Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Heinrich Rickert, Straßburg, 3.12.1895, 4 S., hs. (dt. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_16
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Windelband an Heinrich Rickert, Straßburg, 3.12.1895, 4 S., hs. (dt. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_16
Strassburg, 3.12.95
Lieber Herr College,
Der heutige Nachmittag, an dem sich ja wohl auch andre Leute lebhaft mit Ihnen beschäftigt[1] haben, brachte mir die bisher durch allerlei Beschäftigungen und Erlebnisse vorenthaltene Freude, Ihre Bogen[2], für deren Uebersendung ich bestens danke, durchlesen zu können, und ich sehe nun voll größter Befriedigung der Fortsetzung mit noch gespannterer Erwartung entgegen als zuvor. Die Einleitung mit dem durchsichtig überzeugenden Plan des ganzen hat mich äußerst sympathisch berührt, wie Sie ja wohl denken können; und wenn Sie mir neulich das Verdienst zuschrieben, durch unsern Verkehr Einiges davon angeregt zu haben, so sehe ich, reichlich belohnt, nun mich lebhaft gefördert durch | die neue Eigenart des Weges, auf dem Sie das gemeinsame Ziel, die Einleitung in die historischen Wissenschaften suchen. Es ist jedenfalls ein sehr glücklicher Gedanke, das Wesentliche in der Bearbeitung der Begriffslehre zu concentriren, und ich hoffe, er wird die gewünschte Frucht tragen: die Probleme auf eine systematische Einheit zusammenzuziehen. In den folgenden Bogen die Veränderungen gegen die Darstellung in der Vierteljahrsschrift[3] im Einzelnen zu verfolgen, hatte ich noch nicht Zeit: nur für ihre Einfügung in den Gesammtplan, sind mir Fragen noch mehr als zuvor aufgetaucht, welche sich mehr auf Ihre Darstellung und Entwicklung der Gedanken und Resultate, als auf diese selbst beziehen. Der Kern davon – schwer brieflich kurz zu bezeichnen – ist der: je mehr ich damit einverstanden bin, daß Naturwissen|schaft und Geschichte Gegensätze der Methoden sind, daß dieselben Objekte unter beide Methoden fallen können und daß nur gewisse Grenzfälle sich zeigen, in denen nur eine davon zutrifft (Sie haben das p. 28. viel besser auseinandergesetzt, als es in den Andeutungen meiner Rectoratsrede[4] geschehen ist), – um so mehr fiel es mir auf, daß Sie den Weg einzuschlagen scheinen, die naturwissenschaftliche Begriffswelt aus der Art ihres Objects, der Körperwelt, abzuleiten. Eigentlich tun Sie es auch, soweit ich sehe nicht: aber (oder denn!) man fragt sich sogleich: Ist denn die extensive und intensive Unendlichkeit, um deren Ueberwindung es sich in der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung handelt, nur der Körperwelt eigen? trifft sie nicht auch für die psychische und (was noch gewichtiger ist) für die historische Welt zu? Nicht in der Eigenart des Physischen, sondern in dem Zwecke | der theoretischen Vereinfachung liegt der Springpunct der naturw[issenschaftlichen] Methode, während Sie den der historischen, wenn ich recht vermute, doch in den Werthen suchen werden. Das betrifft, wie Sie sehen, nur die Art der Entwicklung des Gedankens; aber es schien mir damit zusammenzuhängen, daß Sie bei der – mir sonst völlig einleuchtenden – Entwicklung der Momente des Begriffs (Allgemeinheit, Bestimmtheit, Geltung) niemals auf das Eigenwesen der Körperwelt recurriren – und mit Recht! Sonst hätte die „Bestimmtheit“ sogleich in die Quantification übergehen müssen, und dann wäre die Einordnung der Psychologie in diese Methode fraglich geworden. Sie verzeihen dieses Bedenken gegen das Fragment: ich sehe voraus, daß es durch das Ganze schließlich gehoben wird; aber es schien mir nicht in Ihrem Sinne zu sein, daß zunächst der Schein entsteht, als ob Sie p. 32 ff. die „naturwissenschaftliche“ Begriffsbildung aus einer sachlichen Besonderheit der Körperwelt ableiten und sie dadurch begründeten, während Sie sie doch nur daran darstellen und das entscheidende Moment der Erkenntnißpunct[a] der Vereinfachung ist, der unter Umständen auch für alle andern Objecte gelten kann. Oder irre ich darin?
Aber es ist spät, ich schließe mit herzlichstem Dank und hoffnungsvollem Gruß als Ihr getreuer
Windelband[b]
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑Ihre Bogen ] von Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. Tübingen/Leipzig: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1896.3↑Darstellung in der Vierteljahrsschrift ] vgl. Rickert: Zur Theorie der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 18 (1894), S. 277–319.▲