Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Karl Dilthey, Freiburg i. Br., 10.8.1882, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Dilth. 141
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- Physical LocationNiedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
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Windelband an Karl Dilthey, Freiburg i. Br., 10.8.1882, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Dilth. 141
Freiburg i B. 10 Aug[ust] 1882
Liebster Karlo
Seit einem Jahr[1] gehe ich nun schon mit dem Gedanken um, Dir zu schreiben; und immer wieder ist seine Verwirklichung vor mir hergeflohen. Gleich nach den reizenden Tagen, in denen Du mir echt antike Gastfreundschaft gewährtest, umfing mich Badebummelleben; dann gab’s nachher in Potsdam-Berlin recht bewegte Hochzeitszeit[2], dabei mancherlei Ungemach durch eine schwere Erkrankung meiner Tante[3]; wodurch ich auch bis zum letzten Moment so festgehalten war, daß wir auf der Rückfahrt keine Station mehr machen konnten und, da wir andere Route wählten, nicht einmal durch G[öttingen] fuhren. Und für dies Sommersemester mußt Du mir nun garnicht böse sein: denn es war bewegt genug! Du kannst Dir denken, daß es uns nichts Leichtes war, die Freiburger Idylle aufzugeben[4], an der wir mit so vielen Fäden hängen: was den Ausschlag gab, waren schließlich zwei Ueberlegungen: die eine, daß | es eben für die Zukunft doch nicht angeht, Strassburg abzulehnen, und daß ich – nach manchen andren Ablehnungen die Vorstellung nicht aufkommen lassen durfte, als wollte ich mir ein Erbbegräbniß kaufen: die andre ist innerlicher und privater. Sie beruht auf der mehr und mehr sich in mir fühlbar machenden Unbefriedigtheit mit meiner hiesigen Wirksamkeit, die ja quantitativ recht stattlich und für hiesige Verhältnisse sehr erfolgreich war, aber qualitativ desto mehr zu wünschen ließ. Du weißt, wir haben hier so gut wie keinen Philologen, schon deshalb, weil wir in dieser Hinsicht nur der Rumpf einer Fakultät sind; und doch sind es schließlich nur die Philologen, aus denen der Philosoph im Allgemeinen sich constante Zuhörer und solche heranziehen kann, welche schon für ihr Examen die Sache ernster nehmen und arbeiten müssen. Das fehlt mir; ich habe hier eine einzige Arbeit aus dem von mir gegründeten Seminar[5] hervorgehen sehen, – sie stammt von einem Gymnasiallehrer[6]! Den Grundstock bildeten für meine Vorlesungen Theologen und Juristenfüchse[7], an denen die Sache schließlich vorüberrauschte! Und solchem fluctuirendem Zuhörermaterial gegenüber | mangelte fast von selbst der Trieb, die Lehrthätigkeit selbst zu verbessern; ich hätte fürchten müssen, mit der Zeit hier zu verbummeln. Nach Str[aßburg] gehe ich mit der Hoffnung, dort zu wachsen mit dem höheren Zweck. Man erwartet von mir – ganz entre nous! – die Bekämpfung des Positivismus, der der dortigen Universität den Stempel des Radikalismus aufzudrücken droht. Es werden schwierige Verhältnisse sein, die mich dort erwarten, das weiß ich, und den Frieden lasse ich hier. Aber ich habe dort etwas zu leisten, – während hier jetzt jeder die Tradition aufrecht erhalten wird. Dabei hoffe ich mir selbst mehr zu genügen, als es hier in den letzten Jahren der Fall war. Solches aber sagt man natürlich nur dem Freunde.
Am liebsten mündlich. Und ich hoffe, daß, wenn Du wieder nach dem Süden gehst, Du diesmal nicht an uns vorübersausest, bester Karlo! Bis Ende September hier, vom 1 Oct[ober] an in Str[aßburg]. Dabei bemerke ich ausdrücklich, daß Str[aßburg] ganz ebenso wie Fr[eiburg] an der Reiseroute liegt, wenn man nur will! Mainz – Strassburg – Basel ist gerade so nahe, wie Frankfurt – Freiburg – Basel!! was meine Frau und ich Dir drin|gend ans Herz legen: und da wir annehmen, daß Du wieder irgendwie gen Süden wollen wirst, so hoffen wir sicher, Dich im Herbst noch bei uns zu sehen!
