Bibliographic Metadata
- TitleGeorg Groddeck an Vaihinger, Baden-Baden, 8.5.1930, 5 S., Ts., ungezeichnete 2. Ausfertigung, Briefkopf Georg Groddeck | Dr. med. | Baden-Baden, den … | Werderstr. 14 | Telefon 30, Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Groddeck, Georg
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- Physical LocationDeutsches Literaturarchiv Marbach, A:Groddeck, Georg
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Georg Groddeck an Vaihinger[1], Baden-Baden, 8.5.1930, 5 S., Ts., ungezeichnete 2. Ausfertigung, Briefkopf Georg Groddeck | Dr. med. | Baden-Baden, den … | Werderstr. 14 | Telefon 30, Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Groddeck, Georg
8.5.30
Sehr geehrter Herr Geheimrat,
herzlichen Dank für Ihr ausführliches und gütiges Schreiben vom 5. Mai[2]. Ich will versuchen, möglichst genau alles mitzuteilen, was ich weiss.
Mein Vater war der älteste Sohn des damaligen Bürgermeisters von Danzig Justizrat Groddeck, der während und nach der Revolution Abgeordneter des Landtags und Schriftführer der Konservativen Partei war; wie mein Vater zu erzählen pflegte, ist ihm manche Katzenmusik von dem Mob Berlins gebracht worden und einmal soll man[a] ihm den Strick unter die Nase gehalten haben, an dem er aufgehängt werden sollte. Zunächst waren es wohl diese Erlebnisse, die meinen Vater zu seiner Auffassung der Demokratie brachten. Gewählt hat er sein Thema wohl selbständig im Anschluss an Heckers Werk über ansteckende Geisteskrankheiten.
Die Mutter meines Vaters war eine geborene Hecker, war aber nicht verwandt mit dem Psychiater, ebensowenig wie meine Grossmutter Koberstein, die ebenfalls mit ihrem Mädchennamen Hecker hiess, ohne dass irgendwelche Blutsbeziehungen zwischen ihr und der Grossmutter Groddeck oder dem Psychiater bestanden; sie war vielmehr die Enkelin eines Berliner Bürgers, der das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium gestiftet hat. – Da ich persönlich mich seit langen Jahren mit dem Studium des Unbewussten beschäftigt habe, liegt mir der Gedanke nahe, dass der Name Hecker, nicht blos das Werk des Psychiaters bei der Themawahl und dem Interesse für ansteckende Geisteskrankheiten mitgewirkt hat; den Muttereinfluss nehmen wir ja von vornherein als gegeben an, selbst wenn das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn später kühl wird, wie es bei meinem Vater der Fall war; dagegen sind seine Beziehungen zu meiner Grossmutter Koberstein geborener Hecker sehr innig gewesen, ja ich nehme an, dass er zum Teil zu der Ehe mit meiner Mutter durch die grosse Liebe[b] zu seiner Schwiegermutter gekommen ist. Mein Vater kam etwa im Alter von 16 Jahren nach Schulpforte als Kostgänger bei meinem Grossvater Koberstein; er war also nicht Pförtner Alumnus, sondern sogenannter Extraneer, das | heisst, er lebte als Kind des Hauses bei meinen Grosseltern. Bald nach seiner Ankunft erkrankte er an einem schweren Herzleiden – er ist daran im Jahre 1885 zugrunde gegangen – und meine Grossmutter und ihre älteste damals sechzehnjährige Tochter haben ihn ein halbes Jahr lang gepflegt, während er bettlägerig war. Sein Vater nahm ihn dann von der Schule fort, er hat sein Abiturium als Wilder gemacht. In dieser Pflegezeit haben sich meine Eltern gegenseitig versprochen, allerdings ohne dass die beiden Väter damit einverstanden waren. 