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- TitleElisabeth Förster-Nietzsche an Vaihinger, Weimar, 11.1.1913, 4 S., hs. (andere Hd., mit eU), quadriertes Papier, Briefkopf NIETZSCHE-ARCHIV. | WEIMAR, DEN …, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 8 n, Nr. 3
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 8 n, Nr. 3
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Elisabeth Förster-Nietzsche an Vaihinger, Weimar, 11.1.1913, 4 S., hs. (andere Hd., mit eU), quadriertes Papier, Briefkopf NIETZSCHE-ARCHIV. | WEIMAR, DEN …, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 8 n, Nr. 3
diktiert.
11. Januar 1913.
Verehrter Herr Geheimrat,
Auf das Herzlichste danke ich Ihnen für Ihren gütigen Brief[1] und daß Sie immer an allen Vorgängen des Archivs so warmen Anteil nehmen. Deshalb erlaube ich mir auch, die von Ihnen berührten Vorgänge genauer darzustellen, da offenbar mein Neffe Dr. Richard Oehler[a] sie nicht richtig verstanden hat, da ich mich meiner Influenza wegen wahrscheinlich ziemlich ungenau ausgedrückt hatte.
Von Kämpfen ist nämlich bei den Vorgängen gar nicht die Rede gewesen, wenigstens was mich betrifft. Ich war nur indirekt gewissermaßen als erfahrener Sachverständiger im Hintergrund beteiligt.
Zuerst also der Fall Dr. Otto Weiß[2]: Dr. O. W. war vom Vorsitzenden der Stiftung Nietzsche-Archiv, Oberbürgermeister Dr. Oehler[b][3], vom 1. November 1909 bis 1. November 1912 auf drei Jahre angestellt. Niemals war beabsichtigt, daß seine Anstellung länger als drei Jahre dauern sollte, ausgenommen in dem Fall, daß die Gesamt-Ausgabe bis zum Oktober 1912 nicht fertig würde. Solange an der Gesamtausgabe von auswärtigen Mitarbeitern gearbeitet wurde, mußte ein gelehrter Archivar im Nietzsche-Archiv sitzen, der im Griechischen und Lateinischen Stellen aufsuchen konnte und was sonst zu den drei letzten Bänden Philologica notwendig war. Ich hatte aber stets erklärt, daß, wenn nun die Ausgabe fertig wäre, ich die dann unnötige Archivarstelle vorderhand unbesetzt lassen würde, schon um der Kosten willen. Ich darf Ihnen im Vertrauen sagen, verehrter Herr Geheimrat, daß ich in den beinahe 20 Jahren, seitdem[c] ich das Nietzsche-Archiv begründet habe, mein ganzes Vermögen | bis zur letzten Reserve und alle Honorare verbrauchen mußte, um meinen großen Plan durchzuführen. Ich habe kein Jahr dieser 19 Jahre unter 10,000 M, oder manches Jahr bis zu 20,000 M für Anschaffungen und Gehalte für das Archiv ausgegeben, allein für Briefe gegen 30,000 M. Ich habe dies getan, wie man zu sagen pflegt, ohne mit der Wimper zu zucken, aber nachdem das Werk getan ist, muß ich mit der äußersten Sparsamkeit vorgehen, zunächst, um einen bedeutenden Vorschuß an die Firma Kröner zurückzuzahlen, sonst aber um überhaupt durchzukommen.
Die jetzt unnötige Archivar-Anstellung ging also genau dem Vertrag gemäß und weil es das Glück wirklich wollte, daß im Oktober der letzte Band der Gesamtausgabe fertig wurde, am 1. November zu Ende. Nun giebt es natürlich immer noch zu tun, doch das braucht im Archiv nicht selbst gemacht zu werden sondern von auswärtigen Gelehrten. Allen andern auswärtigen Mitarbeitern ziehe ich Dr. Richard Oehler[d] vor, der wirklich in die Philosophie meines Bruders und in die Bestrebungen des Archivs so wundervoll eingeweiht ist, daß ich zu ihm das beste Vertrauen habe. Auch kommen dazu die langen Jahre der Erfahrungen, die ihn nun schon mit dem Nietzsche-Archiv verbinden.
