Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Heinrich Rickert, Straßburg, 3.7.1896, 8 S., hs. (dt. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_18
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Windelband an Heinrich Rickert, Straßburg, 3.7.1896, 8 S., hs. (dt. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_18
Strassburg, 3.7.96
Lieber Herr College,
So schrecklich waren seit mehr als einer Woche meine Examensnöthe – große Arbeiten für Staats- und Doctorprüfung durchzuarbeiten und tagelang in dem unglücklichen Vorsitz die Zeit zu verthun –, daß bis gestern Ihr Buch[1] unaufgeschnitten auf meinem[a] Tische lag. Da aber hat eine mitleidige Erkältung, die so kräftig war, daß ich den ganzen Tag nicht ausgehen konnte und Vorlesung nebst Seminar sparen mußte, mir endlich die lang ersehnte Zeit dafür gewährt. Und nun danke ich Ihnen herzlichst für den großen und ungetrübten Genuß, den Sie mir beschert haben, indem ich es nun sozusagen auf Einen Sitz durchgelesen habe. Alle Befürchtungen[b], die Sie mir erweckt hatten, wenn Sie darüber sprachen, daß Sie selbst mit der Ge|stalt, welche die Sache schließlich gewonnen, nicht zufrieden seien, – Befürchtungen, die ja wohl bei Ihren Erlebnissen seit dem Winter[2] hätten begründet sein können, – alle diese Befürchtungen sind in der glücklichsten Weise als grundlos erwiesen. Sie haben Ihren Gedankengang in so siegreicher Durchsichtigkeit und mit so klarer Folgerichtigkeit entwickelt, daß er nicht nur ein Versuch, sondern der gelungene Versuch ist, „den Leser zum Verständnis zu zwingen.“[3] Sie dürfen persönlich – wenn Sie mir gestatten wollen, dies auszusprechen – diese Leistung als einen sicheren Beweis Ihres wissenschaftlichen Berufs ansehen: in solchen Zuständen, wie denen dieser Monate[c], die Sicherheit der Darlegung, die Abgeklärtheit der begrifflichen Entwicklung zu bewahren, die in diesem Buche walten, – das wird Wenigen gelin|gen. Es setzte selbstverständlich voraus, daß Sie Sich Ihrer Sache längst versichert hatten; aber ich finde auch, daß die knappe, stets nur das Wesentliche scharf heraushebende Art, in der Sie den Leser durch die Seitengänge der Beweisführung leiten, außerordentlich geglückt ist. Eine Fülle schwieriger und zum Theil weit auseinander liegender Litteratur ist hier verarbeitet, die Aufgabe des Philosophen, da anzufangen, wo die andern Wissenschaften durch ihre letzten Begriffe und Theorien uns die Probleme überliefern, kann nicht einfacher zugleich und einleuchtender zu Bewußtsein gebracht und in wertvoller Lösung vorgeführt werden. Es ist wieder einmal ein Buch, das wirkliche, echte Philosophie enthält, und wenn noch irgend Vernunft in der Welt ist, so muß dies anerkannt | werden. Selbst die Naturforscher dürfen nicht scheel sehen, wo ihre Arbeit so hoch gewürdigt und vor allem, wo sie so in der Tiefe verstanden und logisch formulirt, so zugleich bis in die besonderen Theorien der neusten Zeit hinein verfolgt ist.
Wie sehr ich sachlich zustimme, brauch’ ich nicht zu sagen; aber nicht verschweigen darf ich, daß ich auf dem Boden unsrer gemeinsamen Ueberzeugungen gar oft mit freudiger Anerkennung ausgestaltet und sicher herausgearbeitet gefunden habe, was sich mir noch nicht in solcher Weise geklärt hatte. Aus dem Allgemeinen hebe ich dabei die Ausführungen hervor, in denen die Begriffe Natur und Geschichte von allen materialen Bestimmungen losgelöst und in ihrer rein logischen Antithese blosgelegt werden, – aus dem | Besonderen die Entwicklung des III. Abschnitts im dritten Capitel, die historischen Bestandteile in den Naturwissenschaften; ich habe mir das mit dem größten Interesse zu eigen gemacht und construire mir im Stillen das Parallelcapitel in Ihrem zweiten Teil[4], – wie ich denn nun natürlich auf diesen immer begieriger werde. Möchte Ihnen dazu bald Zeit, Kraft und Stimmung beschieden sein! ja, möchten Sie in dieser Bewährung Ihrer eigensten Natur Trost für all die Unbill finden, die Ihnen widerfährt!
