Bibliographic Metadata
- TitleKarl Girgensohn an Vaihinger, Greifswald, 7.10.1922, 2 S., Ts. mit eU, Briefkopf Prof. D. Dr. K. Girgensohn | Greifswald, Salinenstrasse 48, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 1 f
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 1 f
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Karl Girgensohn an Vaihinger, Greifswald, 7.10.1922, 2 S., Ts. mit eU, Briefkopf Prof. D. Dr. K. Girgensohn | Greifswald, Salinenstrasse 48, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 1 f
7. Oktober 22.
Hochverehrter Herr Geheimrat.
Ihr freundlicher Brief[1] war mir eine sehr unerwartete und freudige Überraschung, für die ich Ihnen meinen verbindlichsten Dank sage. Ich benutze die Gelegenheit, um mit der Antwort meine besten nachträglichen Glückwünsche zu dem schönen Feste[2], das[a] Sie erleben durften, zu verbinden. Ihre Philosophie des Als Ob hat gleich nach ihrem Erscheinen meine lebhafteste Aufmerksamkeit erregt, und ich habe in meinen Übungen zur systematischen Theologie damals meine Studenten darüber referieren lassen. Auch öffentlich habe ich mich auf sie in einem kurzen Überblick über die irrationalen Geistesströmungen in der Gegenwart[b] in meinen gemeinverständlichen „Zwölf Reden über die christliche Religion“[c] bezogen und setze die Worte der 4. Aufl. München 1921 S. 242 hierher: „Ich erinnere zunächst an die zahlreichen Fälle, in denen die Mathematik mit Größen operiert, die sie selber als „irrationale“ bezeichnet, und an die allgemein bekannten wissenschaftlichen Fiktionen, wo bewußt mit unwirklichen, unmöglichen oder gar falschen Begriffen gearbeitet wird, um irgendeinen Gedankengang klarer zu gestalten und zu einem bestimmten Resultate zu gelangen. Man hat erst in neuester Zeit begonnen, die große erkenntnistheoretische Bedeutung dieser Operationen genügend zu beachten und daraus eine neue Philosophie, die „Philosophie des Als Ob“, abzuleiten. Wer sie sorgfältig studiert, wird staunen, in wie hohem Maße alles Erkennen unaufhörlich von irrationalen Seitensprüngen Gebrauch machen muß, um zu rationalen Erkenntnissen zu gelangen.“ Ich bin daher sehr gern bereit, von Leipzig aus, wohin ich am 21. Oktober übersiedele, freundnachbarschaftliche Beziehungen zu Ihnen, sehr verehrter Herr Geheimrat, und zu Ihrem Kreise zu pflegen, und werde es mir, obgleich ich im Besitz der 1. Auflage Ihres Werkes bin, zur großen Ehre und Freude rechnen, von Ihnen ein Exemplar der neuesten Fassung[d] gestiftet zu erhalten. Meine zukünftige Seminarbibliothek in Leipzig habe ich noch nicht genügend sicher im Kopf, um zuversichtlich zu sagen, ob dort schon ein Exemplar steht und von welcher Auflage. Ich darf vielleicht von Leipzig aus nocheinmal darauf zurückkommen. Als bescheidene Gegengabe werden Sie, hoffe ich, freundlich zukünftig zu veröffentlichende Drucksachen von mir[e], die sich auf philosophische Probleme beziehen, entgegen nehmen.
Sie haben aus meinem Buch entnommen, was mich mit Ihrer Philosophie verbindet, und gemäß dem Gesagten freue ich mich, von Ihrer Seite die Bestätigung zu erhalten, daß viel Gemeinsames vorhanden ist. Aber andererseits hat doch mein Buch eine durch das Ganze hindurchgehende starke Tendenz, die in Spannung zu wesentlichen Bestandteilen Ihrer Lehren steht. Wenn ich Ihre Philosophie recht verstehe, so geht sie von dem aus, was ich heute das sensualistische und konscientialistische Vorurteil[f] des modernen Denkens nenne. Es ist dasselbe Vorurteil, das auch Kant einst veranlaßte, die Grenzen des wissenschaftlichen Erkennens enger zu ziehen, als notwendig[g] gewesen wäre. Nun ist der Kampf gegen den psychologischen Sensualismus und die Eroberung der Wirklichkeit der Gedanken und Funktionen[h] ein Hauptgegenstand meines Bemühens. Hierin werden Sie zunächst noch gar keine Spannung zu Ihren Lehren sehen, da ich hier gemäß der psychologischen Fragestellung meiner Arbeit nur die psychische Realität von Gedanken und Funktionen aufweisen konnte und Sie die psychische Realität der Fiktionen nicht bestreiten, im Gegenteil sie stark betonen. Allein es wird Ihrer Beobachtung nicht entgangen sein, daß Külpe aus dem psychologischen Nachweis der Realität der Gedanken erhebliche Konsequenzen für eine realistische Erkenntnistheorie[i] gezogen hat. Diese teile ich nicht durchweg, aber doch in vielen wesentlichen Stücken. Deshalb rede ich dort, wo Sie von „Fiktionen“ reden, weiterhin von geistigen Realitäten[j], die nicht bloß eine subjektive, sondern eine im strengsten Sinne objektive Geltung[k] besitzen. Deshalb kann ich sowohl für | das Gebiet der Religion als auch sonst die Verwandlung der symbolischen[l] Erkenntnis in eine „fiktive“ doch nicht ohne weiteres mitmachen, sondern sehe in den beiden Wörtlein geradezu den charakteristischen bleibenden Unterschied scharf ausgedrückt. Soweit, wie eine Erkenntnis als „fiktiv“ erwiesen ist, ist sie eben nach meiner Auffassung nicht mehr „symbolisch“, sondern irrig; soweit, wie sie „symbolisch“ ist, ist sie trotz der benutzten und beigemengten Fiktionen nicht fiktiv, sondern sachlich richtig und mit den objektiven Wirklichkeitsverhältnissen in Übereinstimmung.
