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- TitleWindelband: Habilitationsgutachten über Willy Hellpach für die Lehrberechtigung für Psychologie an der Technischen Hochschule Karlsruhe, Heidelberg, 5.2.1906, 4 S., hs. (lat. Schrift, Reinschrift), Generallandesarchiv Karlsruhe 235, Nr. 6135
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- Physical LocationGenerallandesarchiv Karlsruhe
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Windelband: Habilitationsgutachten über Willy Hellpach für die Lehrberechtigung für Psychologie an der Technischen Hochschule Karlsruhe, Heidelberg, 5.2.1906, 4 S., hs. (lat. Schrift, Reinschrift), Generallandesarchiv Karlsruhe 235, Nr. 6135[1]
Gutachten.[2]
Herr Willy Hellpach hat 1900 in Leipzig mit einer experimentellen Arbeit aus der physiologischen Psychologie den philosophischen, 1903 in Heidelberg den medizinischen Doctorgrad erworben, beidemal „summa cum laude“. Die damit bestätigte Vielseitigkeit seiner Interessen und seiner Leistungsfähigkeit hat sich auf eine principielle Untersuchung über die Probleme der Seelenkrankheiten concentriert, und während er praktisch als Nervenarzt in Karlsruhe tätig ist, arbeitet er theoretisch an den Aufgaben der Psychopathologie. Der Schüler von Wundt[3] einerseits und von Kräpelin[4] andrerseits, hat er starke Einwirkungen auch von Möbius[5] und Lamprecht[6], neuerdings auch von Nissl[7] und Lipps[8] erfahren. Ein lebhaftes, von Anfang an hervortretendes Interesse für methodologische Fragen richtet seine Untersuchungen durchgängig auf die Aufgabe, der Psychopathologie ihren Platz im System der Wissenschaften, und insbesondre im Verhältnis teils zur Normalpsychologie teils zur Psychiatrie begrifflich fest zu bestimmen. Diese wissenschaftstheoretische Tendenz ist es auch, welche allein mich berechtigt, mir ein Urteil über seine wissenschaftliche Qualification zu erlauben.
Seine literarische Betätigung[9] ist bereits sehr ausgedehnt; ja, man ist fast versucht, sie allzu emsig zu nennen, wenn zu der Masse des Vorgelegten noch die „mancherlei Aufsätze“ hinzukommen, die er (vgl. am Ende des Vorworts zu den „Grenzwissenschaften“)[a] unter dem Pseudonym „Ernst Gystrow“ veröffentlicht hat: er hat sie nicht eingereicht, und ich kenne sie nicht. Unter dem Vorliegenden befinden sich ausser der psychologischen Dissertation und kleineren Nebenarbeiten zwei umfangreiche Werke: „Die Grenzwissenschaften der Psychologie“ (1902) und „Grundlinien einer Psychologie der Hysterie“ (1904).
Das erstere wendet sich an das allgemeinere wissenschaftliche Publicum und will diejenigen, welche sich mit der modernen Psychologie befassen wollen, über die daran stossenden Grenzgebiete orientieren: Anatomie des Nervensystems, animale Physiologie, Neuropathologie, Psychopathologie, Entwicklungspsychologie. Hier habe ich natürlich nur Stichproben machen | können und fand dabei überall ungewöhnliche Belesenheit und umfassende Beherrschung der z. T. weit aus einander liegenden Materien. Wie es mit der Vollständigkeit und Eindringlichkeit der Darlegungen in jenen Einzeldisciplinen steht, konnte ich als Laie selten beurteilen. Wo ich zu controlieren vermochte, fand ich viel Gutes, wenn auch einmal ein Irrtum unterlief, wie wenn (p. 163) Kant wegen der „Apriorität von Raum und Zeit[“] zu den „Nativisten“ gezählt wird. Im Ganzen habe ich den Eindruck, dass aus der geschickten, energisch zusammenfassenden und glücklich disponierenden Darstellung von den verschiedensten Interessen her willkommne Belehrung geschöpft werden kann.
