Bibliographic Metadata
- TitleAnton von Leclair an Vaihinger, Wien, 22.5.1916, 5 S., hs. (andere Hd., mit eU und eigenhändigen Bleistiftergänzungen), Briefkopf (Stempel) Dr. Ant. v. Leclair, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 6 m, Nr. 16
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 6 m, Nr. 16
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Anton von Leclair an Vaihinger, Wien, 22.5.1916, 5 S., hs. (andere Hd., mit eU und eigenhändigen Bleistiftergänzungen), Briefkopf (Stempel) Dr. Ant. v. Leclair, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 6 m, Nr. 16
IX/1 Wasagasse[a] 27.
den 22. Mai 1916.[b]
Hochverehrter Herr Geheimrat!
Abermals haben sich unsere Briefe auf dem Wege gekreuzt – ein bedauerlicher Zufall, der den ohnehin erschwerten Briefverkehr[1] noch mehr komplizirt. Haben Sie Dank für Ihren inhaltreichen[c] Brief vom 18. d[es] M[onats][2]; er weckte in mir tiefes u.[d] reuevolles Bedauern, dass ich vor vielen Jahren, schwer gedrückt von der Last einer wenig willkommenen Schulverwaltung, den Gedankenverkehr mit Ihnen sowie mit Schuppe, Rehmke u. anderen geradezu gewaltsam abgebrochen habe. Ich hätte nie sollen Direktor werden[3], am wenigsten in einem so erbärmlichen Milieu. – Gestern schon kam Ihr Kreuzband mit der Abfertigung des famosen Herrn Otczipka[4][5], in dessen Adern wohl nicht das edelste slavische Blut fließt. Weit mehr | als die Abfuhr dieses traurigen Ritters interessierten mich die Einzelheiten über Ihre persönlichen Schicksale, manches darin übte auf mich einen tiefen Eindruck u. ich sehe in dem, was Sie erlebt haben, einen neuen Beleg, wie schwer u. mühevoll gerade die Berufensten[e] u. besonders hoch begabten Persönlichkeiten mit den Widerständen des materiellen Lebens zu kämpfen haben. – Zu den vielen Unterlassungen, auf die ich[f] jetzt voll Reue, aber zu spät zurückblicke, gehört es auch, dass ich in Mies[g] Ihrer Einladung zum Beitritt in die Kantgesellschaft[h] nicht Folge geleistet habe. Ich spreche ganz offen: zeitlebens waren meine Mittel immer sehr knapp u. so schreckte mich die Höhe des jährlichen Beitrages. Durch viele Jahre brachte ich die Sommermonate in Graz[i] zu u. da wühlte ich förmlich in den Schätzen der sehr gut dotierten Universitätsbibliothek. So lernte ich auch Ihr großes Buch über Als-Ob[6] kennen, aber leider konnte ich nur einen sehr kleinen Teil des überreichen Inhalts durchnehmen; trotzdem wurde ich | der Hauptsache habhaft u. so nahm ich auch in meinem (aus Jena[j] zurückgekommenen)[k] Manuscript[l][7] an zwei Stellen Gelegenheit, auf Ihr Buch hinzuweisen[m]. Dazu hielt ich mich verpflichtet, da ich in Ihrem Namenregister meinen Namen nicht[n] fand[o]. Ich freute mich, nach so langer Zeit zu erfahren, dass ungefähr um dieselbe Zeit, wo Sie den Grundgedanken des Als-Ob auf breitester Basis ausführten, auch mir dieselbe Einsicht zuteil[p] ward gegenüber dem Hauptproblem meines 1879 erschienenen Realismus[q][8]. Gerade die hier gemeinten Stellen des Realismus[r] wurden von meinen Lesern vielfach gänzlich misverstanden[s], als wollte ich mit diesem „allumfassenden Normalbewusstsein“[t] irgend ein metaphysisches Gespenst