Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Victor Ehrenberg, Leipzig, 3.12.1874, 3 S., hs. (dt. Schrift), am Briefkopf gedrucktes Signet: zwei ineinandergeschlungene W-Versalien in einem von einem geschlossenen Gürtel gebildeten Ring, darüber eine fünfzackige Krone, Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, NL Ehrenberg acc. Darmst. 1924.138
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- Physical LocationStaatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße
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Windelband an Victor Ehrenberg, Leipzig, 3.12.1874, 3 S., hs. (dt. Schrift), am Briefkopf gedrucktes Signet: zwei ineinandergeschlungene W-Versalien in einem von einem geschlossenen Gürtel gebildeten Ring, darüber eine fünfzackige Krone, Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, NL Ehrenberg acc. Darmst. 1924.138
Leipzig. 3. Dec[ember] 74
Mein lieber, guter Ehrenberg!
Tief erschüttert durch die traurige Nachricht von Ihrem Rückfall[1], stehe ich Ihnen sofort mit meinen Kenntnissen über die italienischen Verhältnisse zur Verfügung, und bedaure nur, daß es dieser trüben Veranlassung vorbehalten war, dem innigen Interesse, mit dem ich stets Ihr Geschick verfolgt habe, wieder einen brieflichen Ausdruck zu geben. Zunächst vorher meinen herzlichen Dank für Ihren freundlichen Brief zu meiner Hochzeit und Ihr so gut gewordenes Bild; ich erwidre diese liebe Dedication, sobald ich dazu im Stande der Photographirtheit bin und würde Ihnen auch gern mein Frauchen mitsenden.
Doch nun zur Hauptsache! Für’s Erste wünschen Sie um Alles nicht, daß die Aerzte diesen Kelch an Ihnen vorübergehen lassen! ich weiß es selbst, wie schwer es ist, sich dazu zu entschließen, aber ich danke es jetzt den Aerzten, daß sie bei mir darauf bestanden haben. Die völlige Ausheilung so früh als möglich ist das einzig richtige Princip, und dazu reicht unser barbarisches Klima einmal nicht aus. Wollen Sie ein warnendes Beispiel, so nehmen Sie den verehrten Springer[2] (haben Sie ihn nicht noch hier gehört?), der fast in Folge einer unausgeheilten Pleuritis[3] vier Blutstürze gehabt hat. Also folgen Sie dem Rath der Aerzte, und suchen Sie ihm, wie ich, die angenehme Seite abzugewinnen, daß er Sie in ein Land des herrlichsten Genusses führt. Für’s Zweite dieß: wenn Sie reisen, dann sobald als möglich; noch haben wir leidliche | Temperatur, noch sind selbst die Alpen, da es dort nach allen Berichten heftig schneit, bei erträglicher Temperatur übersteigbar. Also, sobald die Aerzte es für unbedenklich halten, – fort! Dann aber, reisen Sie langsam, wie die Nacht! Falls über den Brenner in zwei Touren, München-Innsbruck, Innsbruck-Bozen! Bestellen Sie möglichst in den Hotels vorher geheizte Zimmer, da man sonst erbärmlich frieren kann. In Italien ist das nicht mehr nöthig und auch erfolglos.
Drittens aber – der Ort. Die Aerzte haben Nizza gerathen. Es ist schwer zu entscheiden, da die Wetterverhältnisse an der ganzen Riviera di ponente[4] jährlich wechseln. Dies Jahr sollen sie, wie ich heut von Jemand hörte, der direct aus Mentone[5] kam, gut sein. Aber Nizza ist meines Wissens unbedingt zu widerrathen. Es ist haarsträubend theuer, in jeder Beziehung mehr für das Amüsement als für die Reconvalescenz berechnet; und vor Allem kalt und und zugig, vielen Windströmungen ausgesetzt. Mentone ist an der Riviera zweifellos das schönste und hat die mildeste, gleichmäßigste Temperatur, San Remo ähnlich, Cannes ist warm und zeichnet sich durch vorzügliches Trinkwasser aus. Cannes ist schon ganz französisch, Nizza gemischt, die andern wesentlich Italienisch. Außerdem ist an der Riviera sehr zu empfehlen Nervi, etwa zwei Stunden östlich von Genua, ein kleiner, reizend gelegener, wunderbar warmer Ort, der aber nur eine Pension (meines Wissens[6]) hat und daher in Bezug sowohl auf Verpflegung als auch Unterhaltung sehr viel zu wünschen übrig läßt. Alle die|se Orte an der Riviera haben den Vorzug der reinen, warmen und zugleich exitirenden, tonisirenden Luft. Meines Wissens aber bedarf der Reconvalescent einer Pleuritis wesentlich der gleichmäßigen, feuchten Wärme. Das liefert Ihnen Pisa im idealen Maße. Die Seeluft, die an den andern Orten aus unmittelbarster Nähe wirkt, hat in Pisa durch die Entfernung einer Meile nur ihre Schärfe verloren, dagegen ist das