Das zweite Werk ist eine Fach-Untersuchung über das Wesen der Hysterie: ich entsinne mich, es in der neueren Literatur gelegentlich mit entschiedner Anerkennung erwähnt gefunden zu haben. Ueber die sachliche Frage, über die Berechtigung der Kritik, die der Verf[asser] an den früheren Auffassungen übt, über den theoretischen und praktischen Wert seiner eignen Theorie kann ich mir natürlich kein Urteil anmassen; ich kann nur sagen, dass die ganze Entwicklung mir den Eindruck macht, durchaus auf der Höhe der wissenschaftlichen Arbeit ihres Gebiets zu stehn, dessen Probleme und Lehren selbständig zu durchdenken und eine eigne Stellung darin zu nehmen. Wie weit die letztere fachmännisch anfechtbar ist, entzieht sich meinem Urteil. Nur bei einzelnen Teilen des Buchs finde ich mich auf mir bekanntem Boden. Dazu gehören die methodologischen Betrachtungen, die auch hier einen grossen Raum einnehmen (cap. 3). Der Verf[asser] sucht sich hier mit den neuesten Lehren über die Systematik der Wissenschaften aus einander zu setzen, zeigt sich dabei im Allgemeinen mit deren Richtungen vertraut und versucht, für seine Auffassung der Psychopathologie sie z. T. zu verwerten. Dabei geht es nicht ohne solche Missverständnisse ab, wie sie z. B. in der verfehlten und unnötig scharfen Aeusserung gegen Rickert (p. 122 f.) zu Tage treten: aber im Ganzen ist auch hier ein redlich wissenschaftliches Bestreben erkennbar, die Dinge an der Wurzel zu fassen und die Specialfrage aus allgemeinsten Gesichtspuncten zu entscheiden. Ebenso urteile ich über das letzte „sozialpathologische“ Kapitel, worin derVerf[asser] dem Einfluss Lamprecht’s verfallen und höchst bedenklichen Unbestimmtheiten der historischen Konstruktion unterlegen ist.
Von den kleineren Aufsätzen, die meist Schnitzel zu dem letzteren Werk darstellen, muss ich einen herausheben: „Die Hysterie und die moderne Schule“. Ihn möchte ich am liebsten missen. Es ist ja | gewiss nichts dagegen einzuwenden, dass Herr[b] Hellpach seine Theorie der Hysterie auf Fragen der Schulhygiene anzuwenden versucht: aber seine leidenschaftliche Kritik schiesst weit über das Ziel hinaus, wenn er seine Abneigung gegen humanistische Bildung, gegen den deutschen Aufsatz, gegen den „herrischen“ Charakter des Geschichtsunterrichts etc. darin ablagert. Natürlich kann man jeden Unterricht unter den Begriff der Suggestion und jede Zucht unter den der Verdrängung der Affektäusserungen bringen: aber wenn Herr[c] H[ellpach] die pathologischen Anlässe betont, die daraus nach seiner Theorie der Hysterie in der modernen Schule entstehen sollen, so trifft das für alle Erziehung überhaupt zu, und seine Kritik giebt auch nicht den geringsten Anhaltspunkt, wie Erziehung ohne diese angeblichen psychopathologischen Gefahren jemals möglich sein soll. –
In jenen beiden früheren Werken tritt nun als drittes die im Manuskript vorgelegte Habilitationsschrift, – dem Umfang nach geringer, dem Inhalt nach für die wissenschaftliche Stellung der Verf[assers] am charakteristischsten. Sie bietet „Grundgedanken zur Wissenschaftslehre der Psychopathologie“. Sie gehört deshalb nicht mehr gelegentlich, sondern ausdrücklich und eigens in die Richtung des methodologischen Theoretisierens, deren Ausbreitung den wissenschaftlichen Neigungen der Gegenwart eigen zu sein scheint. Mit dem allgemeinen Stande dieser Fragen zeigt sich der Verf[asser] wiederum durchaus vertraut, und er versucht nun die systematische Stellung der Psychopathologie eindeutig zu fixieren. Was dabei herauskommt, scheint mir sachlich nicht wesentlich über das hinauszugehen, was die beiden früheren Schriften, namentlich die zweite brachten: aber es ist hier in specifisch wissenschaftstheoretischer Weise aus dem Ganzen heraus systematisch dargestellt. Dabei entspricht allerdings die Dreigliederung der Untersuchung mehr den sachlichen Ergebnissen des Verf[assers], als einer logischen Notwendigkeit: indessen ist die Führung der Gedanken an den Uebergängen so geschickt angelegt, dass man daran keinen Anstoss zu nehmen braucht. Der erste Teil handelt vom Gegenstande der Psychopathologie und läuft auf das Kriterium des psychisch Abnormen hinaus. Es wird in der Gemeinschaftswidrigkeit gefunden. Diese Definition halte ich für zu weit, da sie auch das Kriminelle einschliesst, und die Abwehr, die der Verf[asser] gegen diesen Einwurf versucht (p. 29ff.), hat mich keineswegs überzeugt. Der zweite Teil bespricht die psychopathologischen Methoden. Wieweit der historisch-kritische Eingang zutrifft, kann ich nicht sagen: er liest | sich sehr einleuchtend, und wo er auf allgemeinere Verhältnisse der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts eingeht, ist nichts dagegen einzuwenden. Die darauf folgende kritische Entwicklung der Methoden halte ich ihrer logischen Ordnung und ihrem sachlichen Tenor nach für den bestgelungnen Teil der Abhandlung. An dritter Stelle beschäftigt den Verf[asser] „die gemeinschaftspathologische Fragestellung“. Hier ist wieder im Anfang die Polemik gegen die „organische Theorie“ der Sociologen vortrefflich. Dagegen finde ich, dass hier das Problem, das für den Verf[assser] gerade aus dem Ergebnis seines ersten Teils erwachsen musste, nicht klar und scharf genug herausgearbeitet ist, und so viele anregende Gedanken auch in den Problementwicklungen dieses Abschnitts stecken, so meine ich doch, dass der Verf[asser] diese Aufstellungen am meisten revisionsbedürftig finden wird.
