Bibliographic Metadata
- TitlePaul Ernst an Vaihinger, Sonnenhofen, 14.3.1919, 2 S., hs., Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Ernst, Paul
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- Place and Date of Creation
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- Physical LocationDeutsches Literaturarchiv Marbach, A:Ernst, Paul
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Paul Ernst an Vaihinger, Sonnenhofen, 14.3.1919, 2 S., hs., Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Ernst, Paul
Sonnenhofen, Post Königsdorf, O[ber-]Bay[ern]
14. März 19
Hochgeehrter Herr Geheimrath, für Ihre freundlichen Zeilen[1] sage ich Ihnen meinen verbindlichsten Dank. Ich bin sehr stolz darauf, daß mein Buch Ihr Interesse erwecken durfte; Ihr Gedanke des „Als Ob“ hat mir mit einem Schlage die wesentlichen Probleme gelöst, die mir unlösbar vor der Seele standen, ich fühle mich Ihnen tief dankbar[2] als Ihr Schüler.
In dem Buch spielt demnach die Philosophie des Als Ob eine sehr große Rolle, sie ist mir für einen wesentlichen Theil des Gedankenbaus die Grundlage gewesen. Sie vermissen die Erwähnung des Titels Ihres Werkes, ich habe gesucht, und es scheint wirklich so, als ob ich ihn nirgends ausdrücklich genannt[3] habe. Sollte sich das bewahrheiten, so hängt es so zusammen: ich habe die einzelnen Aufsätze zunächst in Zeitschriften drucken lassen. Da war denn, als sie zusammengestellt wurden, manches doppelt und dreifach gesagt, u. es mußte deshalb gestrichen werden. Unter den Streichungen waren auch Hinweise auf Ihr Buch, wie ich mich genau erinnere, was sich daraus ergiebt, daß es für mehrere Capitel wichtig ist. Nun wäre es möglich, daß ich dabei alle Hinweise gestrichen hätte. Ich erinnere mich z. B. deutlich, daß ich S. 277 den Titel in einer Fußnote genannt hatte. Sollte sich herausstellen, daß es nirgends mehr ausdrücklich genannt ist, so werde ich wohl am besten auf dieser Seite den Hinweis wieder herstellen[4], wenn die 2te Auflage kommt. Es würde das ja übrigens nur eine praktische Bedeutung haben, Leute, die mit Ihren Gedanken noch nicht vertraut sind, ausdrücklich auf das Buch aufmerksam zu machen, denn wer die Dinge kennt, der sieht ja überall, was ich von Ihnen gelernt habe.
Wenn ich Philosoph wäre, so würde ich den Versuch machen, eine Verbindung Ihres klaren Gedankens mit einem nicht so klaren, aber doch sehr wertvollen Gedanken von Lotze herzustellen, der jetzt Einfluß zu gewinnen scheint, daß es nämlich zwei Welten gebe, eine des Seins und eine des Werthens. Ihre Fiktion kommt schließlich auf die Lotzesche Welt des Werthens hinaus, nur ist sie ein wissenschaftlicher Begriff, während bei Lotze eine unerlöste Meta|physik im Grunde liegt. Und sollte von da der Sprung so weit sein zur Platonischen Ideenlehre? Was ich „Form“ nenne, und was mir ursprünglich aufgegangen ist in der Praxis des Dichters, was mir gleichmäßig klar wurde in der Beschäftigung mit sociologischen Problemen – etwa: wie wird aus den religiösen Erlebnissen der Einzelnen Religion[a] und aus dieser Kirche – das scheint mir mit den Platonischen Ideen sehr nahe verwandt zu sein; aber ganz klar wurde mir mein eigener Formbegriff erst durch Ihre Fictionslehre. Ich glaube, die Unterschiede zwischen Ihnen, Lotze und Plato liegen nur in den verschiedenen Betonungen. Aber ich bin nicht Philosoph, ich denke nicht scharf genug, um dergleichen im Ernst behaupten zu dürfen.
Das Buch habe ich noch ganz in der alten Zeit geschrieben, es ist im Frühsommer 1917[b] abgeschlossen[5] gewesen u. einige Aufsätze gehen bis auf 1½ Jahre früher zurück. Hätte es die neue noch[c] mit erlebt, dann hätte ich Manches anders gefaßt, ich hätte dann auch gegen die neue Zeit gekämpft, während ich so einseitig[d] gegen die alte kämpfe.
