Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Paul Siebeck, Freiburg i. Br., 7.3.1881, Text nach einer Transkription von Klaus Christian Köhnke, Umfang und Besonderheiten nicht bekannt, Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, NL 488
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- Physical LocationStaatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße
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Windelband an Paul Siebeck, Freiburg i. Br., 7.3.1881, Text nach einer Transkription von Klaus Christian Köhnke[1], Umfang und Besonderheiten nicht bekannt, Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, NL 488
Freiburg i. B. 7. März 1881.
Sehr geehrter Herr
Verzeihen Sie gütigst, daß ich bei der Fülle von Beschäftigungen, die der Schluß des Semesters für mich mit sich brachte, und die durch constantes katarrhalisches[a] Unwohlsein noch mehr mich in Anspruch nahmen, nicht die Zeit für die ruhige und sorgfältige Ueberlegung gefunden habe, welche meiner Antwort auf Ihren mir so überaus ehrenden Antrag, die Redaction einer allgemeinen wissenschaftlichen Geschichte der Philosophie zu übernehmen, durchaus vorhergehen mußte, und daß ich deshalb erst jetzt dazu komme, Ihnen darauf eingehender als es mündlich geschah, zu antworten.
Ich leugne nicht, daß der weit ausschauende Gedanke, welchen Sie bei diesem Unternehmen[2] verfolgen, einem wesentlichen Bedürfniß unserer Wissenschaft sehr glücklich entgegenkommt, und daß es für mich deshalb ein überaus verlockender und erfreulicher Gedanke ist, daß Sie mich ausersehen haben, die Corpus historicum philosophiae zu redigiren: allein ich kann mir andererseits nicht die großen Schwierigkeiten verbergen, welche sich sachlich und persönlich der Ausführung des Planes entgegenstellen. ich will nicht darauf zurückkommen, daß ich an der Ausarbeitung des dritten Bandes[3] meiner begonnenen Geschichte der neueren Philosophie für die nächste Zeit vollauf zu thun habe, wie ich denn, um Materialien dafür zu suchen, in diesen Tagen auf zwei bis drei Monate nach London und Paris[4] gehe; ebensowenig darauf, daß mein persönliches Bedürfniß mich in mehr als einer Beziehung darauf hinweisen würde, sobald als möglich nach Abschluß der historischen Werke den thematischen Arbeiten mich zu widmen, für welche sich Stoff zu Stoff und damit immer mehr Schaffenslust bei mir aufhäuft. Sie haben mir gesagt, daß Sie auf Jahre bei diesem Plane rechnen. Bedrohlicher sind mir mehr und mehr die sachlichen Schwierigkeiten erschienen. Sie haben mich sehr richtig darauf aufmerksam gemacht, daß Ihr Plan auf eine in das Detail wissenschaftlich durchgeführte Ausarbeitung einer gemeinsamen Gesammtauffassung der Geschichte der Philosophie hinzielt, daß es sich nicht um eine Sammlung von Spezialarbeiten, sondern um ein wirkliches Gesammtwerk handelt, und daß auch dies noch verbindende Theile voraussetzt, deren Ausführung dem Redacteur des Ganzen zufallen würde. Schon hierin stecken große Schwierigkeiten. Eine Anzahl von Spezialforschern zusammenzuführen, welche in der Gesammtauffassung der Geschichte der Philosophie einig sind, ist deshalb so sehr schwierig, weil diese doch mehr oder weniger stets durch den philosophischen Standpunct bedingt ist. Nimmt man die tüchtigsten Specialforscher, so ist die Wahrscheinlichkeit nicht allzu groß, daß sie sich in einen Gesammtplan leicht einfügen, – geringer noch die, daß sie sich jene verbindenden Theile gefallen lassen, die sei es als Einleitung, sei es als Schluß sich doch ihren Spezialarbeiten anschließen müßten. Den Cardinalpunct bildet hier die Personenfrage: ich will in dieselbe nicht eintreten, sondern nur im Allgemeinen die Ansicht aussprechen, daß ich sie für sehr, sehr schwierig halte. Schon hinsichtlich der Eintheilung walten Differenzen ob, und Sie gestatten mir vielleicht hieran einige Bemerkungen zu knüpfen. Ob die alten orientalischen Speculationen in das Gebiet der Geschichte der Philosophie hineingezogen werden sollen oder nicht, – schon darüber herrscht bekanntlich Streit. Sie wünschen ihnen einen Theil gewidmet – ich würde vielleicht die Sache umgekehrt auffassen und die Wissenschaft der Philosophie, wie die Wissenschaft überhaupt erst bei den Griechen beginnen lassen, bei denen es zuerst zu einem