So viel ich aber im Einzelnen gegen die Ausführungen des Herrn Hellpach einzuwenden habe, so fasse ich doch mein Urteil über seine wissenschaftliche Qualification, soweit ich in der Lage bin es mir zuzutrauen, gern dahin zusammen, dass er mit eignem Urteil und eigner Leistung mitten in der wissenschaftlichen Arbeit steht und deshalb für eine akademische Lehrtätigkeit durchaus geeignet ist: ich beantrage somit, ihn zu den weiteren Habilitationsleistungen aufzufordern.
Heidelberg, den 5. Februar 1906
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑235, Nr. 6135 ] Aktentitel: Ministerium des Kultus und Unterrichts. Universität Heidelberg [statt gestr.: Technische Hochschule; statt gestr.: Ministerium] Diener. Dr. Hellpach Willy Hugo Eo. [Extraordinarius]. Darunter die Angaben: 1877 am 26ten Februar geboren zu Oels in Schlesien | 1900/1 ärztliche Reifeprüfung in Greifswald abgelegt. | 1903 Pr. Arzt (Nervenarzt) in Karlsruhe. | 1906 Privatdozent für Psychologie an der techn. Hochschule. | 1911 Titel Außerord. Professor. | 1920 1.4 Planmäßiger außerord. Professor für Psychologie. | 1922 7.XI Minister für Kultus u. Unterricht. bis 26.XI.1925 | 1923 Ordentl. Honorarprofessor an der techn. Hochschule | 1926 [Ordentl. Honorarprofessor an der] Univ. Heidelberg. | 1942 Goldenes Treudienst-Ehrenzeichen | † 6.7.1955 Aus der NDB ist zur Vita zu ergänzen: 1924 badischer Staatspräsident, 1925 Kanditat für das Amt des Reichspräsidenten.2↑Gutachten. ] vgl. in derselben Akte das Begleitschreiben des Dekans der philosophischen Fakultät Albrecht Dieterich an den Engeren Senat der Universität Heidelberg vom 17.2.1906: Dem Engern Senat | beehre ich mich zu berichten, dass die Facultät beschlossen hat, Herrn Dr. med et phil. Willy Hellpach, nachdem der Fachvertreter der Philosophie seine bisherigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen und insbesondere seine eingereichte Habilitationsschrift in einem beiliegenden Gutachten beurteilt hat und nachdem der Habilitand vor der Facultät am 16. Februar einen Probevortrag gehalten und sich einem anschließenden Colloquium unterzogen hat, für qualifiziert zur akademischen Lehrtätigkeit in dem Fache der Psychologie zu erklären. Vorangegangen war Hellpachs Antrag zur Habilitation bei der Technischen Hochschule Karlsruhe, die jedoch angab, keine Fachvertreter zur Begutachtung zu haben. Der damalige Ministerialrat im Ministerium für Justiz, Kultus und Unterricht, Franz Böhm verfiel auf den Ausweg, die philosophische Fakultät der Universität Heidelberg stellvertretend mit dem Habilitationsverfahren zu betrauen und Windelband um ein Gutachten zu bitten (deswegen die Aktenführung bei der Technischen Hochschule Karlsruhe, deren Aktenbestände später in das Generallandesarchiv übergingen). Windelband zog Franz Nissl für die psychopathologischen Spezialfragen hinzu, so daß sich das Verfahren über Monate hinzog. Max Weber setzte sich – wie im Falle Jaspers’ – schließlich mittels eines (nicht überlieferten) zwölfseitigen Schreibens bei Windelband für einen baldigen Abschluß ein (vgl. Jürgen Klüpfel/C. F. Graumann: https://www.psychologie.uni-heidelberg.de/willkomm/cfg/institutsbericht.html (3.8.2016) sowie Willy Hellpach: Wirken in Wirren. Lebenserinnerungen Bd. 1 1877–1914. Hamburg: Wegner 1948, S. 487–499; ferner Horst Gundlach: Wilhelm Windelband und die Psychologie. Heidelberg: University Publishing 2017.9↑literarische Betätigung ] in Windelbands Besitz befand sich von Hellpachs Schriften: Die Arbeitsteilung im geistigen Leben. Eine Untersuchung ihrer hauptsächlichen Formen, Gesetze und Triebkräfte, 1913; Technischer Fortschritt und seelische Gesundheit. Halle 1907; Unbewusstes oder Wechselwirkung. Sonderdruck Leipzig 1908.▲