Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Hans Delbrück, Halle, 18.3.1915, 2 S., Ts. mit eU, Briefkopf (Stempel) Univ.-Prof. Dr. Vaihinger | Halle a. S. | Reichardtstrasse 15., Staatsbibliothek zu Berlin, NL Delbrück Nr. 4
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- Physical LocationStaatsbibliothek zu Berlin, NL Delbrück Nr. 4
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Vaihinger an Hans Delbrück, Halle, 18.3.1915, 2 S., Ts. mit eU, Briefkopf (Stempel) Univ.-Prof. Dr. Vaihinger | Halle a. S. | Reichardtstrasse 15., Staatsbibliothek zu Berlin, NL Delbrück Nr. 4
18.3.15.
Hochgeehrter Herr Kollege!
Haben Sie verbindlichsten Dank für die liebenswürdige Übersendung Ihrer beiden neuen Broschüren.
Die Abhandlung „Die Motive und Ziele der russischen Politik“[1] war mir umso wertvoller, als ich die Ausführungen des Professor Mitrofanoffs seinerzeit in den „Preussischen Jahrbüchern“ schon mit grosser Aufmerksamkeit gelesen hatte. Ich habe sie mir sogar damals zweimal vorlesen lassen und freue mich nun, sie dauernd zu besitzen.
Damals war mir in diesem Briefe von Mitrofanoff die Stelle noch ganz unklar: dass der Weg nach Konstantinopel über Berlin gehe. Ich glaube, dass damals noch niemand wusste, dass England sich schon damals mit Russland dahin verständigt hatte, dass es Konstantinopel nehmen könnte, denn früher ging doch der Weg nach Konstantinopel über London. Mitrofanoff muss also damals schon gewusst haben, dass England mit Russland das Abkommen getroffen hatte, das ihm den Weg nach Konstantinopel freigab. In Deutschland hat das wohl damals niemand gewusst, wohl auch nicht unsere Diplomatie.
Dass England Konstantinopel den Russen preisgegeben hat, ist die verhängnisvollste Tatsache in diesem ganzen Kriege, denn von nun an wird der Russe stets im Deutschen den Erzfeind sehen, der ihm den Weg nach Konstantinopel versperrt, das ja nicht blos das politische sondern auch das religiöse Sehnsuchtsziel der Russen seit Jahrhunderten bildet. Auf diese Weise wird für die folgenden Jahre und vielleicht Jahrhunderte das Slaventum immer mehr auf Deutschland einen immer stärkeren Druck ausüben wollen, sodass dieser Druck von Osten her für Deutschland für immer eine furchtbare Gefahr bilden wird.
Es scheint mir, dass in weiteren Kreisen die Einsicht in diese absolut veränderte Lage der grossen Politik noch fehlt. Bisher bildete England den Hauptwall gegen Russlands Ansprüche auf Konstantinopel und das war für uns eine sehr wertvolle Deckung, jetzt ist diese Deckung weggefallen. Diese veränderte Sachlage ist für den Augenblick nicht so verhängnisvoll, als für die Zukunft. Die zukünftige Politik Deutschlands im Verhältnis zu Russland wird durch diese Veränderung vielleicht sehr schlimm betroffen und ich glaube, dass wir es in Deutschland sehr beklagen müssen, dass diese veränderte Konstellation eingetreten ist durch die Torheit Englands, das von seiner traditionellen Politik in so unseliger Weise abgewichen ist. Vielleicht nehmen Sie einmal Gelegenheit, sich über | diesen Gegenstand in den Preussischen Jahrbüchern zu äussern.[a]
Sehr verbunden bin ich Ihnen auch für die gütige Übersendung des Separatdruckes Ihres Aufsatzes über die Sprachreinigung usw. Es freut mich sehr, dass Sie den Mut haben, jetzt in dieser aufgeregten Zeit so energisch gegen die Fremdwörterhetze einzutreten, deren Schädlichkeit Sie ja in der Vorrede so trefflich gekennzeichnet haben. Ich betrachte es als eine grosse Ehre, dass ich in dieser Ihrer Abhandlung als Zeuge auftreten darf[2].
Wie schädlich die Fremdwörterhetze ist, dafür zum Beweis sende ich Ihnen einige Beilagen, die Sie Ihrer Sammlung resp. Ihrem Material einreihen mögen. Zunächst sende ich Ihnen zwei Exemplare eines Aufrufes des Hallischen Sprachvereins, verfasst von dem hiesigen Germanisten Professor Bremer[3].[b] Dieser Aufruf war Monate lang in sehr vielen Schaufenstern hier zu sehen und stiftete viele Verwirrung. So hat zum Beispiel die hier wohnende bekannte Romanschriftstellerin Liesbet[c] Dill in einem Artikel über das Leben und Treiben am hiesigen Bahnhof diese Bewegung unterstützt.
