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- TitleVaihinger an Gottfried Meyer, Halle, 18.4.1919, 3 S., Ts. mit eU, Universitätsarchiv Halle-Wittenberg, Rep. 6, Nr. 1862 (Universitäts-Kuratorium zu Halle a. S. General-Acten betreffend Kantgesellschaft und Kantstiftung. 1904–1943. Teil II)
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- Place and Date of Creation
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- Physical LocationUniversitätsarchiv Halle-Wittenberg, Rep. 6, Nr. 1862 (Universitäts-Kuratorium zu Halle a. S. General-Acten betreffend Kantgesellschaft und Kantstiftung. 1904–1943. Teil II)
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Vaihinger an Gottfried Meyer, Halle, 18.4.1919, 3 S., Ts. mit eU, Universitätsarchiv Halle-Wittenberg, Rep. 6, Nr. 1862 (Universitäts-Kuratorium zu Halle a. S. General-Acten betreffend Kantgesellschaft und Kantstiftung. 1904–1943. Teil II)
Diktat.
Halle, Reichardtstr. 15, den 18. April 1919.
Hochverehrter Herr Geheimer Oberreg. Rat!
Im Anschluss an das Gespräch am Mittwoch[1] beehre ich mich, Ihnen eine Copie meines Briefes an Herrn Arthur Kirchhoff[a][2] in Berlin zu übersenden, diesmal mit der Bitte, mir diese Copie gütigst wieder zustellen zu wollen. Mein Brief ist mir beim Diktieren ausführlicher geraten, als ich beabsichtigte, aber ich wollte mich möglichst scharf von den sozialistischen Bestrebungen der „Gesellschaft für staatsbürgerliche Erziehung“[3] unterscheiden.
Vielleicht darf ich die Gelegenheit dazu benützen, Ihnen das Programm einer[b] neuen Zeitschrift[4] zu überreichen, die ich jetzt begründet habe.
In aufrichtiger Verehrung Ihr ganz ergebenster
Vaihinger. |
Diktat.
Halle, Reichardtstr. 15, den 18. April 1919.
Herrn Schriftsteller A. Kirchhoff, Berlin Halensee, Lützenstrasse 9.
Sehr geehrter Herr!
Ich bestätige mit bestem Danke den Empfang von zwölf Exemplaren der Adresse an Wilson[5]. Ich werde diese Exemplare an geeignete Persönlichkeiten resp. Zeitungen verteilen.
Es erregt einigermassen meine Verwunderung, dass auf diesen Exemplaren die „Deutsche Gesellschaft für staatsbürgerliche Erziehung“ als Veranstalterin obenan steht. Die Aufforderung zur Teilnahme an dieser Adresse ging doch von Generalfeldmarschall von Bülow aus und ich kann mich nicht erinnern, dass er in seinen Briefen[6] gesagt hätte, dass diese Adresse eine Veranstaltung der „Deutschen Gesellschaft für staatsbürgerliche Erziehung“ ist.
Es ist mir dies insofern nicht angenehm, als für Fernerstehende dadurch der Eindruck erweckt wird, als ob sämtliche Unterzeichner der Adresse nun ihrerseits auch Mitglieder jener Gesellschaft seien. Das ist mir aber umso weniger angenehm, als ich mehrfach ganz entschieden die Mitgliedschaft an dieser Gesellschaft abgelehnt habe. Ich habe diese Ablehnung auch ausführlich motiviert, insbesondere habe ich erklärt[7], dass die Richtung jener Gesellschaft mir nicht zusage, da sie den Sozialismus zu einseitig in den Vordergrund stellt. Ich will hierauf nicht nochmals näher eingehen, wiederhole aber ausdrücklich, dass ich der Meinung bin, dass der Individualismus und mit ihm auch der Privatkapitalismus sittlich berechtigte Richtungen sind, die durch den Sozialismus nicht ersetzt werden können. Ich verkenne nicht die relative Berechtigung des sozialen Gedankens gegenüber der früher herrschenden sogen[annten] Manchester-Schule[8], aber ich glaube, dass die Art und Weise, wie schon vor dem Kriege in Deutschland dieser soziale Gedanke durch die Gesetzgebung realisiert worden ist, unzweckmässig ist, und vollends bin ich der Überzeugung, dass auch manche Bestrebungen der jetzigen sozialen Regierung verhängnisvoll sein können. Das Bürgertum, dem in dem Programm der „Deutschen Gesellschaft für staatsbürgerliche Erziehung“ so heftige Vorwürfe gemacht werden, hat einerseits vor dem Kriege den sozialen Gedanken schon sehr stark zu betätigen gesucht, hat aber allerdings überaus grosse Fehler gemacht: Aber diese Fehler liegen auf einer ganz anderen Linie, als diejenige ist, die jenes Programm verfolgt.