Bewußtsein des Wissens um seiner selbst willen und eines methodischen, planmäßig erarbeiteten begrifflichen Wissens kommt. Weiterhin steigt jenes Gespenst auf, das ich Ihnen mündlich andeutete: wer soll neben Zeller die antike Philosophie zu behandeln wagen? Aber ich glaube, diesem könnte man aus dem Wege gehen, wenn man das Ganze nach einem Plane gliederte, der mir schon lange vorschwebt[5], und den ich auch meinen Vorlesungen zu Grunde lege. Entsprechend dem völkerpsychologischen und empirisch-culturgeschichtlichen Standpuncte, von dem ich die Geschichte der Philosophie betrachte, pflege ich die griechische Philosophie mit Aristoteles abzuschließen. Bis dahin bildet sie, auf dem Boden einer geschlossenen Nationalität, ein einheitliches Ganzes: aus vielfachen Quellen strömt das wissenschaftliche Bewußtsein zusammen, findet sein Selbstbewußtsein in der Herausarbeitung des wissenschaftlichen Lebens zu einem eignen, von allem anderen sich aussondernden Organe des Culturgeistes, entdeckt den Begriff des immateriellen Geistes und gliedert sich endlich zu einem System der einzelnen Wissenschaften. Nach Aristoteles wird das Alles anders: die Specialwissenschaften haben sich abgezweigt; und gehen ihren eigenen Weg. Der Philosophie aber fällt die Aufgabe zu, nach dem Niedergange des antiken Staatslebens den wesentlichen Inhalt des individuellen Daseins zur Verkörperung zu bringen: sie wird Lebensweisheit, und in der Periode der Weltreiche – Hellenismus, Romanismus, Christianismus – geht hier allmählich aus der ethisirenden in die religiöse – in die dogmatische Tendenz über. Dieser Prozeß einer mächtig synkretistischen Gedankenbewegung reicht bis zum Ende der antiken Geschichte, in das fünfte, sechste Jahrhundert n[ach] Ch[ristus].
Verzeihen Sie, verehrter Herr, diese kleine Abhandlung: sie war wichtig, um zu zeigen, wie ich glaube, daß durch eine veränderte, von solcher Auffassung geleitete Abtheilung man dem Odium, Zeller Concurrenz machen zu wollen, vielleicht durch Theilung seiner Arbeit entgegen kam. Ein erster Theil, der die griechische Wissenschaft bis Aristoteles enthielte, würde, so aufgefaßt, vielleicht mich selbst zur Behandlung veranlassen. Wäre dann nur Jemand, der von da bis Augustin die Sache leistete!! Der nervus rerum[6]! Dann schlösse sich leicht die Philosophie des Mittelalters in den drei Theilen: Araber, Juden, Christen an. Sehr glücklich ist Ihr Gedanke, die Philosophie der Renaissance für sich als eignen Abschnitt herauszuheben: auch das ist ein Gebiet, das mich reizen könnte. Und die neuere gliedert sich durch den Namen Kant von selbst.
Sollte ich also der Leitung Ihres Unternehmens nahe treten, so würde für mich eine wesentliche Bedingung sein, daß ich hoffen könnte, Ihre Zustimmung[b] zu einer derartigen Gruppirung des Stoffs und die damit einverstandenen Mitarbeiter zu finden. Darf ich von den letzteren sprechen, ehe ich von dem Ersteren weiß, so möchte ich Folgendes hinzufügen. Mir ist geradezu nur Einer bekannt, von dem ich die Behandlung jener Zeit von den Diadochen bis zum Papstthum in einer entsprechenden Weise erwarten würde, von dem ich aber auch noch nicht einmal weiß, ob er sich jener von mir entwickelten Gesammtauffassung würde entschließen wollen: Das ist Prof. Siebeck in Basel. Dieser hat nun gerade ein auf Jahre angelegtes Werk, die Geschichte der Psychologie[7], begonnen, und ich bin deshalb zweifelhaft, ob er sich jetzt zu einer anderen Arbeit würde verpflichten können und wollen. Wenn ich Ihnen aber einen ganz unvorgreiflichen Vorschlag machen dürfte, so ginge derselbe dahin, daß Sie mir gestatteten, ihm von Ihrem Plane Mittheilung zu machen, ihm meine Auffassung der Sache vorzulegen und von ihm zu hören, ob man daran denken könne, ihn unter Zustimmung zum Gesammtplan zur Behandlung jenes schwierigsten Theiles zu gewinnen. Hätten wir dann eine gewisse Sicherung, so könnte das als Basis für weiteres Ausschauen nach geeigneten Mitarbeitern dienen. Für mich aber wäre die gewonnene Zustimmung eines von mir sehr hoch geschätzten Collegen ein Anlaß, mehr Muth zu einem Unternehmen zu gewinnen, das seiner großen Schwierigkeiten wegen mir so lange fast unnahbar erscheinen muß, als ich noch nach keiner Richtung bestimmte Hoffnungen auf Mitwirkung und Ausführung habe.
