Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Heinrich Rickert, Straßburg, 26.12.1896, 7 S., hs (dt. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_23-24
- Creator
- Recipient
- Participants
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationUniversitätsbibliothek Heidelberg
- URN
- Social MediaShare
- Archive
- ▼
Windelband an Heinrich Rickert, Straßburg, 26.12.1896, 7 S., hs (dt. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_23-24
Strassburg, 26.12.96
Lieber Herr College,
Die Schwierigkeiten, in welche Ihre Fakultät durch den Tod Naudé’s[1] kommt, sind gewiß nicht geringe; wir wissen sie hier sehr zu schätzen, da sie uns schon zum Bewußtsein kamen, als eine Zeit lang uns der Verlust Varrentrapp’s[2] zu drohen schien. Es waren Rücksichten auf die Gesundheit seiner Familie, Frau und Sohn, welche ihm nach ärztlicher Meinung gebieterisch die Uebersiedlung in ein besseres Klima aufzunötigen schienen: und wenn wir auch (es handelt sich um nervöse Leiden) viel Suggestives in diesen Verhältnissen fanden und das Mittel für aussichtslos hielten, so konnten wir doch es nicht verantworten, ihm dreinzureden, als wiederum Marburg, der Ort den er genau kennt, wo seine halb erblindete Schwiegermutter im eignen Hause allein wohnt, ihm seine Thore öffnen | zu wollen schien. Da ereigneten sich hier sehr merkwürdige Dinge, und es wurde zweifellos klar, daß sein Fortgang für die Ultramontanen der willkommenste Anlaß sein würde, die gierigen Hände nach Baumgarten’s Professur[3] auszustrecken, und das die Aussichten der Universität bei dem bevorstehenden Kampfe nicht die günstigsten und sichersten sein würden. In dieser Lage faßte V[arrentrapp] einen edlen Entschluß von wahrhaft bewunderungswürdiger Selbstlosigkeit: er erklärte, daß er bleiben würde, um den Posten zu halten, und veranlaßte die Marburger, ihn von Ihrer Liste abzusetzen. So liegen die Dinge, und ich glaube nicht, daß, nachdem er unter diesen Umständen sich eben, schwer und langbedacht[a], für das Bleiben entschlossen hat, und das in diesem Falle aus einem seltenen Idealismus, (den er nie bereuen möge!) – ich glaube nicht, daß er da für Freiburg zu haben sein wird. Ehe man seine hochherzige Gesinnung | so ganz kannte, meinte man wohl, er sei es müde, die giftigen Angriffe der Ultramontanen zu erdulden: das ist aber nicht wahr, und wenn es wahr wäre, so wäre es kein Grund nach Fr[eiburg] zu gehen, wo sie ja seiner ebenso harren würden. Noch weniger aber ist es zutreffend, daß er der Concurrenz mit Bresslau hätte weichen wollen. Mit dem steht er, so viel ich weiß, sehr gut, obwol dieser ihm an Lehrerfolg wol in der Tat über ist. V[arrentrapp] spricht außerordentlich gut und gewandt, in tadellos glatten Perioden: aber er hat das Pathos der Sybel’schen Schule[4], welches den Geburtstag der Helden mit gleichem Gewicht verkündet wie ihre Taten, und das ist nicht der Ton für unser Banausenvolk. Darum bleibt er aber doch für bessere Leute ein tüchtiger Docent[b], der namentlich im Seminar sehr segensreich wirkt. Indessen, wie gesagt, ich glaube nicht, daß Sie jetzt mit der Möglichkeit, ihn zu bekommen, rechnen dürfen.
