Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Hermann Gehring, o. O. [Halle], o. D. [vor 10.4.1928], abgedruckt bei: Hermann Gehring: Kant und die Religion. Von Stadtpfarrer a .D. Gehring – Degerloch, nebst einer Zuschrift von Geh. Rat Professor Dr. Hans Vaihinger in Halle. In: Schwäbischer Merkur, Nr. 166 vom 10.4.1928, Abendblatt, Schwäbische Kronik [!] II. Blatt.
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- Physical LocationHermann Gehring: Kant und die Religion. Von Stadtpfarrer a .D. Gehring – Degerloch, nebst einer Zuschrift von Geh. Rat Professor Dr. Hans Vaihinger in Halle. In: Schwäbischer Merkur, Nr. 166 vom 10.4.1928, Abendblatt, Schwäbische Kronik [!] II. Blatt.
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Vaihinger an Hermann Gehring, o. O. [Halle], o. D. [vor 10.4.1928], abgedruckt bei: Hermann Gehring: Kant und die Religion. Von Stadtpfarrer a .D. Gehring – Degerloch, nebst einer Zuschrift von Geh. Rat Professor Dr. Hans Vaihinger in Halle. In: Schwäbischer Merkur, Nr. 166 vom 10.4.1928, Abendblatt, Schwäbische Kronik [!] II. Blatt.
Es möge mir gestattet sein, Ihren treffenden Ausführungen[1] folgendes hinzuzufügen: Mit Recht weisen Sie darauf hin, daß die Religion, resp. daß die Theologie durch den Fiktionalismus der Philosophie des Als Ob insofern nicht in eine ungünstige Stellung kommt, als ja auch an allen anderen Wissenschaftsgebieten, besonders auch in der Naturwissenschaft, Fiktionen von mir aufgedeckt werden.
Ebenso ist es ganz richtig, wenn Sie daran erinnern, daß, wie bei allen anderen Fiktionen, so auch bei den religiösen der Nutzen derselben in den Vordergrund zu stellen ist, sowie, daß eben dieser Nutzen auch den Anspruch auf einen gewissen Wahrheitsgehalt in sich einschließt.
Ganz besonders treffend ist Ihr Hinweis darauf, daß wer aus Kant einseitig einen Metaphysiker macht und darüber den Kritiker Kant vergißt, auf einem Holzwege sich befindet. Sie treffen damit ganz überein mit dem, was ich seit vielen Jahren immer wieder wiederholt habe: es ist nicht richtig, mit den traditionellen Darstellungen Kants in diesem großen Geiste eine innerliche streng einheitliche Natur finden zu wollen. Vielmehr streiten in Kant gleichzeitig und nicht bloß nacheinander entgegengesetzte Richtungen, welche von ihm nicht zu einer inneren Einheitlichkeit gebracht wurden. Dies habe ich in einer eigenen größeren Abhandlung ausgeführt „Kants antithetische Geistesart, erläutert an seiner Als Ob Lehre. Diese Abhandlung erschien 1921 in der Festschrift „Den Manen Friedrich Nietzsches“ (Musarion-Verlag München); über Kants Lehre vom Glauben habe ich mich ausführlich geäußert in dem Geleitwort zu der von mir hervorgerufenen Schrift von Dr. Ernst Sänger „Kants Lehre vom Glauben. Eine Preisschrift der Krugstiftung der Universität Halle-Wittenberg. Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Hans Vaihinger“ (Leipzig, Verlag der Dürrschen Buchhandlung 1903).
Sehr richtig und sehr fein haben Sie darauf hingewiesen, daß die Beschränkungen, welche Kant einerseits der Naturwissenschaft, andererseits der Theologie auferlegt hat, für beide im Laufe der Zeit zur Bereicherung geworden sind. Ganz besonders richtig ist der Hinweis darauf, daß die Religion, resp. die Theologie einen falschen Weg einschlägt, wenn sie sich auf ein philosophisches System stützt. Das ist eine schlechte Stütze, welche (wie sich das eben bei Kant zeigt) zerbrechen und die Hand des sich darauf stützenden durchbohren kann. Wie Sie mit Recht sagen, ist, wie in der Naturwissenschaft, so auch in der Theologie die Erfahrung der einzig tragende und feste Grund.