Von Herzen hab’ ich mich gefreut, daß die lang verschleppte Berliner Frage endlich zu Gunsten Deines Bruders[8] sich entschieden hat! Gern hätte ich ihm selbst geschrieben; aber ich hörte, er sei schon abgereist, – und zwar durch Alfr[ed] Dove, der, wie er schon im Einverständniß mit Deinem Bruder präliminarisch bei mir anfragte, ob ich in diese Bewegung hineingezogen zu werden wünschte. Wenn das Ja, das ich darauf geantwortet, zum guten Ende führt, soll es mich sehr freuen! Jedenfalls bitte ich Dich, wenn Du Deinen Bruder siehst, ihm herzlichen Gruß [un]d Glückwunsch auszurichten.
Du aber, liebster Carlo, sei ein guter Christ, – vergilt Böses mit Gutem und schreib uns bald Gutes von Dir! und das Beste: Deinen Besuch!
Meine Frau und Deine Freundin Dora grüßen Dich! In alter Treue Dein
W Windelband
Kommentar der Herausgeber
2↑Hochzeitszeit ] die Hochzeit von Windelbands Schwägerin Marie Eugenie Elsbeth Wichgraf (1859–1937) mit Johannes von Kries (1853–1928; 1880 ao. Prof. für Physiologie in Freiburg, 1883 dort o. Prof.) am 6.10.1881 (NDB; https://www.janecke.name/gaeste/wichgraf-in-potsdam; 10.3.2017).4↑Freiburger Idylle aufzugeben ] vgl. die Mitteilung der ministeriellen Bewilligung der Entlassung Windelbands zum 1.10.1882 (Senat der Universität Freiburg an Philosophische Fakultät vom 27.6.1882), UA Freiburg, B 38/125 Beilagen zu den Protokollverhandlungen des Dekans Emil Warburg 1882-1883. Dort auch das Zirkular der Philosophischen Fakultät vom 19.7.1882: Am Sonnabend d[en] 29ten Juli 700 Uhr wird dem Brauche gemäß ein Abschiedsessen zu Ehren des scheidenden Collegen des Herrn Hofrath Windelband im Museum Statt finden. Zur Betheiligung an diesem Feste werden die Herren Docenten der Universität sowie der Herr Oberbibliothekar hiermit freundlichst aufgefordert. Preis des trockenen Couverts 4 Mark. Warburg d[er] Z[eit] Decan d[er] phil[osophischen] Fac[ultät]5↑von mir gegründeten Seminar ] vgl. Windelband: Das philosophische Seminar. In: Die Universität Freiburg seit dem Regierungsantritt Seiner Königlichen Hoheit des Grossherzogs Friedrich von Baden. Freiburg i. Br./Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1881 (Die Universität Freiburg 1852–1881), S. 121: Das philosophische Seminar ist auf den Antrag des Unterzeichneten durch Grossherzoglichen Ministerial-Erlass vom 3. April 1880 gegründet worden: sein Zweck ist in erster Linie die Einführung der Studirenden in das Verständniss philosophischer Werke, in weiterer Aussicht die Anregung derselben zu selbstständiger Arbeit in den philosophischen Disciplinen. Ein Aversum von 300 Mark jährlich ist theils zur Beschaffung der literarischen Hülfsmittel, theils zu Prämien für die Theilnehmer bestimmt. Da der Besitz eines eigenen Zimmers für das Seminar bei den gegenwärtigen Raumverhältnissen der Universität leider nicht zu erreichen ist, so geniesst dasselbe die Gastfreundschaft des mathematischen Seminars im Aud[itorium] Nr. 17 der „Neuen Universität“. In diesem Auditorium ist auch der Bibliothekschrank des Seminars aufgestellt. Für den Sommer des Jahres 1880 liessen sich keine Uebungen mehr einrichten, und es wurden die Mittel zur Anlage eines historisch-encyklopädischen Grundstocks der Bibliothek verwandt, welcher in der Folge mit Rücksicht auf den jeweiligen Arbeitsgegenstand vervollständigt werden soll. Im Wintersemester 1880–81 wurden Descartes’ Meditationes de prima philosophia gelesen; im gegenwärtigen Sommer wird den Uebungen die Lektüre von Platon’s Phaedon zu Grunde gelegt. Es betheiligen sich daran neun Herren, fast sämmtlich schon im vorgerückteren Studienalter, darunter einige, welche zu speziell philosophischen Studien die hiesige Universität bezogen haben.6↑Gymnasiallehrer ] die Rede ist von Benno Rüttenauer (1855–1940), Schriftsteller, zunächst im Schuldienst (Gymnasium) nach Besuch des Lehrerseminars zu Ettlingen (WBIS), Freiburger Dissertation: Zur Vorgeschichte des Kriticismus und Idealismus. 