einführen. Ich bin Ihnen für Ihre Anregung, dass ich auf meine Stellung zur Theorie des Als-Ob in den „Neuen Beiträgen“[u][9] etwa anhangweise näher eingehen soll, sehr dankbar. Der Umfang der Arbeit ist ohnehin schon ziemlich groß, so dass ich mir dachte, sie würde den größten Teil eines „Ergänzungsheftes“ der Kantstudien[v] füllen. Nun aber sehe ich, dass sie in jeder anderen Zeitschrift geteilt werden müsste, falls ich es nicht vorziehe, eine selbständige Brochüre zu[w] veröffentlichen. | Für den bezeichneten Zweck müsste ich allerdings Ihr Buch[x] noch einem genaueren Studium unterziehen u. so wäre ich Ihnen überaus dankbar, wenn Sie, wie Sie selbst andeuten[y], den Verleger veranlassen wollten, mir ein gebundenes Freiexemplar[z] zu schicken.[aa]
Mit großem Interesse erfüllte mich Ihre Mitteilung von dem Buche der Frau Ettinger-Reichmann[10] u. sofort schrieb ich an Prof. Bauch, ob er mir die Besprechung desselben in den Kantstudien überlässt.[11] Ich war sowohl mit Schuppe als mit Mach befreundet. Von ersterem Besitze ich ein starkes Bündel Briefe, der letztere hat mir 1880 als Rektor der Universität in Prag dringend geraten, mich zu habilitieren. Nach Einbringung meines Gesuches fand ich aber bei meiner persönlichen Vorstellung in der Wohnung bei den Ordinarien Carl[ab] Stumpf u. Otto Willmann[12] (!!) eine solche Aufnahme, dass ich es – zum größten Ärger von Mach[ac] – vorzog, das Gesuch sofort zurückzuziehen. Ich muss schon sagen: mir ekelte bei dem Gedanken, vor solchen Charakteren vielleicht | durch Jahre zu scharwenzeln u. Katzenbuckel zu machen.[13] Nun bin ich der einzige Überlebende von den 3[ad] in ihrem Briefe Genannten u. so bin ich wohl legitimiert gegenüber dem neuen Buche Stellung zu nehmen. Vielleicht misslingt auch dieser Schritt bei H[errn] Prof. Bauch. – Auch ich schließe mit der Wendung, dass ich noch vieles zu sagen hätte, insbesondere über die durch die Zeitlage angeregten Gedanken, welche im Juli 1915 mir den Anstoß gaben, meine Überzeugungen bezüglich des Transzendenzproblems vor Torschluss noch einmal auseinanderzusetzen. Nur noch eines will ich beifügen: vorläufig bin ich noch unschlüssig, ob ich (nota bene[ae] nach Ende des Krieges[af]) meine Abhandlung der Zeitschrift des Prof. Barth oder der des Greifswalder Prof. Hermann[ag] Schwarz anbieten[14] soll.[ah]
In aufrichtiger Hochschätzung u. Verehrung reicht Ihnen im Geiste die Hand Ihr treu ergebener
Leclair[ai]
Kommentar zum Textbefund
b↑IX/1 Wasagasse 27.den 22. Mai 1916. ] überschrieben mit Blaustiftnotiz von Vaihingers Hd.: Nachtrag zur Phil. des Als Ob | 24.d↑u. ] Abkürzungen von und hier und im Folgenden in der Vorlage durch Unterstreichung statt Punkt verdeutlichtp↑auch mir dieselbe Einsicht zuteil ] mit Bleistift unterstrichen, am Rd. mit Bleistift angestrichent↑„allumfassenden Normalbewusstsein“ ] Anführungszeichen mit Bleistift in der Zeile eingefügt; mit Bleistift unterstrichen, am Rd. mit Bleistift angestrichenv↑der Kantstudien ] Einfügung mit Bleistift am unteren Rd. der Seite durch von Leclairs Hd. (der Brief ist mit schwarzer Tinte geschrieben), Einfügungszeichen mit Rotstiftac↑Otto Willmann … Mach ] am unteren Rd. der Seite Bleistiftnotiz durch von Leclairs Hd., mit Verweiszeichen mit Rotstift zu den beiden Namen Otto Willmann und Mach): ein niedlicher Gegensatzah↑Abhandlung der Zeitschrift des Prof. Barth oder der des Greifswalder Prof. Hermann Schwarz anbieten soll. ] am Rd. mit Bleistift angestrichenKommentar der Herausgeber