Mit landsmannschaftlichem Gruß[2] sowie mit altem Stiftlergruß[3] Ihr ergebener
Vaihinger
Kommentar der Herausgeber
1↑Ihren treffenden Ausführungen ] Der Text des Artikels lautet (das Zeichen / signalisiert Absatz): Kant hat als Mensch an einen Gott, an die Freiheit des Willens und der die Unsterblichkeit der Seele sein Leben lang mit allem Ernst geglaubt. In seinen philosophischen Schriften ist das auch zum deutlichen Ausdruck gekommen und durch Schiller, seinen begeisterten Propheten, ist Kants Weltschauung [!] die Weltanschauung des deutschen Volkes geworden und in dessen bestem Teil auch geblieben. / Im Kampf mit einer Philosophie, welche glaubte, alles was ist, Sichtbares und Unsichtbares in seinem Dasein beweisen und in seinem Wesen ergründen zu können, ist aber der Philosoph Kant zu der Ueberzeugung gelangt, daß unser Denken an das wirkliche Sein der Dinge nicht herankommt, daß wir von allem, was außer uns ist, nicht wissen können, wie es in Wirklichkeit ist, sondern nur wie es unseren Sinnen erscheint. Sowie auch, daß wir von den Dingen, welche nicht in den Kreis unserer Sinneswahrnehmung eintreten, überhaupt nichts wissen können, und daß deshalb auch über ihre Existenz oder Nichtexistenz Aussagen zu machen unmöglich ist. Und das trifft nach Kant auf Begriffe zu, die uns die höchsten und teuersten sind, wie die Begriffe Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. / Der Philosoph Kant legte aber selbst ein Pflaster auf die Wunde, die er schlagen mußte, und zwar damit, daß er zeigt, daß wir an diese höchsten Begriffe, wenn sie auch nicht bewiesen werden können, dennoch glauben müssen, wenn wir anders unsere Menschwürde [!] aufrechterhalten und nicht auf die Stufe des Tieres herabsinken wollen, und daß das Glauben weit höher steht als das bloße Wissen. Denn letzteres bewegt nicht notwendig unseren Willen. Es kann ein völlig totes Wissen bleiben. Einen toten Glauben (im rechten Sinne genommen) aber gibt es nicht. Der Glaube ist für Kant wie für Luther „ein geschäftig Ding“, der [!] völlig automatisch zum entsprechenden Handeln treibt. / Kant als Philosoph mag uns zunächst wehe tun. Aber durch seine Erkenntnistheorie hat er die weltliche Wissenschaft von der Tyrannei eines falschen Glaubens und die Theologie von der einer falschen Wissenschaft befreit und auf beiden Seiten Raum geschaffen für die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, für die Reinlichkeit und Sauberkeit sowohl des Wissens als des Glaubens. Man kann ruhig sagen: dadurch, daß Kant die wissenschaftliche Arbeit eingeschränkt hat auf das Gebiet – nicht dessen was man wissen möchte, sondern – dessen was man allein wirklich wissen kann, hat er den der Naturwissenschaft Anstoß gegeben zu den wunderbaren Entwicklungen, die sie seitdem gemacht hat und dadurch, daß er die Theologie auf das Gebiet der religiösen Erfahrung hingewiesen hat, als auf das Einzige, auf dem wirkliche Erkenntnisse gewonnen werden können, hat er auch sie auf die gesunderen Bahnen gelenkt, welche sie seit Kant allmählich einzuschlagen begonnen hat. Für beide Teile sind die Beschränkungen, welche ihnen die Kant’sche Philosophie auferlegt hat, Bereicherungen geworden, für die dankbar zu sein beide Teile Grund genug haben. / Der Versuch aber, aus Kants Kritik der reinen Vernunft eine Metaphysik der reinen Vernunft zu machen, führt den Theologen am Ziele vorbei. Denn gerade der Gottesbegriff, den Kant für sich persönlich gehabt hat, ist für den Theologen, der doch den religiösen Menschen zu vertreten hat, nicht brauchbar. Dieser will einen Gott haben, zu