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- TitleRegierungsratsbeschluss Nr. 366 vom 12.2.1876, Staatsarchiv des Kantons Zürich, MM 2.211 RRB 1876/0366, S. 411-416 – Regierungsratsbeschlüsse seit 1803 online: http://suche.staatsarchiv.djiktzh.ch/detail.aspx?ID=3357118
- ParticipantsAristoteles ; Arthur Schopenhauer ; August Stadler ; Baruch de Spinoza ; Carl Göring ; Christoph Sigwart ; Conrad Hermann ; Friedrich Albert Lange ; Friedrich Zöllner ; Fritz Schultze ; Gustav Theodor Fechner ; Hermann Cohen ; Hermann Helmholtz ; Hermann Wolff ; Immanuel Kant ; Karl Dilthey ; Ludwig Kym ; Ludwig von Strümpell ; Max Heinze ; Moritz Wilhelm Drobisch ; Paul Robert Schuster ; Rudolf Seydel ; Theobald Ziegler ; Tuiskon Ziller ; Wilhelm Dilthey ; Wilhelm Wundt
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- Physical LocationStaatsarchiv des Kantons Zürich
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Regierungsratsbeschluss Nr. 366 vom 12.2.1876, Staatsarchiv des Kantons Zürich, MM 2.211 RRB 1876/0366, S. 411-416 – Regierungsratsbeschlüsse seit 1803 online[a]: http://suche.staatsarchiv.djiktzh.ch/detail.aspx?ID=3357118
12. Februar 1876.[b]
Privatdozent Wilhelm Windelband v[on] Potsdam in Leipzig; Berufung dess[elben] z[um] ordentl[ichen] Professor an d[er] philosoph[ischen] Fakultät d[er] Hochschule.[c]
Die Erziehungsdirektion berichtet:
Nach dem Abgange des Herrn Dr. Wundt, Professor der induktiven Philosophie an hiesiger Universität, welcher mit Ende des Sommersemesters 1875 nach Leipzig übersiedelte, schlug die zu einem Gutachten[1] eingeladene I. Sektion der philosophischen Fakultät zur Wiederbesetzung der Stelle vor: in erster Linie Dr. Fritz Schulze[2] in Jena, in zweiter Linie Dr. Wilhelm Windelband in Leipzig[3]. Die Erziehungsdirektion und der Erziehungsrath konnten dem Vorschlage nicht folgen, da die Richtung des Erstvorgeschlagenen mit der bei der Gründung des betreffenden Lehr|stuhles waltenden Absicht nicht zu harmoniren schien, und da mit Rücksicht auf den Zweitvorgeschlagenen, Herrn[d] Dr. Windelband, zwar die Beweise über ein bedeutendes Talent, nicht aber über den nöthigen Umfang seines Wissens und sein Lehrgeschick vorlagen.
Fortgesetzte Informationen bestätigten die Ansicht über Herrn[e] Dr. Schulze und ließen dagegen es als angezeigt erscheinen, das Augenmerk näher auf Herrn Dr. Windelband[4] zu richten.
Von literarischen Produkten[5] liegt von ihm vor:
Eine Abhandlung über den Zufall,
eine Abhandlung über[f] die Gewißheit der Erkenntniß
eine[g] Kritik der Logik von Sigwart
ein Artikel über „die Erkenntnißlehre unter dem völkerpsychologischen Gesichtspunkte.“
Diese Schriften zeichnen sich aus durch Klarheit und Tiefe des Gedankens und bezeugen ein selbstständiges und umfassendes Studium. Sie beurkunden eine genaue Kenntniß der Ergebnisse der philosophischen Psychologie, sowie der Umbildungen, welche die Philosophie durch die neueren Entwicklungen der Naturwissenschaften, durch Helmholtz[h], Fechner und andern erfahren hat. Der Standpunkt des Verfassers ruht nicht auf der Seite der metaphysischen Dogmatik son|dern im Wesentlichen auf dem Boden des Kant’schen Kriticismus, und seine logische Methode wurzelt in der Hauptsache auf der Induction.
