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- TitleWindelband an Karl Dilthey, Freiburg i. Br., 18.12.1878, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Dilth. 141
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- Physical LocationNiedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
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Windelband an Karl Dilthey, Freiburg i. Br., 18.12.1878, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Dilth. 141
Freiburg i. B. 18 Dec[ember] 78
Lieber Freund,
Dein Menu für dies Semester, welches Du mir in Deinem letzten Briefe mitteiltest, war so reichhaltig und erdrückend, daß ich sicher noch immer zu früh komme, wenn ich Dich einladen wollte, von dem beiliegenden Dessert zu kosten. Gleichwohl würde Dir dieser Band[1] ohne die Aufforderung ihn sogleich zu lesen, schon vor zwei Wochen zugegangen sein, wenn nicht neuralgische Zahnschmerzen mich geplagt hätten, die mir kaum zu den nöthigsten Vorlesungsarbeiten Zeit und Stimmung ließen und nun endlich dem trocken Froste zu meiner großen Freude gewichen sind.
Daß Du auf der Rückreise von der Schweiz uns nicht wenigstens ein paar Stunden geschenkt hast, bedaure ich noch immer. Je einsamer ich in diesem sonst so schönen Städtlein existire, um so werthvoller ist mir stets die auch noch so kurze Anwesenheit von „Menschen“, mit denen ich zusammengewachsen bin. Indessen fürchtete ich schon vorher, daß der große Magnet Zürich Dich wieder halten würde, und so denke ich, richten wir es das nächste Mal wieder so ein, daß Du mir Deinen Besuch für die Hin[a]fahrt zusagst, was erfahrungsmäßig günstiger für mich ist.
Hoffentlich hast Du nach Ueberwindung der Umzugsschwierigkeiten Freude an Deinem Heim gefunden und das Semester bisher glücklich abgewickelt. Es wäre liebenswürdig, | wenn Du darüber hübsch ausführliche Nachricht gäbest. Von uns ist quod academiam Günstiges zu melden. Die Frequenz hat sich, was seit langen Wintern nicht der Fall war, über 400 erhalten, und auch ich participire daran, indem ich für das eine vierstündige Colleg[2], daß ich diesmal nur halte, 42 Zuhörer habe (seit Jahrzehnten, wie man sagt, in unsrer Fakultät unerhört) und im Publikum noch mehr. Jenes Privatum freilich Geschichte. Die Philosophie vom Tode des Aristoteles bis zum Ausgange des Mittelalters langweilt mich so, daß dies erste Mal auch das letzte sein wird. Namentlich seit ich die antike Welt verlassen und selbst den braven Neuplatonismus abgehandelt habe, stehe ich in dieser Oede der christlichen Philosophie, und es ist mir, als watete ich im Wüstensande. Und das nun noch bis Ostern[3]! Denn auch die paar Ketzer sind doch nur sehr mäßige Oasen. Indessen gehört auch das dazu.
Im Allgemeinen bin ich eben wirklich mit der idyllischen Muße, die ich hier genieße, gar zufrieden und freue mich, daß ich sie nicht durch eine neue Wanderung unterbrochen habe. Daß die Erlanger über mein Nichtkommen entrüstet[4] sind, will ich eitel genug sein begreiflich zu finden. Daß sie diese Entrüstung eine „sittliche“ | nennen, scheint mir weder verständlich noch berechtigt. Class[5], den sie aus Tübingen berufen haben, kein Stiftler, aber ein Herrenhuter, ist für das theologische Gros der dortigen Zuhörerschaft sehr günstig, überdies ein sehr guter Docent, wenn auch bisher noch kein großer Philosoph. – Hier hat der Tod Sengler’s[6], da er bereits pensionirt starb, weder für für die Universität noch für mich Folgen gehabt. Daß er zufällig gerade 14 Tage ehe ich den Erlanger Ruf erhielt seine Pensionirung beantragt hatte, fiel damals der Regirung sehr günstig, indem ihr dadurch, weil die Pensionen nicht aus dem Universitätsbudget bezahlt werden, Geld flüssig wurde, mich zu halten. Indessen hat sie jeden Versuch, einen Extraordinarius neben mir zu bestellen, kalt lächelnd zurückgewiesen, und ich habe deshalb Alles zu leisten. Die Zuhörerzahl läßt sich freilich noch immer ertragen, aber daß ich allmälig alle Fächer lesen soll, ist schrecklich.