44 S., keine Vita; Widmung: Mit grosser Genugthuung benutze ich diese Gelegenheit, meinem verehrten Lehrer der Philosophie Herrn Hofrat Prof. Dr. Windelband für dessen mehrjährige, so liebenswürdige und anregende Leitung meiner Studien meinen tiefgefühlten Dank öffentlich auszusprechen. Um Rüttenauers Promotion entspann sich ein kleiner Zeitungsskandal, vgl. das Zirkular des Dekans der Philosophischen Fakultät Emil Warburg vom 13.9.1882 (UA Freiburg, B 38/125 Beilagen zu den Protokollverhandlungen des Dekans Emil Warburg 1882–1883): In der anliegenden Nummer des Badischen Beobachters befindet sich eine (blau angestrichene) Correspondenz aus Freiburg, welche auf die Promotion des Herrn B. Rüttenauer Bezug hat. Während es an sich zweifelhaft erscheinen mochte, ob eine Erwiderung auf diese Notiz am Platze sei, halte ich jetzt eine Berichtigung für geboten, nachdem, wie ich erfuhr, die medicinische Facultät eine solche eingerückt hat. Ich habe demgemäß, nachdem ich mit dem Collegen Windelband wegen des Sachverhalts Rücksprache genommen, folgende Notiz zur Einsendung an den Bad[ischen] Beobachter entworfen und ersuche die anwesenden Facultätsmitglieder, hierunter zu bemerken, ob sie einverstanden sind. | An die verehrliche Redaction des Badischen Beobachters Alderstr. No. 18 Karlsruhe. Bezugnehmend auf § 11 des Preßgesetzes ersuche ich Sie ergebenst, folgende thatächliche Berichtigung in Ihr Blatt aufzunehmen. In der No. 196 Ihres Blattes vom 30. Aug[ust] heißt es in einer Correspondenz aus Freiburg, 27. Aug[ust]: „Wie wir soeben hören, hat die philosophische Facultät hier beschlossen, einen badischen Unterlehrer zum Doktor der Philosophie zu schlagen, der weiter keine andern Verdienste um die Wissenschaft aufzuweisen hat, als daß er mit Ehren das Lehrerseminar in Ettlingen absolvirt habe und seit Kurzem an einem Gymnasium als Lehrer angestellt sei. Es wäre unerhört, ohne dreijähriges Studium die Doktorwürde erlangen zu können in Freiburg.“ […] Demgegenüber wird hiermit constatirt, daß der Candidat, auf den diese Notiz sich bezieht, allen Bedingungen unserer Promotionsordnung genügt hat. Die Forderungen des 3jährigen akademischen Studiums erfüllt er dadurch, daß er 8 Semester lang Vorlesungen an der Universität Freiburg hörte und an den Übungen des philosophischen Seminars 4 Semester lang sich betheiligte. Was ferner seine wissenschaftlichen Leistungen anlangt, so geschah seine Promotion – wie alle Promotionen in der philosophischen Facultät – auf Grund einer wissenschaftlichen Arbeit, welche – nach der für alle unsere Inauguraldissertationen geltenden Vorschriften – demnächst im Druck erscheint. Vgl. die beigelegte Nr. 211 des Badischen Beobachters v. 17.9.1882, S. 3: *Karlsruhe, 16. Sept. In Nr. 196 unseres Blattes brachten wir eine Korrespondenz aus Freiburg. […] In der Sache erhalten wir nun von Herrn Prof. Dr. Warburg, d[er] Z[eit] Dekan der philosophischen Fakultät in Freiburg, folgende Zuschrift: „Dieser Mitteilung gegenüber wird konstatirt, daß nach der Promotionsordnung der philosophischen Fakultät zu Freiburg jeder Doktorend [!] seine wissenschaftliche Befähigung darzulegen hat 1. durch den Ausweis über ein mindestens dreijähriges akademisches Studium, 2. durch eine wissenschaftliche Abhandlung, die durch den Druck veröffentlicht wird, 3. durch eine mündliche Prüfung in drei Fächern. Allen diesen Forderungen hat der Kandidat, auf welchen die Notiz sich bezieht, genügt, indem er 1. 8 Semester lang Vorlesungen an der Universität Freiburg hörte und an den Uebungen des philosophischen Seminars 4 Semester lang sich betheiligte, 2. eine wissenschaftliche eingereicht, welche demnächst im Drucke erscheint, 3. die mündliche Prüfung in drei Fächern bestand.▲