Es ist mir sehr leid, verehrter Herr, wenn vielleicht, was ich vollkommen begreifen würde, dieser Vorschlag Ihnen als eine unbequeme Verzögerung der Sache erscheint: allein ich mag meinerseits Ihrem ehrenvollen Antrage nicht gern ausweichen, und ich mag Ihnen andererseits keine Zusage, ich wollte die Redaction übernehmen, eher geben, als ich nicht irgend einen Anhaltspunct habe, daß die Sache für mich ausführbar sein wird. Gestatten Sie mir, ohne vielleicht Ihren Namen zu nennen, unter voller Discretion mit meinem Baseler Collegen in Verhandlungen zu treten, was ich natürlich bisher nicht thun konnte, so bin ich überzeugt, daß in einiger Zeit die Sache zwischen uns entweder einen greifbaren und Ihnen in detailirter Weise vorzulegende Form annehmen oder wenigstens eine definitive Erkenntniß, daß uns beiden Ihr schöner Plan vielleicht doch nicht auszuführen gelingen würde, gewonnen werden könnten. Stellt sich die Möglichkeit heraus, so mögen Sie überzeugt sein, daß ich mit größter Freude mit Ihnen zusammen an einem Werke arbeiten würde, dessen Gedanken Sie glücklich angeregt und mit dankenswerthester Selbstlosigkeit auszuführen beschlossen haben.
Wenn Sie gestatten, erlaube ich mir morgen Nachmittag noch einmal persönlich bei Ihnen vorzusprechen. Den Brief des Herrn Prof. Sigwart[8] lege ich dankend wieder bei.
Mit ergebenstem Gruße von Haus zu Haus in vorzüglicher Hochachtung Ihr dankbar ergebener
Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Transkription von Klaus Christian Köhnke ] Kollation derzeit nicht möglich. Der Transkription liegt die Datei Manuskript: Windelband Briefe | herauszugeben von K. C. Köhnke | Ausdruck vom 1.3.2012 zugrunde, die den Herausgebern zur Verfügung steht. Köhnke bzw. Rüdiger Kramme stand noch das Verlagsarchiv am Sitz Tübingen zur Verfügung, das inzwischen nach Berlin an die Staatsbibliothek transferiert ist. Ein Ausdruck von Köhnkes Datei befindet sich in öffentlichem Besitz (Universität Leipzig, Nachlass Klaus Christian Köhnke NL 330/3/1/2). Die Signatur des Originals ist mit Stichtag 14.5.2018 noch nicht bekannt. Laut telefonischer Auskunft von Roland Klein, Referat für Nachlässe und Autographen der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz vom 21.11. und 2.12.2016 ist die Erfassung des Nachlasses 488 (Verlagsarchiv Mohr-Siebeck) noch nicht abgeschlossen.2↑diesem Unternehmen ] verfolgt bis ca. 1883 (vgl. Windelband an Gustav Glogau vom 22.6.1883 und Glogau an Windelband vom 24.7.1883), kam in der skizzierten Form (offenbar als Konkurrenzprojekt zum bekannten Grundriss Ueberwegs gedacht) jedoch nicht zustande.4↑nach London und Paris ] vgl. darüber Windelband an Georg Jellinek vom 9.10.1880, an Karl Dilthey vom 20.7.1881, an Victor Ehrenberg vom 16.3.1883 und an Jellinek vom 22.3.1883. Im Frühjahr 1884 unternahm Windelband eine Reise nach Oxford, deren Daten nicht genau bekannt sind (Abreise ca. 8.3.1884), vgl. Windelband an Gustav Glogau vom 6.3.1884.5↑schon lange vorschwebt ] dies als ein Vorausweis auf Windelbands späteres (Lehrbuch der) Geschichte der Philosophie, das bei Mohr/Siebeck erschien.7↑Geschichte der Psychologie ] vgl. Hermann Siebeck: Geschichte der Psychologie Teil, Abt. 1. Die Psychologie vor Aristoteles. Gotha: Perthes 1880; dass. Teil 1, Abt. 2. Die Psychologie von Aristoteles bis zu Thomas von Aquino. Gotha: Perthes 1884.▲