Mit Fester[5] ist es mir so ergangen: als er sich, ein frischer, lebhafter Mensch, zum | Staatsexamen meldete, hatte er noch keinen Philosophen gelesen und kaum ein Colleg gehört. Im Laufe der Unterhaltung merkte ich, daß ich es mit einem gescheiten[c] Menschen zu tun hätte, dem man etwas zumuten dürfe, und stellte[d] ihm die Aufgabe, Kant’s Geschichtsphilosophie in ihrem Verhältniß zu Rousseau darzustellen. Es lief eine Arbeit ein, welche tüchtiges Studium und gutes Verständniß bei lebhaftem Interesse bekundete. Das mündliche Examen und ein Privatgespräch führte dazu, daß das schnell erwachte Interesse an der Sache erst durch eine Erweiterung des Thema’s zu befriedigen sei. Er ging ab, und ich vergaß ihn und die Arbeit – da erhielt ich Jahre darauf, völlig überrascht, das mir gewidmete Buch. Dazu habe ich also nur die erste Anregung durch jenes Examenthema und dessen ganz allgemeine Besprechung gegeben. Leider ist es dem Autor nicht günstig gewesen: daß er „unter die Philosophen“ gegangen[6] war, haben ihm Baumgarten und Scheffer[7] nie verziehen; auch unsere jetzigen Historiker betrachten ihn kühler als ihre Jünger, welche | Urkunden herausgeben und Akten-Echtheit prüfen. Und doch hat er auch solche Handwerksarbeit geleistet, und wie man sagt, nicht schlechter als andre. Aber ich glaube, er hat den Nachteil, daß er nicht so recht in einem Verbande steht, sondern etwas für sich seine eignen Wege geht. Wie sich der Wert seiner spezifisch historischen Arbeiten steht, muß Simson[8] beurteilen, der ja in ähnlicher Einsamkeit ist: persönlich ist er mir stets als ein Mann von reichen Interessen und vielseitiger Bildung, von Verständnis und Geschmack erschienen, manchmal etwas präziös und „geistreich“, aber dabei von ernstem Streben und ehrlicher Gesinnung. Ob es möglich wäre, ihn neben oder gar vor Michael[9] zu setzen, vermag ich nicht zu sagen, da ich von dem letzteren nichts weiß, als daß Sie ihn sich stellen, wie es auch Bresslau tut: und danach scheint es mir fraglich, ob der historische Wertunterschied es gestattet, denjenigen der Jahre zu vernachlässigen: beide werden doch | ungefähr gleich alt sein. Abgesehen aber von solchen Vergleichen, die ich nicht anstellen kann, muß ich Fester meinenteils als durchaus empfehlenswert betrachten. Freilich trifft das nur die Person, von der Lehrtätigkeit weiß ich garnichts; zutrauen würde ich ihm, interessant zu reden. Sollte also z. B. Michael nach Marburg kommen, so schiene mit unter den Jüngeren Fester für Fr[eiburg] entschieden zuerst zu nennen.
Mich hat ihn letzter Zeit die leidige Rezensirerei für das Archiv[10] sehr in Anspruch genommen; es ist doch ein trauriges Geschäft. Dazu kommt hier die Elsasser Revolution an der Universität[11]; es ist wenigstens einigermaßen interessant jetzt, hier zu leben, und zugleich lehrreich, auch für logische Ueberlegungen, indem man lernt, den Umfang des Terminus „unmöglich“ immer enger einzuschränken, und insbesondere die empirische Bestä|tigung dafür findet, daß der Satz vom Widerspruch kein Naturgesetz ist (er müßte sonst auch für Journalisten und Studenten gelten) sondern nur eine der Normen, welche wir armseligen Theoretiker aufstellen, um uns über ihre Uebertretung zu wundern.
Hoffentlich haben Sie mit Ihrer Familie den festlichen Jahresschluß ebenso wohl begonnen, wie wir; ich bin mit herzlichem Gruß und Neujahrswunsch von Haus zu Haus Ihr getreuer
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Naudé’s ] der Historiker Albert Naudé (geb. 1858), seit 1893 Prof. in Marburg, war am 17.12.1896 gestorben (ADB).2↑Verlust Varrentrapp’s ] der Historiker Conrad Varrentrapp war von 1874–90 und von 1901–09 Prof. in Marburg, dazwischen in Straßburg (Helmut Holzhey: Cohen und Natorp Bd. 2. Basel, Stuttgart: Schwabe 1986, S. 159).3↑Baumgarten’s Professur ] Hermann Baumgarten (1825–1893), Historiker, 1872–1890 Prof. in Straßburg (NDB).5↑Fester ] der Historiker Richard Fester (1860–1945) verfaßte als Straßburger Promotionsschrift: Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Idealismus. Stuttgart: Göschen 1890, mit eingedruckter Widmung an Windelband.6↑„unter die Philosophen“ gegangen ] zuvor hatte Richard Fester als Historiker promoviert, vgl. Festers Straßburger historische Dissertation von 1886: Die armirten Stände und die Reichskriegsverfassung (1681–1697).8↑Simson ] Bernhard von Simson (1840–1915), Historiker, seit 1874 an der Universität Freiburg (NDB).9↑Michael ] vermutlich gemeint: Emil Michael (1852–1917), Historiker, 1874 in den Jesuitenorden eingetreten, 1883 Priesterweihe. 1888 promoviert, 1895 o. Prof. Innsbruck (http://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_M/Michael_Emil_1852_1917).10↑Rezensirerei für das Archiv ] vgl. Windelband: Deutsche Litteratur der letzten Jahre über vorkantische neuere Philosophie. Unter Mitwirkung v. P. Hensel besprochen. I. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 10/NF 3 (1897), S. 290–312, Windelbands Anteil S. 290–298; sowie als Herausgeber: Deutsche Litteratur der letzten Jahre über vorkantische neuere Philosophie. Unter Mitwirkung v. P. Hensel besprochen. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 10/NF 3 (1897), S. 411–428.▲