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- TitleKurt Breysig an Vaihinger, Rehbrücke bei Potsdam, 10.6.1917, 8 S., interlinear mit Bleistift geschriebene Entzifferungsversuche von der Hd. Vaihingers (die Lesung weiter Teile des Schreibens ist unsicher), Briefkopf Professor Kurt Breysig | Eichenallee 4 · Fernspr. | Amt Potsdam Nr. 1985 | Rehbrücke bei Potsdam | den … 191 …, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 3 l
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 3 l
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Kurt Breysig an Vaihinger, Rehbrücke bei Potsdam, 10.6.1917, 8 S., interlinear mit Bleistift geschriebene Entzifferungsversuche von der Hd. Vaihingers (die Lesung weiter Teile des Schreibens ist unsicher), Briefkopf Professor Kurt Breysig | Eichenallee 4 · Fernspr. | Amt Potsdam Nr. 1985 | Rehbrücke bei Potsdam | den … 191 …, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 3 l
10. Juni 1917
Hoch verehrter Herr Geheimrat,
ich muß recht sehr um Entschuldigung bitten, wenn ich erst heut dazu komme Ihren so sehr gütigen Brief[1] zu beantworten. Die Ursache dieser Verzögerung ist eine Doppelte: Ihr Schreiben ging mir (mit einer gestohlenen Reisetasche) leider verloren, vor allem aber wollte ich Ihnen, so wie Sie es freundlich erbaten, erst schreiben, wenn ich über Ihre Als-Ob-Lehre[2] etwas zu sagen hätte. Zwar besaß ich das Werk, aber bei weitem noch nicht den Geist – das darf ich gewiß auch heut noch nicht behaupten, aber ich weiß doch jetzt um sein Woher und Wohin! Ob ich aus diesem | Wissen das Recht herleiten darf, Ihnen darüber zu sprechen, ist mir fraglich. Immerhin – aus einzelnen Gründen wage ich es.
Ihr Werk macht froh – und zwar deswegen weil es zu den glückhaften Büchern gehört: denn es ruht wie ein gut gebautes Gewölbe auf einem Schlußstein – einem großen, unendlich fruchtbaren Gedanken, von dem ich mir einbilde, daß er verbunden mit Ihrem Namen nie mehr aus dem Bau des Gedankens der Menschheit herauszubrechen sein wird. Ich nehme an, daß Sie dem Kantischen Grundgedanken erst sein Reich weiter machen und seine Grenzen abgesteckt haben – ihm vor allem in die Länder der Einzelwissenschaften hinein Provinzen erobert haben. Und als Ihr Eigenstes erkenne ich die Beziehung der Denkform, die Sie verfolgen, auf das Leben, die Aufzeigung ihres Wesens als durch die Absicht, die Welt zu bezwingen, die See|le vom Schicksal frei zu machen, bestimmt.
Die Geschlossenheit und Vielgliedrigkeit des Werkes ist wundervoll und ich denke mir, durch seine beiden Eigenschaften haben Sie den Urheber[3] glücklich gemacht.
Gar nicht darf ich mir irgend welche Zuständigkeit anmaßen, über die Unumstößlichkeit Ihres Gedankengebäudes zu urteilen. (Eine Fiktion selbst ist ja Ihre Fiktionenlehre wohl unzweifelhaft auch nach Ihrer Anschauung.) Ein Punkt in Ihren Grundlegungen wo ich häsitiere ist der, an dem Sie die Zweckmäßigkeit der Ausbildung der fiktiven Begriffe (S. 9) postulieren als einzige Voraussetzung für den Gesamtvorgang. Ich möchte hier einem Nebeneinander von zweckhaften und spielerisch-blühenden, wachsenden (also unzweckhaften) Sich-Entfalten der fiktiven Verstandestätigkeit das Wort halten. Mich beeinflußt hier wesentlich die Anschauung meines Freundes Uexküll[a][4], die das biologi|sche Wachstum wohl als zielstrebig, nicht aber im anthropomorphen Sinne zweckhaft auffaßt. Und ich möchte meinen einen Teil des Wachsens des Verstandes müßte man noch als biologisch-unbewußt auffassen!
Doch rührt dies nicht an die Plausibilität Ihres Gesamtbildes – an dem ich so sehr großes Gefallen habe, daß ich nur immer wieder bedauerte nicht mehr Einzelausführungen zu finden: dies Buch könnte ja 5 Bände zählen und würde immer noch kurz sein!