dem er auch in ein persönliches Verhältnis treten, d. h. aber zu dem er auch beten kann. Ein solch persönliches Verhältnis zu Gott hielt aber der Philosoph Kant für ein Ding der Unmöglichkeit. Als das Größte an Kant sehe ich darum gerade dies an, daß er der Versuchung, seinen eigenen persönlichen Gottesbegriff mithilfe der Metaphysik der ganzen Welt aufzuzwingen, widerstanden hat, und dabei blieb, daß auch der Gottesbegriff zu den Dingen gehöre, über die ein allgemeines sicheres Wissen nicht möglich ist; dagegen läßt der Kritiker Kant jedem Menschen für seinen Glauben, auch für seinen religiösen Glauben, alle Freiheit und zeigt dabei noch, daß der Glaubensbesitz des Menschen, soweit er überhaupt noch etwas auf seine Menschenwürde hält, sein bester und für ihn und sein ganzes Leben wertvollster Besitz ist. Wer aber glaubt, den Metaphysiker Kant gegen den Kritiker Kant ausspielen zu müssen, muß fürchten, daß seine etwaigen Siege bald zu Niederlagen werden, sodaß er am Ende wird klagen müssen: „Oh weh, ich habe gewonnen!“ / Noch ein Wort über die heute so umstrittene Stellung von Vaihinger. Dieser hat mit seinem Fiktionalismus die Kantische Erkenntnistheorie auf die Spitze getrieben, aber im übrigen meines Erachtens richtig wiedergegeben. Im übrigen braucht auch der Theologe diesen Fiktionalismus nicht allzusehr zu fürchten. Man darf nicht übersehen, daß für Vaihinger die Begriffe, mit denen die Naturwissenschaft arbeitet, ebenso Fiktionen sind wie die des Theologen. Es hat somit keiner von beiden, weder der Atheist noch der Theist, weder der Materialist noch der Spiritualist, das Recht, dem Gegner Unwissenschaftlichkeit vorzuwerfen. Noch bedeutsamer ist ein anderes. Fiktionen sind bewußt falsche (d. h. von denen man weiß, daß sie noch nicht bewiesen oder daß sie überhaupt unbeweisbar sind), aber für den praktischen Gebrauch nützliche Vorstellungen. Der Nachdruck ist nicht auf das „bewußt falsch“, sondern auf das „nützlich“ zu legen. Je mehr praktischen Nutzen eine solche Vorstellung hat, um so näher wird sie aber auch bei der Wirklichkeit und bei der Wahrheit liegen. Was bedeutet das anderes als den Hinweis auf die Erfahrung, als die einzige Quelle alles wahren Wissens? Es ist das derselbe Weg, den uns die Bibel weist. Zu der Erkenntnis der Wahrheiten, für die man lebt und stirbt – und das sind die einzigen, welche wirklichen Wert haben – gelangt man nur auf dem Weg der Erfahrung, und diese beginnt wiederum mit der Fiktion, wie Vaihinger sagt, mit dem Glauben, wie wir Christen sagen. Diese auf solchem Wege gewonnenen Erfahrungen sind freilich zumeist nur für den einzelnen da. Macht aber ein anderer dieselben Erfahrungen, so kann es geschehen, daß diese zwei zu einer Gesinnungsgemeinschaft sich zusammenfinden, die dann selbst wieder Quelle neuer gemeinschaftlicher Erfahrungen werden kann. Kommen noch andere dazu und können sie zuletzt auf eine langjährige gemeinsame Erfahrung aus ihren Erfolgen zurückblicken, so kann sich mit der Zeit auch wieder etwas bilden, was auf dem Gebiet der weltlichen Erfahrung nach etwas wie Metaphysik und auf dem Gebiet der religiösen Erfahrung nach etwas wie Theologie aussieht. / * / Hiezu [!] schreibt Geh. Rat Prof. Dr. Vaihinger selber an den Verfasser: (folgt Text des Schreibens). Weitere Korrespondenz nicht nachgewiesen.2↑landsmannschaftlichem Gruß ] Vaihinger wurde in Nehren bei Tübingen geboren; Degerloch liegt in der Nähe von Stuttgart (1956 eingemeindet).3↑Stiftlergruß ] sowohl Gehring als auch Vaihinger verbrachten einen Teil ihrer Studienzeit am Evangelischen Stift Tübingen.▲