Diesen Winter benutzen meine Frau und ich, da es der erste seit unserer Verheiratung, in dem nicht unmittelbare Kindersorgen meine Frau zur Sklavin machen, um uns der hiesigen, recht erfreulichen und behaglichen Geselligkeit zu widmen. Ich wünschte Dir etwas davon nach Göttingen, von dem freilich auch Ehrenberg und Zittelmann[7] | nicht viel Gutes in dieser Hinsicht berichtet haben, – übrigens zwei nette und Deiner Beachtung, wenn Du Dich einsam fühlst und geistige Unterhaltung suchst, wohl zu empfehlende Leute.
Mit unserm Befinden geht es – von jenen Zahnschmerzen abzusehen – recht gut, und namentlich mit unsern Kindern sind wir sehr zufrieden; so sehr, daß unsre elterliche Eitelkeit uns beinahe verleitet hätte, zu Weihnachten mit ihnen zu den Schwiegereltern nach Potsdam zu reisen, was wir nun aber doch wegen der Schwierigkeiten der Jahreszeit aufgegeben haben.
Dies rührende Drama, welches Dir in Zürich mit unserm gemeinschaftlichen Freunde begegnet ist, hat mir wieder Spaß gemacht. Er hat seine Erfahrungen mit uns jetzt in einem confusen Opus niedergelegt, welches den Titel „Das Problem des Bösen“[8] führt. (Bitte das aber nicht so zu verstehen, als stünden darin Anspielungen).
Von Bernh[ard] Schmidt ist leider zu melden, daß er auf dem Ritt durchs arkadische Land, als er von Olympia den Fluren Lacedaemons zustrebte, von einem störrigen Pegasus an einen Felsen geworfen[9] wurde und nun in Athen der Genesung harrt. Sein Urlaub ist bis Ostern ausgedehnt, und die Wißbegier unsrer Philologen findet solange nur bei Hense[10] ihre Nahrung.
Daß ich im Herbst Deinen Bruder[11] wiedersehen und die Bekanntschaft Deiner liebenswürdigen Schwägerin[12] machen konnte, war mir eine große, leider nur sehr kurze Freude: ich bitte gelegentlich dorthin Gruß und Empfehlung auszurichten.
Meine Frau grüßt Dich. Laß es Dir gut gehen! Dein alter
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑dieser Band ] Windelband: Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Cultur und den besonderen Wissenschaften. 1. Bd.: Von der Renaissance bis Kant. Leipzig: Breitkopf u. Härtel 1878.2↑vierstündige Colleg ] laut Vorlesungsverzeichnis hatte Windelband für das WS 1878/79 angekündigt: Die Hauptprobleme der Philosophie; Mittwoch von 5–7 Uhr öffentlich; Geschichte der Philosophie vom Tode des Aristoteles bis zum Ausgange des Mittelalters; Montags, Dienstags, Donnerstags, Freitags von 4–5 Uhr; Logische Uebungen (privatissime und gratis); an einem zu bestimmenden Abende.4↑mein Nichtkommen entrüstet ] vgl. Windelband an Carl Heyder vom 28.3. u. 15.5.1878 sowie an Wilhelm Lexis vom 7.6.1878.6↑Tod Sengler’s ] Jakob Sengler (11.9.1799–5.11.1878), seit Herbst 1842 an der Universität Freiburg (ADB).7↑Zittelmann ] Lesung korrekt, gemeint vermutlich: der Jurist Ernst Zitelmann (geb. 1853), Bekannter Windelbands seit der Leipziger Zeit, 1873 in Leipzig promoviert, 1876 in Göttingen habilitiert und dort seit 1879 ao. Prof. (im selben Jahr o. Prof. Rostock, 1881 Halle, 1883 Bonn, vgl. Wer ist’s (1912), S. 1834. Victor Ehrenberg hatte 1876 in Göttingen promoviert und sich dort 1877 habilitiert (1882 o. Prof. Rostock, 1888 Göttingen, 1911 Leipzig).8↑„Das Problem des Bösen“ ] die Rede ist von Ludwig Kym und dessen Buch: Das Problem des Bösen. Eine metaphysische Untersuchung. München 1878.9↑an einen Felsen geworfen ] zu einem Unfall des Philologen Bernhard Schmidt (geb. 1837), seit 1873 o. Prof. in Freiburg (Prorektor 1879/80), ist nichts ermittelt (Vita zur Dissertation, Vita zur Habilitation, Personalverzeichnis Universität Freiburg).▲