Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Georg Groddeck, Halle, 5.5.1930, 4 S., Ts. mit eU sowie nicht eigenhändigem Postkriptum, Briefkopf Prof. Dr. phil. Hans Vaihinger | Geh. Reg.-Rat | Dr. rer. techn. h. c. Dr. med. h. c. | Dr. jur h. c. | Halle a. d. S., den … 192… | Reichardtstr. 15., Wasserzeichen MANILA | SCHREIBMASCHINEN, darunter Flügelrad, Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Groddeck, Georg
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- Physical LocationDeutsches Literaturarchiv Marbach, A:Groddeck, Georg
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Vaihinger an Georg Groddeck, Halle, 5.5.1930, 4 S., Ts. mit eU sowie nicht eigenhändigem Postkriptum, Briefkopf Prof. Dr. phil. Hans Vaihinger | Geh. Reg.-Rat | Dr. rer. techn. h. c. Dr. med. h. c. | Dr. jur h. c. | Halle a. d. S., den … 192… | Reichardtstr. 15., Wasserzeichen MANILA | SCHREIBMASCHINEN, darunter Flügelrad, Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Groddeck, Georg
5. Mai 1930
An Herrn Dr. med. Groddeck, Baden-Baden, Werderstr. 14
Sehr geehrter Herr Dr. Groddeck!
Ihre freundliche Karte vom 2. Mai[1] nebst dem soeben eingetroffenen Buche Ihres Herrn Vaters[2] haben mir eine ausserordentliche Freude gemacht. Dieses Exemplar, das aus der Hand des Verfassers selbst stammt, ist ein Unicum, da, wie Sie mir mitteilen, das Buch schon 1850 sehr wenig verbreitet wurde: wie sich später herausgestellt habe, sei der Verleger des Buches selbst ein Demokrat gewesen. Bezieht sich dies auf den Drucker, welcher auf dem Titelblatt angegeben ist, nämlich H. Sieling in Naumburg? Oder bezieht sich das auf den auf dem Titel garnicht angegebenen, aber im Bücherlexikon von Heinsius von 1850 angegebenen Verleger „Schneider & Co. in Berlin“? Falls Sie hierüber Bescheid wissen, so wäre ich Ihnen für gütige Beantwortung dieser Frage[a] sehr verbunden.
Meine Wissbegier ist nicht bloss theoretisch, sondern hat einen sehr praktischen Zweck: ich bearbeite soeben die 5. Auflage meiner Schrift „Nietzsche als Philosoph“, und bringe in dieser neuen Auflage einige wichtige Nachträge. Einer der wichtigsten[3] ist eben die Mitteilung, dass Friedrich Nietzsche zu seiner antidemokratischen Stellung offenbar stark mit beeinflusst war durch das Buch Ihres Herrn Vaters. Darüber will ich also nun Alles mitteilen, was ich weiss resp. durch Sie erfahre, resp. erfahren möchte.
Eine zweite Frage[b] ist folgende: Allem nach d. h. nach Ihren Mitteilungen, war Ihr Herr Vater (geb. 11. April 1826[c] | nach der Vita der Dissertation) der Schwiegersohn des bekannten Literaturhistorikers Karl August[d] Koberstein (geb. 10. Jan[uar] 1797 in Rügenwalde, gest. 8. März 1870 in Schulpforta, so nach Meyers Konversationslexikon). Da die deutsche Ausgabe eben diesem Koberstein gewidmet ist, so ist anzunehmen, dass C. Th. Groddeck schon damals 1850 mit ihm nahe bekannt, also vielleicht schon mit der Tochter verlobt war. Es müssen also wohl irgendwelche ältere Familienbeziehungen zwischen den beiden Häusern Groddeck und Koberstein vorhanden gewesen sein? Vielleicht wissen Sie hierüber noch Bescheid und so bitte ich um Mitteilung von Allem, was Sie darüber wissen.
Sie erwähnen, dass C. Th. Groddeck besonders beeinflusst war durch den bedeutenden Psychiater Hecker, den das Buch auch am Schluss direkt erwähnt. Ich nehme an, dass ich auf der hiesigen Bibliothek die wichtigsten Werke von Hecker finden kann. Wenn ich mich recht erinnere, so stand in der Vita der Dissertation, dass die Mutter von C. Th. Groddeck eine geborene Hecker gewesen sei. Ich kann im Augenblick nicht auf die Universitätsbibliothek gehen und dieses nachsehen, aber vielleicht können Sie mir darüber Bescheid sagen[e].