Und also nochmals besten Dank! Ich hoffe mit Ihnen noch mündlich auf Einzelnes zurückzukommen. Und noch ein Äußerliches. Wenn Siebeck noch nicht verschickt hat, – sehen Sie doch zu, ob er nicht, am Anfang oder Ende einzukleben, ein Blatt für eine Inhaltsangabe[5] übrig hat! Sie glauben nicht, | wie wichtig das bei dem Durchschnitt der Menschen ist: und Ihre Ueberschriften der Capitel und der Abschnitte würde die Neugier so reizen! ich verstehe nicht, wie ein so erfahrener Buchhändler das hat versäumen können! Auf dem innern Deckblatt, statt der Anzeigen, hätte es Ihrem Buche entschieden genützt! –
Von Hensel hörte ich gestern, daß Ihre Freiburger Angelegenheit[6] so ungünstig wie möglich läuft. Ich bin tief betrübt darüber; ich bitte Sie nur um Eins: fassen Sie, was auch geschehe, keine zu heftigen und schnellen Entschlüsse! Es ist ja noch allerlei in der Welt los. Von Rostock[7] war ich verhältnismäßig spät befragt worden; ich wollte, da ich wußte, daß ich gefragt werden sollte, absichtlich nicht eher spontan schreiben. Und | so war es denn glücklich, daß als ich in die Lage kam, dorthin zu schreiben, ich bereits Witterung von dem Laufe der Dinge in Freiburg hatte. Unter diesen veränderten Umständen verstand es sich natürlich von selbst, daß ich unbedingt und in erster Linie mit aller Energie für Sie eintrat. Auch dabei bin ich ja wieder in guter Gesellschaft, und so hoffe ich, daß dort vielleicht die sachlichen Momente über persönliche und zufällige siegen! –
Noch eine Kleinigkeit, die ich stets wieder vergesse. Vor Jahren hörte ich von Riehl oder meinem Schwager[8], es fände sich in den Akten des Freiburger philos[ophischen] Seminars ein Blatt von mir, das allerlei ulkhafte Bemerkungen über die Seminarmitglieder enthalte. ich entsinne mich solcher Aufzeichnungen kaum; ich weiß auch nicht | einmal mehr, ob ich, wie es bei der ersten Mitteilung sogleich meine Absicht war, Riehl gebeten habe, dies Blatt, falls es existirt, zu vernichten. Ich wollte ihn immer danach fragen, er ist ja aber schließlich abgedampft, ohne daß ich ihn noch zu sehen bekommen hätte. Nun möchte ich Sie, der Sie ja jetzt dies Seminar verwalten, bitten, falls sich solch ein Blatt[9] darin findet, das sich nur darin verlaufen haben kann und nicht hineingehört, es jetzt zu vernichten. –
Mit herzlichstem Gruß von Haus zu Haus und mit den besten Wünschen für Sie Ihr treu ergebner
Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Ihr Buch ] Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. Tübingen/Leipzig: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1896.3↑„den Leser zum Verständnis zu zwingen.“ ] Zitat nach Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Teil 4.5↑Inhaltsangabe ] Rickerts Buch erschien ohne jedes Inhaltsverzeichnis und mit der Vorbemerkung: Ueber den Zweck und die Gliederung der Arbeit, deren erste Hälfte hier vorliegt, giebt die Einleitung Auskunft. Ich versuche die Grenzen der Naturwissenschaft aufzuzeigen, um dadurch einen Einblick in das Wesen der historischen Wissenschaften zu gewinnen. So zerfällt das Ganze in zwei Theile, und auf den einen passt mehr der erste, auf den anderen mehr der zweite Titel der Schrift. Der vorliegende Theil hat die Aufgabe zu zeigen, was nicht Geschichte ist. Er bildet mit Rücksicht darauf ein abgeschlossenes Ganzes, und ich veröffentliche ihn gesondert von dem zweiten, der versuchen soll, das logische Wesen der historischen Darstellung positiv zu entwickeln, weil sich mir darin bei der Formulirung von Einzelheiten noch Schwierigkeiten ergeben haben, deren Ueberwindung ich wegen anderer Arbeit für einige Zeit hinausschieben muss. Doch wird die zweite Hälfte voraussichtlich noch in diesem Jahre nachfolgen können. Freiburg i. B., April 1896. Den selbstgesetzten Termin hat Rickert nicht einhalten können. Die zweite Hälfte erschien erst 1902.▲