Darauf antwortete ich in einem offenen Brief[4] an die genannte Dame, den ich Ihnen beilege. Professor Bremer, den ich gar nicht erwähnt hatte, liess daraufhin eine Entgegnung erscheinen, welche in der bekannten Kampfesweise des Sprachvereins den Streitpunkt verschiebt und die Hauptfragen ignoriert. Ich selbst antwortete wieder darauf in einer Entgegnung[5], welche ich sehr kurz halten musste, sonst hätte ich noch vieles sagen können. Diese drei Artikel sind interessante Dokumente der Zeit, die Sie ebenfalls Ihrer Sammlung einreihen mögen.
In der Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins ist diese Kontroverse mehrfach erwähnt worden. Eine Folge davon waren anonyme Schmähbriefe gegen mich, sowie auch eine Aufforderung der Vossischen Zeitung, mich über das Thema ausführlicher zu äussern. Das musste ich wegen meines Augenleidens leider ablehnen.
Eine weitere Folge war auch die Übersendung einiger Artikel über diesen Gegenstand von dem Direktor der Landes- und Stadtbibliothek Düsseldorf Dr. Nörrenberg[6], welcher ganz auf unserem Standpunkt steht und welcher in dem „Börsenblatt für den deutschen Buchhandel“ einige Artikel geschrieben hat gegen die Fremdwörterhetze in der Sprache des deutschen Buchhandels. Mit Dr. Nörrenberg habe ich dann korrespondiert[7], er ist auch der Meinung, dass jetzt eine von einem Germanisten („Roethe oder Burdach“) redigierte Erklärung mit recht viel Unterschriften bedeutender Männer wieder am Platze wäre. Als Freund unserer Richtung erwähnte er auch den Germanisten und Dialektforscher Wrede in Marburg[8].
In Bezug auf einen eventuell zu gründenden[d] Verein schlägt er für einen solchen den vortrefflichen Namen vor: Jacob-Grimm-Gesellschaft[9] und erinnert auch an Goethe als Gegner der Fremdwörterhetze.
Mit wiederholtem Dank und besten Grüßen Ihr ganz ergebener
Vaihinger
Kommentar zum Textbefund
a↑äussern. ] danach Fußnotenzeichen- und text: Denn das ist auch sehr wichtig für den jetzigen Krieg: wir müssen, auch wenn dieses Mal Konstantinopel sich hält, den Krieg womöglich so beendigen, dass Russland dauernd die Möglichkeit und die Lust verliert, nach Konstantinopel zu streben.b↑Bremer. ] danach Fußnotenzeichen und -text: a. o. Professor. Der ord. Professor [Philipp] Strauch ist auf unserer Seite.Kommentar der Herausgeber
1↑„Die Motive und Ziele der russischen Politik“ ] vgl. Delbrück: Die Motive und Ziele der russischen Politik. Nach zwei Russen (Prof. v. Mitrofanoff und Fürst Kotschubey). Neu hg. und mit Anmerkungen versehen. 2 Auflagen Berlin: Stilke 1915 (Sonderausgabe aus Preußische Jahrbücher, Juni–September).3↑Professor Bremer ] Otto Bremer (1862–1936), vgl. https://www.catalogus-professorum-halensis.de/bremerotto.html (4.1.2023).4↑in einem offenen Brief ] vgl. Vaihinger: Offener Brief an Frau Liesbeth Dill. Halle, den 27. August 1914. In: Saale-Zeitung, Abend-Ausgabe, 1. Beiblatt zu Nr. 402 vom 28.8.1914. Im Wortlaut der Begründungen, Fremd- und Lehnwörter beizubehalten, ähnlich wie: Erklärung [gegen die Schutz- und Trutzvereine zur Reinigung unserer Muttersprache bzw. den Allgemeinen Deutschen Sprachverein]. In: Preußische Jahrbücher 63, Januar–Juni 1889, Heft 3 von März, S. 312–313.5↑Entgegnung ] vgl. Vaihinger: Erwiderung auf den offenen Brief des Herrn Professors Dr. Bremer. In: Saale-Zeitung, Morgen-Ausgabe, Nr. 407 vom 1.9.1914. – Für zugehörige Nachweise vgl. die annotierte Bibliographie Hans Vaihinger.6↑Dr. Nörrenberg ] Constantin Nörrenberg (1862–1937), 1904–1928 Leiter der Landes- und Stadtbibliothek Düsseldorf (NDB).8↑Wrede in Marburg ] Ferdinand Wrede (1863–1934), vgl. https://www.lagis-hessen.de/pnd/118807943 (4.1.2023).9↑Jacob-Grimm-Gesellschaft ] eine solche wurde nicht gegründet; nicht identisch mit der Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. in Kassel.▲