Moritz Kronenberg an Vaihinger, Berlin, 14.7.1896, 3 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 5 k, Nr. 1

Hochgeehrter Herr Professor!

Ihre Sendung und Ihren Brief[1] habe ich erhalten, und ich danke Ihnen ganz besonders für den mitgeschickten Kant-Brief, der mir allerdings ganz unbekannt war. Ich denke ihn noch verwerten zu können. Im Übrigen habe ich meine Kant-Biographie[2], von der ich schrieb, mehr unter pädagogisch-didaktischen Gesichtspunkten als unter archivarischen bearbeitet, obwohl ich auch die letzteren nicht vernachlässigt habe. Ich hoffe nach meiner Sommerreise – ich denke etwa am 25. Juli nach der Schweiz abzureisen und bis Mitte September dort zu bleiben – Gelegenheit zu finden, einige Ergebnisse dieser Kantstudien, die in meiner Biografie keine Aufnahme finden konnten[a], Ihnen zur Aufnahme in Ihre Kant-Studien vorlegen zu können. Na|mentlich habe ich an eine Untersuchung des Verhältnisses von Kant und Hamann[3] gedacht.[b]

Die Besprechung der Schrift von Anna Tumarkin[4] hoffe ich Ihnen noch vor meiner Abreise zuschicken zu können. Ich habe die Verfasserin bereits, wenn auch zunächst nur flüchtig, kennen gelernt, einmal am dritten Orte und dann im psycholog[ischen] Verein, dessen Mitglieder wir beide sind. Die Besprechung von Kühnemann[5] habe ich bereits gelesen, und es scheint mir, daß sie im Ganzen das Richtige trifft. Ihre Ansicht, daß es immer am angenehmsten ist, wenn man über eine Schrift günstig urteilen kann, teile ich vollkommen, und sie entspricht so sehr meinem Charakter, daß ich, wenn ich ein ungünstiges Urteil über ein Buch gewinne, dasselbe bisher fast immer unterdrückte, es wäre denn daß die Sache, um die es sich handelt, | von prinzipieller Tragweite ist. Auch im vorliegenden besonderen Falle bin ich ganz Ihrer Meinung, daß die Schriftensammlung von Prof. Stein[6] ein Unternehmen ist, das alle Anerkennung und Förderung verdiente und daß das interessierte Hervortreten einer Dame auf wissenschaftlich-philosophischem Felde von der Kritik zumindest wohlwollende Ermunterung erwarten darf. Mit dem Ausdrucke meiner vorzüglichsten Hochachtung bin ich Ihr ergebener

M Kronenberg


P. S. Briefe treffen mich natürlich auch später unter meiner bisherigen Berliner Adresse. – Dieser Tage habe ich übrigens die überraschende Nachricht erhalten, daß noch eine Kant-Biographie demnächst erscheinen soll[c] und zwar von Prof. Paulsen[7]. Ich weiß nicht, ob Ihnen davon schon etwas bekannt war.

Kommentar zum Textbefund

aeinige … konnten ]  mit Blaustift unterstrichen
bvon Kant und Hamann gedacht. ] mit Blaustift unterstrichen
ceine Kant-Biographie demnächst erscheinen soll ] mit Blaustift unterstrichen

Kommentar der Herausgeber

1Ihre Sendung und Ihren Brief ] nicht ermittelt
2meine Kant-Biographie ] vgl. Kronenberg: Kant. Sein Leben und seine Lehre. München: Beck 1897.
3Untersuchung des Verhältnisses von Kant und Hamann ] Kronenberg hat keinen derartigen Beitrag in der Zeitschrift Kant-Studien publiziert.
4Besprechung der Schrift von Anna Tumarkin ] vgl. die Rezension, verfasst von Kronenberg: Tumarkin, Anna. Herder und Kant. (Berner Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte, herausg. von L. Stein.) Bern, A. Siebert 1896. In: Kant-Studien 2 (1897/1898), S. 116–118.
5Besprechung von Kühnemann ] über Tumarkins Buch, erschienen in: Deutsche Litteraturzeitung, Nr. 25 vom 20.6.1896, Sp. 772–774.
6Schriftensammlung von Prof. Stein ] in dessen Reihe das Buch von Tumarkin erschienen war
7von Prof. Paulsen ] vgl. Friedrich Paulsen: Immanuel Kant. Sein Leben und seine Lehre. Stuttgart: Frommann 1898 (Frommanns Klassiker der Philosophie Bd. 7).