Nest gegen jeden Nordwind geschützt, steht unter der lauen Südluft der See und hat die warme Ausdünstung des Arno zum vollen Genuß. ich bin mit Pisa sehr zufrieden gewesen; damals[7] waren freilich gerade in dem Winter die Verhältnisse der Riviera sehr ungünstig, und die Leute flohen aus Nizza, Mentone, etc. massenhaft zu uns. Für Pisa spricht ferner dieß, daß Wunderlich[8], der mich behandelte und der vor andern Autoritäten den großen Vorzug besitzt, daß er sämmtliche klimatische Curorte aus eigner Anschauung kennt, sich unbedingt dafür erklärte. Sie dürfen aber in Pisa nur am nördlichen Quai des Arno wohnen, weil alle andern Straßen kalt sind und dürfen sich daher auch nur in diesem und der ihn fortsetzenden schönen Promenade am Arno bewegen. Landschaftlich bietet Pisa wenig, gesellig ist es sehr langweilig, und ich habe dort nur geschlafen, gegessen, gebummelt und gelesen, – fast allein, mit einigen Deutschen, und mit ein paar Italienern verkehrt. Sie müßten sich in einem Hotel in Pension geben und würden etwa deutsche Badepreise bezahlen. Gründlich langweilig ist Pisa, aber es ist wunderbar ruhig und gesund. – Wenn Ihre Aerzte auch der Ansicht sind, daß Ihnen warme Feuchtigkeit gut thut, so würde ich Ihnen für den Fall, daß Ihnen die Reise zuerst bis Pisa etwas weit scheint, rathen, wie ich es gethan habe, eine Rast von 8–14 Tagen in Venedig zu | machen, wo ich noch länger geblieben wäre, wenn es mir nicht zu feucht geworden wäre. Sie haben dann zwei bis drei Tagereisen nach Pisa. Ueberhaupt hat ja der Einzelne den Vortheil, daß er, wenn er sich irgendwo unbehaglich fühlt, weiter ziehen kann. Sollten Sie Sich, wie ich es that, Anfang März wieder flügge fühlen, so gehen Sie getrost nach Rom, wo der März entzückend schön und[a] gesund ist und wo man ganz wie wir es von Deutschland gewohnt sind, a la garcion, chambre garnie[9] etc. verhältnißmäßig am billigsten und[b] doch schließlich am genußreichsten lebt. Nur vermeiden Sie auf der Hinfahrt einen längeren Aufenthalt in dem rauhen Florenz.
Das ist das Allgemeinste, was ich Ihnen schnell mitteilen kann; hauptsächlich möchte ich Sie warnen, auf Montreux, überhaupt Genfer See, Botzen oder Meran reinzufallen. Das ist nach Allem, was ich je gehört, nur eine falsche Halbheit. Die Sprache ist kein Hinderniß. Auf der Eisenbahn und im Droschkenverkehr sind ein paar Packträger- und Kutscher-Ausdrücke, namentlich Flüche wünschenswerth, ebenso ein Verständniß der Speisekarte. Für beide hat Bädecker in seinem Reisebuch in klarer, guter Tabelle[10] gesorgt. Sonst genügt französisch, in Venedig selbst nur Deutsch vollständig. Um der Sprache willen Nizza oder Cannes zu wählen, würde ich dem Deutschen nie rathen.
So viel für heut. Wenn Sie nach Venedig, Pisa, Rom gehen, kann ich Ihnen für die Reise, Wohnung etc. gute Empfehlungen geben, für Pisa und Rom auch ansprechenden Umgang verschaffen. In Mentone könnte ich Sie in eine befreundete Familie[11] einführen. Sobald Ihre Entschlüsse bestimmte Gestalt angenommen haben, bitte ich Sie, es mir mitzutheilen; ich werde Ihnen unverzüglich Näheres schreiben und Empfehlungen schicken, bitte nur um sichre Adresse. Vor Allem aber wünsche ich, daß Sie uns recht gestärkt und für immer wiederhergestellt zurückkehren, und darf mir wünschen, daß die „Römerfahrt“ Ihnen so gut bekomme, wie mir. Meine Frau, für Ihre Grüße, bestens dankend, schließt sich mit herzlicher Theilnahme diesen Wünschen an, und ich bleibe in alter Freundschaft Ihr
W Windelband
Weststraße 81.
Wie kann man Jellinek brieflich erreichen? Wo steckt er überhaupt? ich weiß seit Ende September von ihm nur durch Sie![c]
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
6↑meines Wissens ] vgl. Italien. Handbuch für Reisende von Karl Baedeker. Erster Theil: Ober-Italien bis Livorno, Florenz und Ravenna, nebst der Insel Corsica. 9., verb. Aufl. Leipzig: Baedeker 1879, S. 109, wo weit mehr aufgeführt sind.10↑Tabelle ] vgl. das Reiseglossar in z. B. Italien. Handbuch für Reisende von Karl Baedeker. Erster Theil: Ober-Italien bis Livorno, Florenz und Ravenna, nebst der Insel Corsica. 9., verb. Aufl. Leipzig: Baedeker 1879.11↑befreundete Familie ] des Leipziger Verlegers Alphons Dürr (1828–1908), vgl. Windelband an Ehrenberg vom 6. u. 14.1.1875; Reinhard Würffel: Lexikon deutscher Verlage. Berlin: Grotesk 2000, S. 194.▲