Sympathischer ist mir der Gedanke zur Wiederherstellung der guten Beziehungen zwischen den Kulturvölkern eine Gesellschaft zu gründen. Doch scheint mir der Name „Bund der Weltbürger“ dafür nicht geeignet. „Weltbürger“ hat jetzt in Deutschland insofern mit Recht einen etwas unangenehmen Klang, als wir gerade unter den jetzigen Umständen unsere nationale Einheit stärker als je betonen müssen. Andererseits muss eine Gesellschaft, die eine internationale Wirkung haben will, auch einen Namen haben, der international ist und der womöglich in allen Kultursprachen identisch ist. Dazu würde sich das Wort | „Kosmopolit“ an sich wohl eignen, weil es allen Kultursprachen gemein ist, aber der oben genannte Grund gegen „Weltbürger“ gilt auch hier.
Eine solche Internationale Gesellschaft muss also einen Namen haben, der sich in allen Kultursprachen wiederfindet, und dazu eignet sich am besten ein Name aus der antiken Welt, der einen guten Klang hat und so würde ich folgende Bezeichnung vorschlagen:
Minerva
Internationale Gesellschaft für allgemeinmenschliche Kultur
Das Wort „Minerva“ ist allen Kultursprachen gemeinsam und so könnten die Ausserdeutschen[c] Mitglieder einer solchen Gesellschaft sich in allen Ländern genau unter demselben Namen zusammenfinden. Der Untertitel, also die zweite Linie, kann dann in jeder Sprache anders lauten, wenn nur der Obertitel allen Sprachen gemeinsam ist.
Die Göttin Minerva ist die Vertreterin und Unterstützerin der Kunst und der Wissenschaft, also der beiden wichtigsten Gebiete der allgemeinmenschlichen Kultur, der Gebiete, durch welche auch feindliche Nationen immer noch miteinander verknüpft sind. So könnten Künstler, Schriftsteller, Gelehrte und noch verschiedene andere Vertreter der allgemeinmenschlichen Kultur sich aus allen Nationen in dieser Gesellschaft vereinigen, um einerseits die allgemeinmenschliche Kultur vor dem drohenden Untergang zu retten, und um andererseits die natürlichen menschlichen Beziehungen zwischen den Völkern, resp. deren Vertretern wieder her zu stellen, die durch den Krieg in so grausamer Weise und so widersinnig und unnötig zerstört worden sind.
In diesem Sinne wäre ich bereit, an einer derartigen Gesellschaft mitzuwirken[9], soweit es meine schwache Gesundheit erlaubt.
Ausdrücklich bemerke ich aber noch, dass eine derartige Gesellschaft sich aller politischen und wirtschaftlichen Parteinahme enthalten müsste, insbesondere müsste sie sich jeden sozialen resp. sozialistischen Bestrebungen enthalten, und könnte also auch mit der „Deutschen Gesellschaft für staatsbürgerliche Erziehung“ absolut gar nichts zu schaffen haben.
