Bibliographic Metadata
- TitlePaul Natorp an Vaihinger, Marburg, 20.11.1916, 3 S., hs., Briefentwurf, Universitätsbibliothek Marburg, Ms. 831/1209 (3), zuerst abgedruckt in: Helmut Holzhey: Der Marburger Neukantianismus in Quellen. Basel/Stuttgart: Schwabe 1986 (Cohen und Natorp Bd. 2), S. 460–462.
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- Place and Date of Creation
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- Physical LocationUniversitätsbibliothek Marburg, Ms. 831/1209 (3), zuerst abgedruckt in: Helmut Holzhey: Der Marburger Neukantianismus in Quellen. Basel/Stuttgart: Schwabe 1986 (Cohen und Natorp Bd. 2), S. 460–462.
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Paul Natorp an Vaihinger, Marburg, 20.11.1916, 3 S., hs., Briefentwurf, Universitätsbibliothek Marburg, Ms. 831/1209 (3), zuerst abgedruckt in: Helmut Holzhey: Der Marburger Neukantianismus in Quellen. Basel/Stuttgart: Schwabe 1986 (Cohen und Natorp Bd. 2), S. 460–462.
Herrn G[eheimen] R[at] Prof. Dr. H. Vaihinger
Halle/S.
Marburg 20. Nov[ember] 1916[1]
Hochverehrter Herr Kollege!
Lange habe ich gezögert, aber ich würde mir wie ein halber Lügner vorkommen[2], wenn ich es länger schweigend herumtrüge und nicht Ihnen offen ausspräche, wie der Aufsatz von Bauch[3] im letzten Heft der Kantstudien und die dadurch entstandenen Unstimmigkeiten in der sonst so friedlichen Kantgesellschaft schon die ganze Zeit auf mir lasten. Ich traue dem Kollegen Bauch keinerlei Übelwollen zu weder gegen Juden noch gegen sonst jemand auf der Welt. Aber er hätte als Geschäftsführer[4] einer vornehmen philosophischen Gesellschaft und als Herausgeber allerwenigstens bedenken sollen, daß er durch diesen Aufsatz die schwersten Mißverständnisse heraufbeschwor; daß in einer Zeit, wo Juden ebenso wie andre Deutsche draußen ihr Blut für uns vergießen, die Aufrührung der Rassenfrage sicher nicht am Platze war; daß überhaupt diese Frage die erfahrungsmäßig alle bösen Leidenschaften aufwühlt,[a] kein Thema für eine philosophische Zeitschrift ist. Nicht Juden und Judenfreunde allein empfinden das, sondern alle, denen Philosophie eben hoch über der Linie solcher Fragen steht. Ich habe zwar keinen Grund Ihnen zu verbergen, daß mir die Sache auch um meiner näheren Freunde willen leid ist. Die K[ant] St[udien] selbst haben Cohen zu seinem 70. Geburtstag hoch geehrt[5]. Und dieser Mann hat – ganz abgesehen von seinem wissenschaftlichen Bemühen um den | deutschesten Philosophen – seit mehr als einem Menschenalter vielleicht so viel wie kein andrer[b] getan, Verständnis und Anerkennung des im tiefsten Sinne begriffenen deutschen Geistes auch unter seinen Glaubensgenossen zu erhalten und zu stärken. Und[c] Cassirer, ein Mann, der nach Charakter und Persönlichkeit wie nach seinen Leistungen unser aller Achtung verdient, ist soeben in seinem neuen Werk[6] für den deutschen Geist mit ebenso warmer Gesinnung wie feinem und sachlich tiefem Verständnis gegen den Haß, den heute der Deutsche in aller Welt erfährt,[d] eingetreten. Solchen[e] Männern setzt nun dieser Aufsatz, das kann objektiv doch nicht zweifelhaft sein, den Stuhl vor die Türe. Indessen: wert ist mir die Kantgesellschaft, wert Cohen und Cassirer, aber werter die Sache der Philosophie. Um ihretwillen am meisten bedaure ich das Erscheinen dieses Aufsatzes. Denn, ganz abgesehen von den Thesen, streitet er mit Waffen, gegen die man wehrlos ist. Denn wer mag die ausländischen Zeitungsverkäufer zu Zeugen aufrufen, an welchen Eigenschaften sie den Deutschen erkennen, oder den Kronprinzen, ob er in dem angeführten Wort[7] die Rassenechtheit oder einfach die Vaterlandstreue hat betonen wollen? Mit einem Wort, unser Kollege hat sich, weiß Gott unter welchen unseligen Einflüssen, sehr ernstlich verhauen. Er sollte es selber einsehen und irgendwie, es ist freilich nicht leicht zu sagen wie, die Sache wieder gut machen.[f] Schon die Bekundung ernstlichen[g] Willens dazu würde[h] beruhigend wirken. |
Jedenfalls aber lag mir daran, daß Sie, verehrter Herr Kollege, von dem Eindruck, den der Aufsatz bei nicht den schlechtesten Freunden der Kantgesellschaft hervorgerufen hat, unterrichtet seien.