Ich halte den Marxischen Socialismus, der ja die officielle Religion der neuen Zeit ist – in der Praxis sieht die Sache etwas anders aus, da herrscht einfache Planlosigkeit – lediglich für eine logische Consequenz des Capitalismus, ich halte ihn für eine Auflösung[6], nicht für den Anfang einer Neubildung. Die neuen Männer sind genau solche Esel, wie die alten waren, sie haben gleich diesen nie einen Gedanken gehabt und zeigen eine fast abergläubische Furcht davor, neues in[e] ihren Geist anders gehen zu lassen, als in Phrasen. Seit Marx hat in der Socialdemokratie nicht ein einziger Mensch gedacht. Marx aber war ein guter Kritiker des Capitalismus und ein sehr[f] scharfsinniger Mann, aber er war ein ganz flacher Denker und hatte eine Menschenkenntnis wie ein idealistischer Tertianer. Die Grundlage seines Systems, wenn man von einem solchen sprechen kann, seine Werthlehre, ist eine petitio principii.
Jedenfalls aber war das Alte gänzlich unhaltbar, denn von allen Erscheinungsformen der bürgerlichen Gesellschaft war die Deutsche die verlogenste; ich glaube, daß wir erst am Anfang des Zusammenbruchs stehen u. daß die Revolutionslüge auch erst zusammenbrechen muß. M[eines] E[rachtens] müssen wir erst ca. 20 Millionen Menschen durch Bürgerkrieg, Hunger, Krankheit u. s. w. verlieren, dann wird eine Rückkehr zu einer Art Naturalwirtschaft möglich sein.
Hochachtungsvoll u. Ergeben[g]
Dr. Paul Ernst.
Kommentar zum Textbefund
a↑Erlebnissen der Einzelnen Religion ] mit Bleistift unterstrichen zur Anzeige von Unleserlichkeit (vgl. Vaihinger an Paul Ernst vom 28.11.1923)c↑es die neue noch ] mit Bleistift unterstrichen zur Anzeige von Unleserlichkeit (vgl. Vaihinger an Paul Ernst vom 28.11.1923)d↑einseitig ] mit Bleistift unterstrichen zur Anzeige von Unleserlichkeit (vgl. Vaihinger an Paul Ernst vom 28.11.1923)Kommentar der Herausgeber
3↑nirgends ausdrücklich genannt ] vgl. Paul Ernst: Der Zusammenbruch des deutschen Idealismus. An die Jugend. München: Georg Müller 1918, S. 277 (ohne Literaturangabe): Das Ding an sich hätte dann den Wert einer heuristischen Hypothese, an die man nicht glaubt; aus der man keine Schlüsse zieht, die man nur verwendet, um sich Gedankenvorgänge zu vereinfachen. Vaihinger hat diesen Rettungsversuch übernommen und bezeichnet das Ding an sich demnach als Fiktion. Aber das Ding an sich ist nicht eine solche heuristische Hypothese, an die man nicht glaubt; es ist eine Hypothese, aus der man Schlüsse zieht, die bestehen bleiben, nachdem man die Hypothese hat fallen lassen. Es ist keine imaginäre Zahl, die sich im Lauf der Rechnung von selber wieder aufhebt, es ist keine Fiktion dieser Art. Durch seine Annahme behauptet Kant, daß es mehr gibt wie die Empfindungen. Diese Behauptung würde immer bestehen bleiben, wenn er das Ding an sich wieder eliminierte: und aus ihr kann er es dann jederzeit wieder in seine Rechnung hineinbekommen. Dem entspricht es durchaus, wenn Vaihinger zuletzt erklärt, daß Kant den „reinen Standpunkt“, nämlich das Ding an sich als Fiktion aufzufassen, nicht immer festgehalten habe, sondern das Ding an sich habe sich ihm in eine Realität verwandelt.5↑im Frühsommer 1917 abgeschlossen ] vgl. den eingedruckten Vermerk in Paul Ernst: Der Zusammenbruch des deutschen Idealismus (1918) auf S. 428, unter dem Text: Beendet im Juni 1917▲