1850 waren sie schon verlobt und haben 1852 geheiratet; ich bin der jüngste Sohn, 1866 geboren. Auf diese Schülerliebe hat meine Grossmutter Koberstein sicher grossen Einfluss gehabt und das besagt sehr viel. Ich habe diese Grossmutter, die schon 1859 starb, nicht gekannt, aber ihr Briefwechsel mit meiner Mutter und alle Erzählungen, die ich von ihr gehört habe, beweisen, dass sie ein einzigartiger Mensch war. Als ich im Jahre 1904 mit Frau Förster-Nietzsche Nietzsches Grab besuchte, erzählte sie mir, dass am vorhergehenden Abend Nietzsches Freund Gersdorff[3] bei ihr gewesen sei und sie drei Stunden lang ununterbrochen von Frau Koberstein unterhalten habe; das war 50 Jahre nach ihrem Tode. Nietzsche hat meine Grossmutter noch gekannt, und wenn er vielleicht auch keine persönlichen Beziehungen zu ihr gehabt hat, so muss er doch viel von ihr gehört haben. Im Jahre 1859 und 60 muss er auch meine Mutter kennengelernt haben, die damals fast ein Jahr in Pforte gelebt hat. Mein Vater, der nach seinem Staatsexamen als Choleraarzt nach Marienburg mit seiner jungen Frau gegangen war, hat von 56 bis 83 in Kösen eine Solbadeanstalt gehabt und sein Haus war bis in die siebziger Jahre der geistige Mittelpunkt der nahen und fernen Umgebung. Unter anderm tagten dort regelmässig die Germanisten Deutschlands, die sogenannte Vogelweide unter der Leitung Kobersteins. Der Forscher der Etrusker Corssen[c], mit dem Nietzsche von Naumburg aus viel verkehrte – er war Lehrer in Pforte – war täglicher Gast in meinem Elternhause. Ich halte es für wahrscheinlich, dass Nietzsche meinen Vater gekannt hat, dass er zum mindesten den Titel der berüchtigten Doktordissertation oft hat erwähnen hören; und wenn er persönlich mit meinem Vater zusammengetroffen ist, so muss er davon einen starken Eindruck behalten haben. Mein Vater war ein dämonischer Mensch, der aus einem reichen Unbewussten lebend Jedem[d] | der[e] mit ihm zusammentraf, etwas gab: er sah Welt und Menschen mit eigenen Augen. Uebrigens war er ebensowenig wie ich Nervenarzt, sondern einfacher praktischer Arzt, allerdings mit eigenen seiner Zeit weit vorausgeschrittenen, vielleicht auch weit hinter seiner Zeit zurückgebliebenen Ansichten, je nachdem man es nennen will. In seinen letzten Lebensjahren grub er für seinen ärztlichen Privatgebrauch das schon damals fast vergessene Buch Rademachers, des Wiederentdeckers von Paracelsus, aus. Ich habe diese „Erfahrungsheillehre“ Rademachers[4] schon als Gymnasiast gelesen; es ist für meine ärztliche und menschliche Entwicklung ebenso wichtig gewesen wie mein Schüler- und Freundesverhältnis zu Schweninger[5].
Das ist ungefähr, was ich über die Möglichkeit von Beziehungen zwischen meinem Vater und Nietzsche sagen kann. Höchstens kann ich noch hinzufügen, dass der vorhin erwähnte Corssen sicher die Dissertation meines Vaters besessen hat, wie sie denn überhaupt in Pforte allgemein bekannt gewesen sein muss, da mein Vater damals, als Nietzsche mit den Pförtner Lehrern verkehrte, noch sehr beliebt dort war.
Der demokratische Verleger, von dem ich sprach, ist Schneider und Co., Berlin. Das Buch wurde, als sich die politische Einstellung des Verlags herausstellte, zurückgezogen und der Drucker Sieling Naumburg übernahm den Vertrieb. Damit war das Schicksal des Buchs entschieden. Sieling war ein kleiner Drucker, der das Naumburger Kreisblatt, noch in meiner Gymnasiastenzeit ein armseliges Wurstblättchen, herausgab.