Dr. Windelband wirkt seit 2½ Jahren als Privatdozent an der Universität Leipzig und hat sich an derselben in weiten Kreisen die Anerkennung seiner Lehrthätigkeit und Lehrgabe verschafft. Seine, in ihrem Gegenstand durch die Konkurrenz mit 11 andern Dozenten der Philosophie[6] an der Universität Leipzig einigermaßen beeinflußten Vorlesungen[7] erstreckten sich bisher auf nachfolgende Gebiete:
Historisch: Geschichte der antiken Philosophie bis Aristoteles incl[usive] Geschichte der neuern Philosophie seit der Renaissance. Entwicklungsgeschichte der Methode der deutschen Philosophie.
Darstellung und Kritik der Kant’schen Philosophie Geschichte der Erkenntnißtheorie seit Kant.
Ueber den Zusammenhang der deutschen Philosophie und der deutschen Dichtung. Kritik der Schopenhauer’schen Philosophie.
Logisch: Das Grundproblem der Erkenntnißtheorie.
Erkenntnistheorie mit Einschluß der Logik.|
Psychologisch:
Grundfragen der Psychologie,
Psychologie vom empirischen Standpunkte.
Metaphysisch:
Die Hauptpunkte der Metaphysik in[i] historisch-kritisch-philosophischer Analyse.
Daneben hielt er mit seinen Schülern Uebungen über:
Kants Kritik der reinen Vernunft
Kants[j] Prolegomena
Kants[k] Kritik der Urtheilskraft.
Spinoza’s Ethik.
Betreffend seinem Vortrag hat die Erziehungsdirektion in einigen seiner Vorlesungen, denen sie persönlich beiwohnte, das Urtheil geschöpft, daß derselbe ebenso lebendig und warm, als klar und präzis genannt werden kann.
Der Regierungsrath, nach Einsicht eines Antrages der Erziehungsdirektion, beschließt:
I. Herr Dr. Wilhelm Windelband von Potsdam, zur Zeit Privatdozent an der Universität Leipzig wird als ordentlicher Professor der philosophischen Fakultät 1. Sektion der Hochschule Zürich für inductive Philosophie auf den 12. April l[aufenden] Jahres[l] für eine Amtsdauer von 6 Jahren mit steter | Wiederwählbarkeit berufen, mit Verpflichtung zu Vorlesungen von 10–12 wöchentlichen Stunden und allfälliger Betheiligung an der Lehramtsschule gegen einen außer der gesetzlichen Kollegiengeldern 4000 Franken betragenden Jahresgehalt[8] in der Meinung, daß wenn durch die Betheiligung an der Lehramtsschule sich eine größere Stundenzahl, als die oben bezeichnete ergeben würde, dafür eine besondere Entschädigung auszusetzen ist.
An die Kosten des Umzuges von Leipzig nach Zürich wird dem Berufenen ein Betrag von 700 Franken gewährt.
II. Mittheilung an die Erziehungsdirektion und durch nachfolgende Urkunde an Herrn[m] Windelband.
Der Regierungsrath des eidgenössischen Standes Zürich beruft
auf den 12. April laufenden Jahres den Herrn Dr. Wilhelm Windelband, zur Zeit Privatdozent in Leipzig als ordentlichen Professor der philosophischen Fakultät 1. Sektion der Hochschule für inductive Philosophie für eine Amtsdauer von sechs Jahren mit steter Wiederwählbarkeit mit Verpflichtung zu Vorlesungen von 10–12 wöchentlichen Stunden und allfälliger Betheiligung | an der Lehramtsschule gegen einen außer den gesetzlichen Kollegiengeldern 4000 Franken betragenden Jahresgehalt in der Meinung, daß wenn durch die Betheiligung an der Lehramtsschule sich eine größere Stundenzahl, als die oben bezeichnete, ergeben würde, dafür eine besondere Entschädigung auszusetzen ist.