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- TitlePaul Ernst an Vaihinger, Neustadt (Südharz), 12.1.1917, 2 S., hs., Wasserzeichen in rundem Sigel: M K | PAPIER, Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Ernst, Paul
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- Physical LocationDeutsches Literaturarchiv Marbach, A:Ernst, Paul
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Paul Ernst an Vaihinger, Neustadt (Südharz), 12.1.1917, 2 S., hs., Wasserzeichen in rundem Sigel: M K | PAPIER, Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Ernst, Paul
Neustadt (Südharz)
12. Jan[uar] 17
Hochgeehrter Herr Geheimrath, für den freundlichen und ausführlichen Brief[1] sage ich Ihnen meinen allerherzlichsten Dank.
Die beiden Einwendungen habe ich nicht gegen die „Philosophie des Als Ob“ gemeint, die mir vielmehr unwidersprüchlich zu sein scheint, sondern gegen Kant allein. Ich habe aber das Gefühl, daß hier zwei Gefahren[a] Kants für uns vorliegen. Schon Aenesidemus-Schultze behauptete, daß Kant ein versteckter Dogmatiker sei, und ich glaube, daß er es auf dem Gebiet der praktischen Vernunft noch viel mehr ist, wie auf dem, wo ihn Schultze kritisirt. Nun hat man aber meines Wissens ihn hier nie scharf kritisirt, und es kommen seine Ansichten immer mehr zur Geltung.
Ich spreche als Dichter, und im Besonderen als Dramatiker.
Die Entwicklung ist für uns in der Dichtung gänzlich abgerissen. Ich habe lange Jahre suchen müssen, bis ich überhaupt nur erst das Handwerkszeug bekam und dessen Handhabung lernte, und habe deshalb Nichts von meinen Dramen drucken lassen, was ich vor dem 40. Jahre geschrieben habe, sondern Alles verbrannt. Heute glaube ich auf dem richtigen Weg zu sein. Nun habe ich mir überlegt, woher dieser eigentümliche Zustand kommt und glaube die Ursache in einem Bruch in der Entwicklung Schillers zu finden, als er am Don Karlos arbeitete. Dann kam der Einfluß Kants, und der hat ihn ganz veräußerlicht und theatralisirt. Auf Schiller aber, und nicht auf Goethe stand die Weiterentwicklung unserer Dichtung. Ich kann das nicht in ein paar Worten sagen, vielleicht glückt es mir, daß ich es in einer Reihe von Essays fassen kann, die ich als Buch unter dem Titel „Der Zusammenbruch der klassischen deutschen Dichtung“[2] herausgeben will. Ich wollte Ihnen das nur sagen als Erklärung dafür, daß ich sofort von Ihrer Philosophie auf diese Punkte bei Kant kam. |
Sie können sich nicht vorstellen, wie dankbar ich Ihnen für Ihr Buch bin; es hat mir namentlich viel klar gemacht, das mich quälte, und was ich von Ihnen gelernt habe, das ist dergestalt in meinen Besitz übergegangen, daß es dauernd Theil meiner Persönlichkeit geworden ist.
Herzlichen Dank für das Interesse, das Sie an meinen Dramen nehmen. Sie müssen immer bedenken, daß ein Dramatiker eigentlich erst mit 50 Jahren anfängt und das alles andere Vorbereitung ist; es ist natürlich nicht umsonst, daß man das Drama als die höchste Form der Dichtung auffaßt. So ist das, was ich bis nun geschrieben habe, nur von relativem Wert. Es kommt dazu, daß man ein Drama im Theater mit erleben muß, man braucht ja von der Bühne gar nicht viel zu sehen, man muß nur die erregte Atmosphäre der Zuschauer mit fühlen. Leider werden meine Werke nur selten gegeben, was ja verständlich ist, wenn man die Albernheiten betrachtet, die heute Gültigkeit haben. Aber ganz abgesehen von dem zeitlichen Zustand der Bühne, der ja so ist, wie er denn immer ist, streiten sie auch gegen das Gesetz der deutschen Bühnen überhaupt, das durch ein Compromiß[b] aus den entgegengesetzten Dingen entstanden ist. So werden sie denn wahrscheinlich auch späterhin immer mehr Lesedramen bleiben, wie es heute die antiken Tragödien für uns sind.
Mit dem herzlichsten Dank Ihr hochachtungsvoll ergebener[c]
Paul Ernst
Kommentar zum Textbefund
a↑Gefahren ] mit Bleistift unterstrichen zur Anzeige von Unleserlichkeit (vgl. Vaihinger an Paul Ernst vom 28.11.1923)Kommentar der Herausgeber
2↑„Der Zusammenbruch der klassischen deutschen Dichtung“ ] vgl. Paul Ernst: Der Zusammenbruch des deutschen Idealismus. An die Jugend. München: Georg Müller 1918. Darin S. 239–296: Don Carlos.▲