Für mich als Geschichtsforscher ist Ihr Werk in zwei Richtungen von wesentlicher (d. h. auf mich wirkender) Bedeutung. Erstlich giebt es in der Form des begrifflichen Nebeneinanders eine sehr große Zahl an Beobachtungen, die zu sofortiger Uebertragung auf das zeitliche Nacheinander der Erkenntnis der Geschichte einer der Haupttätigkeitsformen des menschlichen Verstandes auffordern. Denn wenn ich Ihre Sätze las, schweifte mein Gedenken vorzüglich zu der Stufe menschheitlicher Entwicklung, die es am liebsten aufsucht: zu der Kindheit der Urzeitvölker. Ich schlug eifrig in Ihrem Kapitel der mathematischen Fiktionen nach ob Sie | nicht unter den abstraktiven Fiktionen dort die Zahl behandeln[b] (soweit ich sehe: eine der gewaltigsten Werkzeugschmiedungen, die der menschliche Verstand je zu Wege gebracht hat – daher es dann nichts Dümmeres gibt als über die jungen Völker zu spotten, die „nur“ bis 3 zählen können!) Wortschatz und Grammatik der Sprache dieser jungen Zeiten und Völker bieten sehr viel Stoff zu ähnlichen Beobachtungen!
Oder erkennen Sie die Zahl vielleicht nicht als Fiktion an?
Zum Zweiten war mir freilich das Insgesamt Ihrer Darlegung für mich eine heftige Mahnung zu prüfen: wie weit ich denn aus Fiktionen arbeite. Das Ergebnis war mir doch überraschend und doch freilich wieder übereinstimmend mit meiner alten Selbstcharakteristik meiner Kulturgeschichte („ein Versuch begriffsmäßiger Geschichtsforschung“[5]) Vor allem die letzten Faden bei meinem Geflecht an denen ich das gesamte Netz des Menschheitsgeschehens aufreihen möchte: die sozialpsychologischen Grundtriebe[6]: Genossenschaftstrieb | und Persönlichkeitsdrang sind Hypostasen die Sie sicherlich als Fiktion erkennen werden. Aber auch alles was ich über Stufenalter und Bahnenlauf der Weltgeschichte gedacht habe (und wovon vieles heut noch nicht veröffentlicht ist) fällt streng unter Ihre Fiktion.
Aber dies Schicksal teile ich ja mit den Forschungen aller systematischen Geisteswissenschaften. Und möchte nun auch in deren Namen gegenüber den letzten Folgerungen die Ihre hierin sehr strenge Lehre zieht, einen zunächst lediglich praktischen Einspruch erheben. Ein Begriff wie „die demokratische Strömung – oder vielleicht noch klarer – der demokratische Gedanke in Europa“ ist doch wohl nach Ihrer Begriffsumgrenzung sicherlich eine Fiktion – Aber wie sollen wir, praktisch, auskommen, wenn aller Demokratismus von vornherein als Fiktion geltend und kenntlich gemacht werden soll?
Und weiter, auch theoretisch, sind solche Kenntlichmachungen bedeutet ein immer[c] | wiederholtes Fragezeichen und lähmt als solches die Schärfe und den Mut dieser Forschungsform. Und schließlich sind doch alle einfachsten Sammelbegriffe „der“ Staat, das Parteiwesen oder der Ultramontanismus, der Radikalismus, der Konservatismus u. s. w. u. s. w als neglektive Abstrakte, Fiktionen in Ihrem Sinne. (D. h. wohl alle Semifiktionen?)
Immerhin gilt dies mein Bedenken nur der Frage nach der Häufigkeit oder Jedesmaligkeit der Anwendung dieser Begriffsactivirung[d], nicht dem Recht Ihrer Lehren. Ich sagte meiner Frau[7], mit der ich gerne, was der Tag an Schönheit oder Weisheit mir zuträgt, teile – als sie fragte: was wird denn nun an der Kette aller dieser Zertrümmerungen aufgebaut? – Das Ergebnis ist demnach kein verneinendes, denn indem so viele Denkbauten als Bilder erkannt werden, wird damit die allerstärkste Aufforderung ausgesprochen zu immer neuen Gedankengebäuden zu gelangen. – Und dieses nicht verneinende, sondern bejahende Ziel der Wirkung Ihres Werkes, macht denke ich, den schönsten, stärksten Teil seiner Schönheit und Reife aus! |
Gleichzeitig[e] mit diesem Brief möchte ich darum das Fragment meiner Menschheitsgeschichte[8] in Ihre Hände als die eines, so hoffe ich gütigen und nachsichtigen Lehrers legen. Vielleicht nehmen Sie – bei guter Gelegenheit – wenigstens von der methodologischen Einleitung und der Hilfsbegriffe, oder einem oder anderen Einzelabschnitt Notiz. Dazu[f] mein Programmbuch: der Stufenbau[9]. Vielleicht vernehmen[g] Sie daraus den stummen Nachhall: meinen Kampf mit dem unausrottbaren Descriptivismus der Historiker. Daß ich in ihm für meine Person nichts anderes als Unannehmlichkeit davon getragen habe, ist nicht allzu wichtig – denn die Wonne allem Zunftzwang zum Hohn meinen Weg ganz für mich gehen zu dürfen, wiegt sie zehnmal auf. Aber bedenklich ist mir, daß die geistige Atmosphäre sich doch als noch nicht im Sinne einer allgemeinen und begrifflichen Anschauungsweise ändern will. Und das Seltsame ist, die Philosophie sieht diesem Kampf in den Einzelwissenschaften zu, gleich als ob es sie gar nichts anginge – da doch tua res agitur![10]
Wie seltsam zersplittert vollzieht sich doch das Leben selbst eines so geistigen Volks wie der Deutschen!