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Gutachten ] die Besetzungsliste nach Antrag auf Berufung vom 9.2.1876 kam erst nach einer Einigung auf Wilhelm Wundts Vorschlagsliste zustande. Ludwig Kym hatte am 20.6.1875 gegenvotiert: Die Schriften des in zweiter Linie vorgeschlagenen Herrn Windelband, sind erkenntnißtheoretischer u. metaphysischer Art u. wesentlich dialectisch gehalten, fallen somit nicht in die Linie derer, welche auf Grund der Naturwissenschaften die Philosophie bearbeiten (Staatsarchiv Zürich, U 190 a.1). Im Gutachten Wundts vom 12.6.1875 heißt es: Bei Errichtung eines Lehrstuhls für inductive Philosophie an hiesiger Hochschule ist zweifellos in erster Linie der Gesichtspunkt maßgebend gewesen, daß neben der seit Jahrzehnten fast ausschließlich auf Universitäten gepflegten historisch-kritischen Richtung der Philosophie eine weitere Vertretung dieser Wissenschaft in einer von den Ergebnissen und Forschungsmethoden der Einzelwissenschaften ausgehenden Richtung wünschenswerth sei. In zweiter Linie war aber bei jenem Beschlusse wohl auch der andere Gesichtspunkt bestimmend, daß eine doppelte Besetzung der Philosophie überhaupt dringend erforderlich ist, wenn der Umfang der philosophischen Disciplinen einigermaßen ausreichend im Unterricht zur Geltung kommen soll. […] Bei der Wiederbesetzung der erwähnten Professur müssen nun, wie ich glaube, nicht beide Gesichtspunkte festgehalten werden. Die Facultät wird vor allem ihr Augenmerk darauf richten müssen einen Mann zu gewinnen, der auf dem Boden der Erfahrungswissenschaften steht und deren Resultate im Geist der inductiven Methode philosophisch zu verwerthen sucht. Sie wird aber außerdem nicht vergessen dürfen, daß ein Lehrer der Philosophie an unserer Hochschule eine ersprießliche Wirksamkeit nur dann entfalten kann, wenn er das ganze Gebiet der Philosophie in zureichender Weise beherrscht, um die Hauptstücke derselben in seinen Vorlesungen vertreten zu können. Es folgt ein Absatz zu Schultze. Zu Windelband heißt es: Die Arbeiten von Dr. Windelband bewegen sich auf dem Gebiete der psychologischen Erkenntnißtheorie und Logik. […] Obgleich hiernach die Arbeiten von Dr. Windelband an Umfang klein sind, so scheinen sie mir doch zu den besten Erwartungen sowohl in Bezug auf seine künftigen wissenschaftlichen Leistungen wie in Bezug auf seine Lehrthätigkeit zu berechtigen. Namentlich aber scheint mir der Geist, in welchem die Untersuchungen gehalten sind, und die gediegene Kenntniß der Philosophie sowohl wie der grundlegenden Wissenschaften, welche sie verrathen, wohl geeignet ihren Verfasser für einen Lehrstuhl der induktiven Philosophie in Vorschlag zu bringen (Staatarchiv Zürich, U 109 a.1). Zitiert nach Paul Ziche: Wissenschaftslandschaften um 1900. Philosophie, die Wissenschaften und der nichtreduktive Szientismus. Zürich: Chronos 2008, S. 68–69, S. 332. Zum Kontext vgl. dass. S. 62–73.3↑in … Leipzig. ] im Vorfeld stand eine Anfrage von Karl Dilthey an Wilhelm Dilthey vom 13.6.1875 (oder 13.5.?), aus Zürich: Zum zweiten wird Wundts Stelle wieder leer. Gestern hitzige Sitzung darüber; [Ludwig] Kym kam mit einem unglaublichen Schund zu Markte; Wundt will an erster Stelle Fritz Schulze in Jena, an zweiter Windelband in Leipzig. […] Weißt Du von Windelband (freier Wille + Causalität etc.) Etwas? Die Stelle ist nunmal für „induktive Philosophie“ und man glaubt hier Etwas zu haben indem man sich an das Wort klammert; womit man naturwissenschaftliche und richtig „wissenschaftliche“ Philosophie bezeichnen will. Wilhelm Dilthey antwortete am 25.5.1875 (oder 25.6.?) und bringt Paul Robert Schuster (1841–1877, 1869 Promotion in Philosophie in Leipzig, 1872 Habilitation für Philosophie in Leipzig, 1872 PD für Systematische Philosophie und Geschichte