Mein Vater verliess[f] Marienburg, als er als letztes Opfer der Epidemie selber schwer an Cholera und Typhus erkrankte; meiner Mutter zuliebe zog er nach Kösen. Dort verlor er in den Gründerjahren sein Vermögen, siedelte nach Berlin über als Armenarzt und bekam eine der ersten Kassenarztstellen, die nach dem Krankenkassengesetz gegründet wurden. In dieser Stellung hat er sich rasch zu Tode gearbeitet. Meine Mutter, die die echte Tochter eines bedeutenden Mannes war und alles beherrschte, was man damals Bildung nannte, im Grunde aber nur Mutter war, hat ihn sieben Jahre überlebt. Beide waren Menschen, deren Kind zu sein Verpflichtungen auferlegt. |
In der Pförtner Bibliothek muss die Dissertation meines Vaters sein, da mein Grossvater Koberstein seine Bibliothek der Pforte vermacht hat. Aber es kann sein, dass das Buch später verlorengegangen ist; wenigstens war, als ich 1885 das Abitur in Pforte machte, diese überaus wertvolle Bibliothek noch nicht katalogisiert, ja nicht einmal aufgestellt. Wie kostbar sie war, geht daraus hervor, dass in der Literaturgeschichte meines Grossvaters kein Buch erwähnt ist, das er nicht selber gelesen hätte, und da er Bücher, die er las, auch besitzen wollte, finden sich eine grosse Menge verschollener Bücher darin und sehr viele Erstausgaben. Unter anderm ist dabei ein Buch, dessen Vorbesitzer enthauptet wurde, weil er es sich dadurch verschafft hatte, dass er den eigentlichen Eigentümer ermordete. Mein Grossvater soll es auf einer Auktion gekauft haben.
Wie sonderbar es in Pforte, das ich von ganzem Herzen liebe, manchmal zuging, geht daraus hervor, dass man es im Jahre 1904 noch nicht wagte, ein Bild Nietzsches, ein Geschenk seiner Schwester, aufzuhängen.
Da Sie gütig genug sind, sich nach meinen eigenen Verhältnissen zu erkundigen, füge ich noch zwei Worte hinzu. Ich habe ein Sanatorium, in dem sich Leute zusammenfinden, die anderwärts nicht genesen. Manchmal habe ich Glück mit diesen schwierigen Behandlungen, manchmal nicht. Ich bin Schüler Schweningers, wohl des grössten Arztes des letzten Jahrhunderts. Auf seinem Wege gehend fand ich mich plötzlich, ohne zu wissen, wie es zugegangen war, der Verwertung unbewusster Vorgänge in der Behandlung organischer Krankheiten gegenüber. Als ich einige Jahre später Freuds Werke kennenlernte, musste ich – nicht sehr leichten Herzens – auf die Idee verzichten, selbst Entdecker zu sein. Denn es stellte sich heraus, dass die erste Kenntnis über diese Dinge mir aus einer Notiz der täglichen Rundschau[6] zugeflogen war. Das einzige, was ich mit einem Schein des Rechts für mich beanspruchen darf, ist, dass ich die Kenntnis des Unbewussten in die Behandlung aller Kranken vor allem der organisch Leidenden eingeführt habe und dass ich ebenso wie Freud einsehe, dass die Psychoanalyse eine Weltangelegenheit und nur nebenbei eine medizinische ist, und dass ihre Verankerung mit der Medizin ein Unglück ist. Einen Titel habe ich nicht, aber ich habe Menschen, die mich lieben, und auch Einsichten, die meinem Leben Harmonie geben, soweit das möglich ist. Einen Prospekt meiner kleinen Anstalt – 15 Zimmer –, in der mir meine Frau | hilft[g], nicht blos im Haushalt, sondern als Mitarbeiterin, kann ich nicht schicken, ich habe keinen. In den Preisen richte ich mich nach dem Vermögen meiner Kranken, in der Behandlung verlasse ich mich auf meinen Kopf und auf meine Hände und auf die Ansicht, dass jeder Kranke seine eigene Erkrankung hat und dass, wer ihm helfen will, zunächst dem Satze huldigen muß: nil humani a me alienum esse puto[7] und dem andern: Kindlein liebet einander![8] Leidende aller Art suchen mich auf; ich bin nicht Spezialist, sondern praktischer Arzt mit allen Kenntnissen und Erfahrungen, die mir ein tätiges Leben gegeben hat. Und dann darf ich wohl noch sagen, dass ich über dem Arztsein nicht vergessen habe, dass der eigentliche Beruf des Menschen ist, Mensch zu werden.