Mit besten Grüßen u. Wünschen für Ihr Wohlergehen[i] Ihr verehrungsvoll ergebener
Paul Natorp.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Marburg 20. Nov[ember] 1916 ] dazu ein weiterer, vermutlich früherer Entwurf, Universitätsbibliothek Marburg, Ms. 831/1209 (4), 2 S., (in erster Niederschrift mitgeteilt, ohne spätere Streichungen und Einfügungen): Marburg 20. November 1916. Hochverehrter Herr Kollege! Ich habe lange gezögert, aber ich würde mir wie ein halber Lügner vorkommen, wenn ich nicht endlich doch Ihnen gradeheraus schriebe, wie der Aufsatz von Bauch im letzten Heft der Kantstudien und die dadurch heraufbeschworenen Unstimmigkeiten in der sonst so friedlichen Kant Gesellschaft schon die ganze Zeit auf mir lasten. Ich traue dem verehrten Kollegen keinerlei Haß zu, weder gegen Juden noch gegen irgend Einen. Aber er hätte, als Geschäftsführer einer vornehmen philosophischen Gesellschaft und als Herausgeber bedenken dürfen, daß dieser Aufsatz schwere Mißverständnisse fast unvermeidlich heraufbeschwor; daß überhaupt – zumal in dieser Zeit, wo Juden so gut wie andre Deutsche draußen ihr Blut für uns lassen, die Aufrührung der Rassenfrage zumal in einer philosophischen Zeitschrift nicht am Platze war; überhaupt aber in einer philosophischen [so wörtlich im Entwurfsstadium] Zeitschrift ein für allemal nicht hineingehört. Nicht die Juden u. Judenfreunde allein, die das schmerzlich empfinden, es sind alle denen Philosophie eben hoch über der Linie solcher Fragen steht. Ich meinesteils habe sehr übrigens [so wörtlich im Entwurfsstadium] keinen Grund Ihnen zu verbergen, daß ich die Sache auch um meiner näheren Freunde willen bedaure. Die Kantstudien haben Cohen zu seinem 70. Geburtstag hoch geehrt. Und dieser Mann hat seit mehr als einem Menschenalter gearbeitet und gekämpft, das | Verständnis und Anerkennung des tiefst begriffenen deutschen Geistes unter seinen Glaubensgenossen zu stärken. Auch Cassirer, ein Mann der nach Charakter und Persönlichkeit ebenso wie nach seinen Leistungen unser aller Achtung verdient, ist soeben in seinem neuen Buch für den deutschen Geist mit ebenso warmer Gesinnung wie feinem u. sachlich tiefen Verständnis gegen den Haß den der Deutsche jetzt von der ganzen Welt erfahren muß, eingetreten. Solchen Männern setzt dieser Aufsatz, das kann denn doch nicht zweifelhaft sein, den Stuhl vor die Tür. Indessen wert ist mir die Kantgesellschaft, wert Cohen und Cassirer, aber werter die Sache. Um ihretwillen am meisten bedaure ich das Erscheinen dieses Aufsatzes. Denn, auch ganz abgesehen von den Thesen, arbeitet er mit Waffen die nicht der Höhe der Philosophie, nicht den Kantstudien [bricht ab] gegen die man wehrlos ist, denn soll man etwa den ausländischen Zeitungsverkäufer als Zeugen aufrufen, ob welcher Eigenschaften sie den Deutschen erkennen, oder den Kronprinzen, ob er in dem zitierten Wort die Rasseechtheit oder einfach die Vaterlandstreue hat betonen wollen? Mit einem Wort, unser Kollege hat sich, weiß Gott unter welchen unseligen Einflüssen, sehr ernstlich verhauen. Er sollte es selber einsehen und irgend wie, es ist freilich nicht ganz leicht zu sagen wie wieder gut zu machen suchen. Jedenfalls aber lag mir daran, verehrter Herr Kollege, daß Sie von dem Eindruck den der Aufsatz bei vielen, nicht wenigen der besten Freunde der K[ant] Ges[ellschaft] hervorgerufen hat, unterrichtet seien.2↑halber Lügner vorkommen ] vgl. den Briefwechsel von Cohen und Natorp von Oktober/November 1916 in Holzhey: Cohen und Natorp Bd. 2, S. 449–460.6↑neuen Werk ] vgl. Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte. Berlin: Bruno Cassirer 1916.7↑in dem angeführten Wort ] bei Bruno Bauch: Vom Begriff der Nation. (Ein Kapitel zur Geschichtsphilosophie.) Vortrag, gehalten in der Staatswissenschaftlichen Gesellschaft zu Jena. In: Kant-Studien 21 ([1916]/1917), S. 159 heißt es: Vor allem betont die jüngere Generation mit Energie die völkische Eigenart. Charakteristisch dafür sind die Worte, die unser Kronprinz vor sechs Jahren in Königsberg gesprochen hat: „Wir, die deutsche Jugend, sehnen uns nach Betonung unseres deutschnationalen Volkstums im Gegensatze zu den internationalen Bestrebungen, welche unsere völkische Eigenart zu verwischen drohen.“ Diese Betonung des Völkischen und Nationalen ist aber, darüber sind wir wohl heute hinlänglich durch die allerjüngste Geschichte belehrt, keineswegs allein innerhalb der deutschen Nation lebendig. Sie entfaltet allenthalben unter den verschiedenen Völkern und in den verschiedenen Ländern ihre Kraft. Ja, ist schliesslich nicht auch eine Bewegung, wie die zionistische, unter diesem Gesichtspunkte zu verstehen?▲