der Philosophie in Leipzig, 1874 ao. Prof. für Systematische Philosophie und Geschichte der Philosophie in Leipzig, vgl. Leipziger Professorenkatalog) und Hermann Cohen ins Gespräch: Was deine Anfrage wegen der philosophischen Professur betrifft, so bin ich wieder ganz sicher, daß die dortige Stellung in dem Sinne, in welchem sie gedacht ist, als Professur für Erfahrungsphilosophie, auch wieder besetzt werden kann. Wollte man hiervon absehen, so müßte gegenwärtig unbedingt von allen jüngeren Philosophen an Professor Schuster in Leipzig gedacht werden. […] Es sind aber in den Gränzen der dortigen Aufgabe zwei Personen, welche mir wohlgeeignet scheinen. Durchaus in erster Linie Professor Hermann Cohen in Marburg. […] In zweiter Linie wäre dann hier Dr. Wilhelm Windelband in Leipzig zu erwähnen. Seine beiden Abhandlungen „vom Zufall“ und „Gewißheit der Erkenntniß“ sind geistvolle Studien. Doch erscheinen die mannichfachen systematischen Ansätze darin noch nicht so durchgebildet daß er als Gelehrter gegenwärtig mit Cohen verglichen werden könnte. Ein Gelehrter, der eine in seiner Art reife Durcharbeitung eines zusammenhängenden Stoffes hinter sich hat, wird jederzeit dem vorzuziehen sein, welcher erst eine solche Arbeit durchzuführen und sich an ihr zu bewähren hat. Von dieser Vergleichung abgesehn, Herr Dr. Windelband für sich genommen, kann gewiß nach den beiden Studien erwartet werden daß er auch zu zusammenhängenden einen Gegenstand nach Kräften erschöpfenden Leistungen voranschreiten werde (Wilhelm Dilthey Briefwechsel Bd. 1 1852–1882. Hg. v. G. Kühne-Bertram u. H.-U. Lessing. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. Die dortige Datierung ist fragwürdig, denn in dieser Reihenfolge stünde Wilhelm Diltheys Antwort vor Karl Diltheys Anfrage). Eine ähnliche Anfrage erging an Friedrich Albert Lange, den Vorgänger Wundts in Zürich, vgl. Hermann Cohen an August Stadler vom 14.7.1875 (aus Marburg): Man hat von Zürich aus bei Lange nach mir sich erkundigt wegen der Nachfolge auf Wundt’s Katheder, zugleich aber angefragt, ob ich auch gehen würde. Da ich nun hier unbesoldet bin, so habe ich unbedenklich diese Frage bejaht. […] In der Anfrage bei Lange waren noch genannt Fritz Schultze, und Windelband (Hermann Cohen: Briefe an August Stadler. Hg. v. Hartwig Wiedebach. Basel: Schwabe 2015, S. 68).4↑auf Herrn Dr. Windelband ] vgl. den Dank für die bei Wilhelm Wundt entliehenen Schriften Windelbands von Regierungsrat Ziegler an Wundt vom 3.2.1876, aus Zürich: Was ich von Herrn Windelband gelesen und vernommen hat mich zu dem Entschuß gebracht, ihn für die erledigte Professur vorzuschlagen (UB Leipzig, NA Wundt/III/1501-1600/1580/319–322; https://histbest.ub.uni-leipzig.de/content/estate_wundt.xed). In Wundts Nachlaß ist zudem eine Aufstellung der Schriften und Lehrveranstaltungen von Fritz Schultze (seit 1871 PD in Jena) und Windelband überliefert (NA Wundt/III/801-900/873/319-322).6↑11 andern Dozenten der Philosophie ] in Leipzig lehrten 1875/76: Moritz Wilhelm Drobisch (1802–1896), Carl Göring (1841–1879), Max Heinze (1835–1909), Conrad Hermann (1819–1897), Rudolf Seydel (1835–1892), Paul Schuster (1841–1877), Ludwig von Strümpell (1812–1899), Hermann Wolff (1842–1896), Wilhelm Wundt (1832–1920), Tuiskon Ziller (1817–1882) sowie Johann Karl Friedrich Zöllner (1834–1882), vgl. das Personalverzeichnis der Universität.7↑Vorlesungen ] vgl. die Leipziger Vorlesungsverzeichnisse und die Liste der Lehrveranstaltungen Windelbands▲