit zu haben, auch Sie zu besuchen. Und auch das zerschlug sich im letzten Mo|ment, indem ich plötzlich nach Straßburg mußte, um als Prorector der Einweihung des neuen Justizgebäudes bewohnen zu sollen. So ist es zu dem über alle Maße irrationalen und für mich sehr betrüblichen Ergebniß gekommen, daß ich wochenlang in der Nähe von Freiburg war, ohne Sie zu sehen.
Nachher hatte ich meinem Kindern zugesagt, statt jenes Tages noch ein ander Mal während der Ferien zu ihnen zu kommen, mit der ausgesprochenen Absicht, damit in erster Linie einen Besuch bei Ihnen zu verbinden. Aber darüber ist nun bei mir der große Arbeitssturm dieses Herbstes hereingebrochen. Ich darf wohl sagen, daß ich in meinem Leben nicht so fleißig gewesen bin, wie in diesem Vierteljahr. Und wenn ich schon in Langackern alle Hände voll zu thun hatte, den Neudruck der „Geschichte“[4] im Manuskript vorzubereiten und dann in den Correkturen zu fördern, so cu|mulirte sich das hier sogleich mit derselben Arbeit an der Geschichte der neueren Philosophie[5], von welcher gleich der Neudruck beider Bände mit einem Male in Angriff genommen werden sollte. Und denken Sie, dabei schreibe ich einen Platon für Frommanʼs Klassiker[6]. Nun will ich nicht verhehlen, daß ich an diesen Arbeiten meine helle Freude habe: seit einem vollen Lustrum[7] habe ich so zusammenhangende, so von Allotrien, wie Verwaltungsgeschäften und von häuslichen Angelegenheiten nicht unterbrochene Arbeitszeit nicht genossen, und ich nutze sie gründlich aus. Niemals ist mir der Anfang des Semesters unbequemer gekommen als diesmal, und darum trachte ich, indem ich mit Sehnsucht und Neid in das schöne Wetter hinausschaue, noch danach, so viel wie möglich unter Dach zu bringen, ehe das Gleichmaß der Semestertage sich ganz über | mich gesenkt hat. Drum fürchte ich auch, sogar Allerheiligen nicht aussparen zu können; denn ich möchte gern den Platon bis zur Hauptsache überwunden haben. Das macht mir die meiste Freude, während das andre Geschäft, neuen Wein in alte Schläuche zu füllen, keine reine Freude ist. So ein Buch, das man vor 20 Jahren schrieb, ist eine Individualität geworden, hat eigne Realität bekommen, und es ist nicht schön, daran Transfusionen und orthopädische Kunststücke vorzunehmen.
Hoffentlich gehen Sie gestärkt inʼs Semester: ich hoffe, dies wird doch wenigstens Gelegenheit geben, mich persönlich davon zu überzeugen. Grüßen Sie Herrn[a] Lask[8]: er soll nicht allzuviel einhamstern!
Hensel habe ich vergebens versucht nach Rostock[9] zu bringen; sie haben ihm Erhart[10] vorgezogen. Leider scheint er doch in Heidelberg[11] nicht allzu gern zu sein.
Ihrer Frau Gemahlin meine beste Empfehlung und auch meinen herzlichen Dank für die gütige Heilung des Schadens an dem Gyps[12] bei Stutzen. Meine Frau grüßt bestens, und ich verbleibe in aller Freundschaft der Ihrige
Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑Siebeckʼschen Druckerei ] zur Vorbereitung der 2. Aufl. von Windelbands Geschichte der Philosophie. Tübingen/Leipzig: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1900.4↑Neudruck der „Geschichte“ ] bei Mohr-Siebeck, s. o. u. vgl. Windelband an Breitkopf & Härtel vom 16.8.18985↑Arbeit an der Geschichte der neueren Philosophie ] vgl. Windelband an den Verlag Breitkopf & Härtel vom 16.8.18986↑Platon für Frommanʼs Klassiker ] Windelband: Platon. Stuttgart: Frommann (E. Hauff) 1900 (Frommanns Klassiker der Philosophie Bd. 9).8↑Lask ] Emil Lask (1875–1915), Studium (u. a. bei Rickert und Windelband als deren bedeutendstem Schüler) 1894 in Freiburg, 1896/97 in Straßburg, 1898–1901 wieder in Freiburg, Promotion bei Rickert über Fichtes Idealismus und die Geschichte, im WS 1904/05 in Heidelberg bei Windelband über Rechtsphilosophie habilitiert. Antrittsvorlesung am 11.1.1905. PD, 1910–1913 ao. Prof., Mitdirektor des Philosophischen Seminars. Im 1. Weltkrieg Meldung als Freiwilliger, gefallen am 26.5.1915 (Uwe Bernhard Glatz: Emil Lask. Philosophie im Verhältnis zu Weltanschauung, Leben und Erkenntnis. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001).10↑Erhart ] gemeint: Franz Erhardt (1864–1930), 1891 in Jena habiliert, 1899 nach Rostock berufen (BEdPh).▲