Noch mache ich zur Bestätigung des Vorhergesagten[d] auf Folgendes aufmerksam: Die meisten Deutschen ahnen gar nicht, dass im gebildeten Ausland, speziell in England und Amerika, aber auch in Frankreich die in Deutschland so hoch eingeschätzten sozialpolitischen Gesetze und Einrichtungen, die wir vor dem Kriege eingeführt haben, gar nicht geschätzt werden, dass im Gegenteil die führenden Kreise jener Länder in der deutschen Sozialgesetzgebung eine grosse Gefahr sehen. Ich bin persönlich überzeugt, dass eine wichtige Mitursache des Krieges darin bestand, dass jene führenden Kreise Deutschland nur deshalb unterdrücken wollten, weil sie die von Deutschland vor dem Kriege befolgte sozialpolitische Richtung als eine verhängnisvolle für die ganze Welt ansahen, worin sie meines Erachtens auch ganz recht hatten. Diese Auffassung klingt dem Ohr des Durchschnittsdeutschen ganz unverständlich, aber mein Absagebrief an Herrn Generalfeldmarschall von Bülow[10] betreffend die „Gesellschaft für staatsbürgerliche Erziehung“ hat ja schon ähnliches gesagt.
Mit vorzüglicher Hochachtung
gez[eichnet] Vaihinger
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
3↑Bestrebungen der „Gesellschaft für staatsbürgerliche Erziehung“ ] vgl. Vaihinger an Meyer vom 19.3.1919 und Karl von Bülow an Vaihinger vom 25.3.1919.4↑Programm einer neuen Zeitschrift ] liegt nicht bei; vgl. bereits Vaihinger an Gottfried Meyer vom 19.3.1919.5↑Adresse an Wilson ] vgl. Herrn Woodrow Wilson. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika [datiert: Halle a. d. S., Jena, Kiel, Leipzig. In der zweiten Hälfte des April 1919]. Berlin-Halensee: Deutsche Gesellschaft für staatsbürgerliche Erziehung. Berlin-Halensee / Lützenstrasse 9. Telef.: Pfalzburg 1859 * Nr. 9 * Anfang April 1919 (http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=1-62191-221 (24.9.2024)) – sowie Kommentar zu Vaihinger an Hermann Gocht (mit Kopie an Elisabeth Förster-Nietzsche) vom 31.1.1919. Zu den Hintergründen vgl. auch Karl von Bülow für Gesellschaft für staatsbürgerliche Erziehung an Gerhart Hauptmann vom 11.2.1919 (irrtümlich abgelegt unter dem Namen des Diplomaten des auswärtigen Amtes Bernhard von Bülow [1885–1936]!): Sehr geehrter Herr! Nach einer vertraulichen Rücksprache mit dem Chef-Korrespondent der Associated Press, die elfhundert amerikanische Zeitungen bedient, haben wir uns entschlossen, die beigefügte Depesche an den Präsidenten Wilson vorzubereiten. Man teilt uns vertraulich mit, dass es Wilson wünschenswert sein wird, durch die vorliegenden [!] Depesche eine Rückenstärkung gegenüber seinen Alliierten zu bekommen und gegenüber den imperialistisch-kapitalistischen Kreisen Amerikas […] (http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001248B00000000 (24.9.2024)).8↑Manchester-Schule ] in England die aus der Opposition gegen die Korngesetze hervorgegangene politische Partei […]. Ihren Namen hat sie daher, daß die Stadt Manchester der räumliche Mittelpunkt der Agitation war. […] Die M. verfocht radikal freihändlerische Grundsätze. Infolge hiervon ist es üblich geworden, die streng individualistische Richtung in der Volkswirtschaftslehre, die jeden Staatseingriff in das Wirtschaftsgetriebe verwirft […], als „Manchestertum“, „Manchesterdoktrin“ etc. zu bezeichnen (Meyers Großes Konversations-Lexikon Bd. 13. Leipzig 1908, S. 205, http://www.zeno.org/nid/20007044097 (24.9.2024)).10↑mein Absagebrief an Herrn Generalfeldmarschall von Bülow ] vgl. Vaihinger an Hermann Gocht vom 31.1.1919▲