1↑ohnehin erschwerten Briefverkehr ] Anspielung auf die militärische und zivile Postzensur seit Juli/August 1914.3↑Ich hätte nie sollen Direktor werden ] von Leclair wurde am 13.1.1883 zum Direktor des Gymnasiums in Mies (Stříbro, Tschechien) ernannt, vgl. von Leclair an Vaihinger vom 24.1.1883 sowie http://aleph.nkp.cz/publ/sck/00000/21/000002163.htm (7.2.2024); vgl. von Leclair an Vaihinger vom 2.4.1916.4↑Otczipka ] Hugo Otczipka (1867–1946), Philosoph und Literat, veröffentlichte unter dem Pseudonym Hugo Bund (WBIS).5↑Abfertigung des famosen Herrn Otczipka ] vgl. Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob und das Kantische System gegenüber einem Erneuerer des Atheismusstreites. In: Kant-Studien 21 ([1916]/1917), S. 1–25.6↑Ihr großes Buch über Als-Ob ] vgl. Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche. Herausgegeben von H. V. Berlin: Reuther & Reichard 1911 (2. Aufl. 1913) sowie von Leclair an Vaihinger vom 2.4.1916.7↑meinem (aus Jena zurückgekommenen) Manuscript ] der Jenaer Prof. Bruno Bauch hatte ein (letztlich womöglich unveröffentlicht gebliebenes) Manuskript von Leclairs abgelehnt, das dieser in der Zeitschrift Kant-Studien bzw. in den Kantstudien-Ergänzungsheften veröffentlichen wollte, vgl. von Leclair an Vaihinger vom 17.5.1916.8↑meines 1879 erschienenen Realismus ] vgl. von Leclair: Der Realismus der modernen Naturwissenschaft im Lichte der von Berkeley und Kant angebahnten Erkenntniskritik. Kritische Streifzüge. Prag: F. Tempsky 1879. Digitalisat: http://data.onb.ac.at/rep/117E1810 (13.5.2024).9↑„Neuen Beiträgen“ ] meint das bereits erwähnte, womöglich unveröffentlichte und zunächst für die Zeitschrift Kant-Studien bzw. die Kantstudien-Ergänzungshefte vorgesehene Manuskript von Leclairs, vgl. von Leclair an Vaihinger vom 2.4.1916.10↑Ettinger-Reichmann ] Regina Ettinger-Reichmann (1879–1931), Philosophin, Näheres nicht ermittelt, vgl. https://viaf.org/viaf/281101476/ (8.2.2024).11↑Mit großem … Kantstudien überlässt. ] weder in der Zeitschrift Kant-Studien noch in der 1919 von Vaihinger mitbegründeten Zeitschrift Annalen der Philosophie ist im fraglichen Zeitraum eine Besprechung, Rezension o. Ä. einer Schrift von Ettinger-Reichmann erschienen.12↑Otto Willmann ] Otto Willmann (1839–1920), Philosoph und Pädagoge, ab 1872 o. Prof. in Prag (BEdPh).14↑meine Abhandlung … anbieten ] Paul Barth gab 1899–1916 die Zeitschrift Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie (seit 1901 u. d. T. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie) heraus (NDB), deren Erscheinen 1916 eingestellt wurde. Im letzten Jg. findet sich keine Veröffentlichung von Leclairs. Hermann Schwarz gab 1906–1917 die Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik heraus, deren Erscheinen 1918 eingestellt wurde, im fraglichen Zeitraum wurde keine Veröffentlichung von Leclairs ermittelt.▲