Es läßt sich das ganz besonders anschaulich an den von Ihnen aus meinem Buche gesammelten „Als ob“-Beispielen zeigen. Dort ist das dornige Problem der „Außenwelt“ und der Realität der „Dinge“ ganz ausgeschaltet, denn es handelt sich bloß um den subjektiven Erlebnisgehalt und seine Beschreibung. Um so deutlicher ist es, daß auf diesem Gebiete die Wendung des „Als ob“ ein reines Ausdrucks- und Darstellungsphänomen ist und nichts weiter (vielfach sogar nur ein sprachliches Ausdrucksphänomen[m], das eine gewisse Unsicherheit der Erkenntnis und Gestaltung ausdrücken soll). Ganz deutlich steht allen Beobachtern dabei der eigentliche Sachverhalt in rein gedanklicher, aber freilich ganz unbeschreiblicher Weise klar vor dem geistigen Auge, und sie sind imstande, die Richtigkeit ihrer Darstellung und die Zweckmäßigkeit ihrer Bilder an dem erkennbaren richtigen Sinne zu prüfen. Wenn dieser Sinn nicht verstanden wird und das Ausdrucksmittel isoliert bleibt, so sind die Bilder absurd, Fiktionen und weiter nichts. Sobald aber der verborgene Sinn klar ist, so ist das Ausdrucksmittel freilich auch weiterhin inadäquat, aber in seiner Bezogenheit auf den gemeinten Sinn wird es zu einer sachlich richtigen und brauchbaren Darstellungsform[n], die gerade die Seite, auf die es ankommt, sachlich zutreffend und gänzlich unfiktiv schildert.
Es würde mir nun gewiß nicht ohne Nutzen sein, diese Andeutungen zu einem Vortrage auszugestalten und im Kreise der überzeugten Anhänger Ihrer Philosophie durch die nachfolgende Aussprache die Feuerprobe der Kritik bestehen zu lassen. Aber was ich Ihnen mehr oder weniger unverbindlich als meine heutige Meinung in einem Privatbriefe ohne Bedenken sagen kann, möchte ich gerne noch sehr viel weiter ausarbeiten, bevor ich damit in eine verantwortliche Diskussion öffentlich eintrete[o], besonders vor einem Kreise gewiegtester Fachleute. Ich habe freilich die Absicht, mich in nächster Zeit viel mehr mit den zeitweilig von mir wegen anderer dringlicher Aufgaben stark zurückgestellten erkenntniskritischen Problemen[p] zu befassen, fürchte aber, daß im Sommer 1923 meine Gedanken noch zu sehr im Fluß sein werden, als daß ich wünschen könnte, sie schon an allzu sichtbarer Stelle festzulegen. Aber Sie gestatten mir vielleicht, als Gast und Nachbar Ihre Tagung zu besuchen[q] und vielleicht späterhin dann einmal mitzureden, wenn ich mich in Ihrem Kreise näher umgesehen haben werde.
Mit nochmaligem Danke und wiederholtem Ausdruck der Freude, mit Ihnen in persönliche Beziehungen treten zu dürfen, Ihr sehr ergebener
Carl Girgensohn[r]
Kommentar zum Textbefund
b↑irrationalen Geistesströmungen in der Gegenwart ] mit Bleistift unterstrichen und am linken Rd. mit Bleistiftkringel markiertf↑das sensualistische und konscientialistische Vorurteil ] am linken Rd. mit Bleistiftkringel markierth↑die Eroberung der Wirklichkeit der Gedanken und Funktionen ] am linken Rd. mit Bleistiftkringel markierti↑erhebliche Konsequenzen für eine realistische Erkenntnistheorie ] am linken Rd. mit Bleistiftkringel markiertj↑geistigen Realitäten ] mit Bleistift unterstrichen und am linken Rd. mit Bleistiftkringel markiertm↑sprachliches Ausdrucksphänomen ] mit Bleistift unterstrichen und am linken Rd. mit Bleistiftkringel markierto↑in eine verantwortliche Diskussion öffentlich eintrete ] am linken Rd. mit Bleistiftkringel markiertp↑stark zurückgestellten erkenntniskritischen Problemen ] am linken Rd. mit Bleistiftkringel markiertKommentar der Herausgeber
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