Mit den besten Empfehlungen Ihr in besonderer Hochschätzung ergebener
K Breysig
Kommentar zum Textbefund
b↑behandeln ] danach Fußnotenzeichen und-text: Ich fand Sie dann nicht bei Ihnen wohl aber als Nietzsche-Citat. (S. 778) [Vaihinger zitiert Nietzsche: „die Zahlen beruhen auf einem Irrtum, dass es mehrere gleiche Dinge gebe, … gerade hier schon waltet der Irrtum, schon da fingieren wir Wesen, Einheiten, die es nicht gibt“].c↑sind solche Kenntlichmachungen bedeutet ein immer ] so wörtlich, Satzkonstruktion vermutlich während des Schreibens veränderte↑Gleichzeitig ] letzte S. des Schreibens auf neuem Briefbogen, jedoch um 180° gedreht, so dass die Signatur über dem auf dem Kopf stehenden gedruckten Briefkopf zu stehen kommt.Kommentar der Herausgeber
3↑den Urheber ] in der Erstausgabe von Die Philosophie des Als Ob (1911) bezeichnete Vaihinger sich als Herausgeber, nicht als Verfasser, da die ältesten Teile des Buches auf seine Habilitationsschrift von 1876 zurückgingen, mithin gewissermaßen von einem jüngeren Ich stammten; vgl. Vaihinger: [Selbstanzeige:] „Die Philosophie des Als Ob“. Mitteilungen über ein unter diesem Titel soeben erschienenes neues Werk. Von dessen Herausgeber H. Vaihinger; ders.: Erklärung betr. meine Autorschaft an der „Philosophie des Als Ob“. In: Kant-Studien 16 (1911), S. 108–115 u. S. 522–523.4↑Uexküll ] die Rede ist von dem Biologen Jakob Johann Uexküll (1864–1944), u. a. Verfasser des Buches Umwelt und Innenwelt der Tiere (1909) mit den Termini von Umweltlehre und Funktionskreis der Organismen (NDB).5↑„ein Versuch begriffsmäßiger Geschichtsforschung“ ] vgl. Breysig: Ein Versuch begriffsmäßiger Geschichtsschreibung. Eine Selbstanzeige. In: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich [Schmollers Jahrbuch] 25 (1901), S. 719–734. Breysig zeigt darin sein Werk an: Kulturgeschichte der Menschheit. Vergleichende Entwicklungsgeschichte der führenden Völker Europas und ihres sozialen und geistigen Lebens. 1. Bd. Aufgabe und Maßstäbe einen allgemeinen Geschichtsschreibung. Ziele der Forschung. Umrisse einer historischen Staats- und Gesellschafts-, Kunst- und Wissenschaftslehre. Berlin: Georg Bondi 1900.6↑sozialpsychologischen Grundtriebe ] vgl. auch Breysig: Das Geflecht der Triebe. Selbstbereicherung und Welterweiterung. In: Max Oehler (Hg.): Den Manen Friedrich Nietzsches. Weimarer Weihgeschenke zum 75. Geburtstag der Frau Elisabeth Förster-Nietzsche. München: Musarion o. J. [1921], S. 25–43. Darin S. 151–182 von Vaihinger: Kants antithetische Geistesart erläutert an seiner Als-Ob-Lehre.8↑Fragment meiner Menschheitsgeschichte ] vgl. Breysig: Die Geschichte der Menschheit. 1. Bd.: Die Völker ewiger Urzeit. 1. Bd. [!] Die Amerikaner des Nordwestens und des Nordens. Berlin: Georg Bondi 1907. Weitere Bde. folgten erst ab 1936.9↑der Stufenbau ] vgl. Breysig: Der Stufen-Bau und die Gesetze der Welt-Geschichte. Berlin: Georg Bondi 1905.10↑tua res agitur! ] geflügeltes Wort nach Horaz, Episteln I, 18, 84: Nam tua res agitur, paries cum proximum ardet (in Georg Büchmanns Übersetzung: Brennet des Nachbarn Wand, so bist du selber gefährdet).▲