Haben Sie vielen Dank für Ihre grosse Freundlichkeit. Mit vorzüglicher Hochachtung Ihr ganz ergebner[h]
Kommentar zum Textbefund
h↑ergebner ] nicht unterzeichnet. Als Beilage folgt die vermutlich von Margaretha Honegger für die Kommentierung des Schreibens angefertigte Liste der Lemmata (Ts., 1 S.; / signalisiert Zeilenwechsel): Brief 8. Mai 1930 an Geheimrat Prof. Dr. Hans Vaihinger / Antwort auf eine Anfrage von Geheimrat Vaihinger betreffend den Vater und den Einfluß von dessen Doktorarbeit „Die demokratische Krankheit eine neue Wahnsinnsform“ auf Nietzsche. Geheimrat Prof. Dr. Hans Vaihinger (1852–1933), Philosoph / Mein Vater: Dr. med. Carl Theodor Groddeck, geb. in Danzig 11.4.1827, gest. in Berlin 22.9.1885. / ältester Sohn des damaligen Bürgermeisters: Carl August Groddeck, geb. in Danzig 13.4.1794, gest. in Danzig 17.1.1877. Geheimer Justizrat und Oberbürgermeister in Danzig. / während und nach der Revolution: die europäische Revolution von 1848/49. / Heckers Werk über ansteckende Geisteskrankheiten: Justus Friedrich Carl Hecker (1795–1850), Professor der Geschichte der Medizin in Berlin. Begründer der historischen Pathologie. Seine Schriften: Hecker, über die Sympathie Berlin 1846; Hecker, die Tanzwut, eine Volkskrankheit im Mittelalter Berlin 1832. Hecker, die großen Volkskrankheiten des Mittelalters, neu herausg. von August Hirsch Berlin 1865. / Die Mutter meines Vaters war eine geborene Hecker: Henriette Elmire Hecker, geb. in Marienwerder zum 25.3.1802, gest. in Danzig 1.11.1853, Tochter des Geheimen Justizrates und Oberlandesgerichtsrates Johann Gottlieb Hecker. / Großmutter Koberstein: Caroline Henriette Auguste Hecker; geb. 4.5.1802 in Berlin, gest. 1859 in Schulpforte, Tochter des Pastors Johann Christian Nathanael Hecker. / bei meinem Großvater Koberstein: August Koberstein, geb. 10.1.1797 in Rügenwalde, gest. 8.3.1870 in Kösen, Sohn eines Pädagogen zu Rügenwalde Pommern, der später Pfarrer in Glowitz bei Stolp wurde. Literarhistoriker, Lehrer an der Landesschule Pforte. / älteste damals sechzehnjährige Tochter: Caroline Groddeck, geb. Koberstein, geb. 12.7.1825 in Schulpforta, gest. 20.9.1892. / Forscher der Etrusker Corssen: Paul Wilhelm Corssen (1820–1875), Philologe, Geschichtslehrer in Schulpforta. P. W. Corssen, Über die Sprache der Etrusker, Leipzig 1874. / Rademacher: Johann Gottfried Rademacher (1772–1850), prakt. Arzt. Begründer der Erfahrungsheillehre; sie verbindet die Diagnose mit der aus der reinen Erfahrung gewonnenen Therapie. / Schicksal des Buches entschieden: Es wurde aber doch ins Französische übersetzt: De la maladie démocratique, nouvelle espèce de folie. Traduit de l’Allemand du Docteur Groddeck, Paris 1850.Kommentar der Herausgeber
1↑Georg Groddeck an Vaihinger ] zuvor unkommentiert abgedruckt in: Georg Groddeck: Der Mensch und sein Es. Briefe Aufsätze Biografisches. Hg. v. Margaretha Honegger. Wiesbaden: Limes 1970, S. 122–126.4↑„Erfahrungsheillehre“ Rademachers ] vgl. Johann Gottfried Rademacher: Rechtfertigung der von den Gelehrten misskannten, verstandesrechten Erfahrungsheillehre der alten scheidekünstigen Geheimärzte und treue Mittheilung des Ergebnisses einer 25jährigen Erprobung dieser Lehre am Krankenbette. Berlin: Reimer 1848.5↑Schweninger ] Ernst Schweninger (1850–1924), vgl. Wolfgang U. Eckart: Ernst Schweninger. In: W. U. Eckart u. Christoph Gradmann (Hg.): Ärztelexikon. Von der Antike bis zur Gegenwart. 3. Aufl. Heidelberg, Berlin, New York: Springer 2006, S. 296.7↑nil humani a me alienum esse puto ] lat. nichts Menschliches, denk ich, ist mir fremd; geflügeltes Wort nach Terenz, Heauton Timorumenos.▲