Noch würde mich ferner interessieren, zu erfahren, wann Ihr Herr Vater gestorben ist und wo?[f] Da Ihr Herr Vater 1826 geboren war, so müssten Sie selbst, sehr geehrter Herr Dr. Groddeck, auch schon in vorgerückten Jahren sein. Aus dem Umschlag der Päckchen-Sendung entnehme ich auch, dass Sie ein Sanatorium besitzen, also wohl für Nervenleiden, womit Sie ja das Fach Ihres Herrn Vaters fortgesetzt haben. Es würde mir auch von Wert sein, zu erfahren, ob Ihr Herr Vater dauernd in Danzig geblieben ist?[g]
Dass Friedrich Nietzsche im Hause von Koberstein, der ja sein Direktor war, solange er sich als Zögling dort aufhielt, | (ca. 1860) auch die Bekanntschaft Ihrer Eltern gemacht habe, ist mir eine sehr wertvolle Mitteilung. Dadurch wird ja eben die Vermutung bestätigt, dass Nietzsche in seiner stark antidemokratischen Haltung durch Ihren Vater beeinflusst worden ist. Ich habe die vielen antidemokratischen Stellen in Nietzsches Werken in dem bequemen Sachregister von Bibliotheksdirektor Dr. Richard Oehler[4] nachschlagen können, und finde grosse Aehnlichkeit der beiderseitigen Auffassungen.
Es dient zur Erklärung der antidemokratischen Haltung Ihres[h] Herrn Vaters, wenn man sich daran erinnert, dass unter den „Demokraten“ der Revolutionsjahre eben nicht bloss Demokraten im heutigen Sinne sich befanden, sondern auch viele Anhänger des Extremisten Proudhon, welcher das berüchtigte[i] Wort geprägt hat: la propriete, cest le vol[5]. Welche Sorte von Menschen sich damals in die Reihen der „Demokraten“ drängten, das erfährt man u. a. in dem mehrbändigen Memoirenwerk von Aug[ust] Heinrich Hoffmann (geb. 1798 in Fallersleben in Hannover). Dieser Dichter des sog[enannten] Deutschlandliedes, das damals als demokratisches Parteilied galt, erzählt öfters, wie lästig es ihm war, wenn solche extreme Elemente sich an ihn herandrängten.
Wenn Sie die grosse Güte haben wollten, mir recht bald meine wissbegierigen Fragen zu beantworten[6], so wäre ich Ihnen sehr dankbar und werde natürlich nicht verfehlen, in meinem Buche Sie als Quelle dankend zu erwähnen, weshalb ich auch bitte, Ihren eventuellen Titel[j] in Ihrem Schreiben hinzuzufügen.
Mit hochachtungsvoller Begrüssung Ihr ergebener
Hans Vaihinger[k]
P. S.[l] Ich darf hinzufügen, daß ich selbst schon im 78. Lebensjahr stehe. Geistig bin ich noch ganz frisch, aber allerlei körperliche Beschwerden stören mich, so besonders meine seit vielen Jahren bestehende Erblindung. – Das mir gütigst anvertraute Exemplar des Buches Ihres Herrn Vaters werde ich vorläufig auf’s sorgfältigste aufbewahren, bis Sie weitere Bestimmungen darüber treffen. |
P. S. Es ist anzunehmen, dass C. Th. Groddeck eben durch seine Beziehungen zu Koberstein dazu gekommen ist, sein deutsches Buch gerade in Naumburg drucken zu lassen, das ja in nächster Nähe von Schulpforta sich befindet.
Übrigens habe ich schon vor einigen Tagen an die Direktion von Schulpforta geschrieben, ob auf der dortigen großen Bibliothek (in die ich vor Jahren einmal hineingeführt wurde) das deutsche Buch v. C. Th. Groddeck vorhanden sei.
Vielleicht darf ich noch bitten, mir einen Prospekt Ihres Sanatoriums zuschicken zu lassen. Ich habe manchmal Gelegenheit, auf solche Nervenheilanstalten aufmerksam zu machen. Wahrscheinlich haben Sie doch wohl gedruckte Prospekte der Anstalt.[m]
Kommentar zum Textbefund
f↑wann Ihr Herr Vater gestorben ist und wo? ] mit Blaustift unterstrichen und am linken Rd. mit Punkt markiertg↑ob Ihr Herr Vater dauernd in Danzig geblieben ist? ] mit Blaustift unterstrichen und am linken Rd. mit Punkt markiertk↑Hans Vaihinger ] darunter hs. von anderer Hd.: bitte wenden! (bezieht sich auf das 2. Postskriptum)Kommentar der Herausgeber
3↑Einer der wichtigsten ] vgl. Vaihinger: Nietzsche als Philosoph. 5., erweiterte u. vermehrte Aufl. Langensalza: Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) 1930 (Bausteine zu einer Philosophie des Als-Ob N. F. Hg. v. H. Vaihinger. Heft 1 = F. Manns Pädagogisches Magazin Heft 1170), S. 96–98.4↑Sachregister von Bibliotheksdirektor Dr. Richard Oehler ] vgl. Nietzsche-Register. Alphabetisch-systematische Übersicht zu Nietzsches Werken nach Begriffen, Kernsätzen und Namen. Im Auftrage des Nietzsche-Archivs ausgearbeitet von Richard Oehler. Leipzig: Alfred Kröner 1926 (Nietzsche Werke Bd. 20).5↑la propriete, cest le vol ] recte: la propriété, c’est le vol; nach Pierre-Joseph Proudhon: Qu’est-ce que la propriété? (1840).▲