Was nun Dr. Otto Weiß betrifft, so hat er ja zeitweise ganz gut gearbeitet, aber ein Nietzsche-Kenner ist er nicht. Wir hatten jedoch nie die geringsten Differenzen, zumal ich ihn nicht angestellt, sondern nur das weniger erfreuliche Auszahlen des Gehaltes zu besorgen hatte. Ich ließ ihn also ruhig arbeiten, merkte aber sehr wohl, daß er mit dem Fleiß allmählich sehr nachließ und überhaupt nicht zu den Menschen gehörte, die ohne Kontrolle etwas Ordentliches leisten. Eine Kontrolle gab es nun aber nicht im Nietzsche-Archiv, da mein Vetter, Oberbürgermeister Dr. Oehler[e], der ihn angestellt hatte, nur höchst selten einmal kommen und beim allerbesten Willen keine Kontrolle ausüben konnte. Ich selbst enthielt mich jeden Urteils, weshalb nun Dr. Weiß offenbar in dem Glauben gelebt hat, daß ich sein in dem letzten Jahr durchaus mangelhaftes Arbeiten gar nicht bemerkt hätte und daß es mein Wunsch sei, daß nach Ablauf des Kontraktes dieser erneuert oder verlängert würde. Zu meinem Amüsement habe ich nachträglich gehört, daß er zu jemand gesagt hat, er bliebe am liebsten bis zum Ende seines Lebens im Nietzsche-Archiv[f]. Bis zum letzten | Sommer ging die Sache ganz gut, jedenfalls friedlich und ohne Anstoß, aber Dr. Weiß ließ sich mit der hiesigen Steuerbehörde auf einen höchst fatalen Kampf ein. Um keine Steuern zu zahlen, hatte er vollständig falsche Angaben gemacht und er wäre beinah wegen Steuerhinterziehung ernstlich bestraft worden. Bei dieser Gelegenheit wurde mir ein Schriftstück von Dr. Weiß vorgelegt, das auch nicht ein einziges wahres Wort enthielt und meinen Vetter und mich recht peinlich berührte. Trotzdem wäre seine Anstellung ruhig zu Ende gegangen, wenn er sich nicht hinter meinem Rücken an Oberbürgermeister Dr. Oehler gewandt und ihm geschrieben hätte, dass er sein Anbieten annehme und noch längere Zeit im Nietzsche-Archiv arbeiten wolle. Ein solches Anerbieten war ihm aber niemals gemacht worden, es war nur ein einziges Mal die Möglichkeit erwähnt worden, daß die Gesamt-Ausgabe nicht bis zum Oktober abgeschlossen würde und dass dann die Anstellung noch einige Monate verlängert werden könnte. Mein Vetter bat mich nun, daß ich Dr. Weiß die Sache auseinandersetzen sollte, wobei dieser in größte Erregung geriet und behauptete, Dr. Richard Oehler habe ihm seine Arbeit weggenommen und gegen ihn intriguiert. Offenbar war er eifersüchtig, daß der Vertrag mit dem noch von mir angestellten Dr. Richard Oehler zwar auch[g] zu Ende gegangen war, daß ich ihn aber erneuert hätte, weil mir Richard fast unentbehrlich ist. Außer dieser Albernheit von Dr. Otto Weiß sich als ein Opfer von Dr. Richard Oehlers Intriguen hinzustellen, während doch einfach sein Vertrag abgelaufen war und keine Gründe vorlagen ihn zu erneuern, entspann sich nun im letzten Monat der Einstellung von Dr. O. Weiß eine etwas unangenehme Situation, die aber nur schriftlich erledigt worden ist. Ich muß hinzufügen, daß es noch einen anderen Grund gab, weshalb wir froh waren, Dr. O. Weiß los zu sein. Sein Privatleben entsprach nicht den Rücksichten, die er auf das Archiv zu nehmen hatte. Wir hörten nämlich schließlich, was mir jahrelang verborgen geblieben war, daß Dr. O. Weiß mit einer Dame zusammenlebte, die sich keines guten Leumunds erfreute; über sie wußte Oberbürgermeister Dr. Oehler Näheres. Übrigens höre ich, daß sich Dr. O. Weiß über seinen törichten Abschluß im Nietzsche-Archiv sehr ärgern soll. Ich bin auch überzeugt, daß jene fragwürdige Dame für manche Handlungsweise des Dr. O. Weiß, die in der Tat nicht korrekt war, verantwortlich zu machen ist.
Nun komme ich zu der Angelegenheit der Veröffentlichung des Briefwechsels[4] Nietzsche-|Overbeck. Sie wissen, daß im vergangenen Jahr der sechsjährige Prozeß mit einem Vergleich zu Ende gegangen ist, genau mit denselben Punkten, die ich vor dem Prozeß bereits im Januar 1905 vorgeschlagen habe. Nun können Sie sich denken, daß für unsern Herausgeber Herrn Prof. Nestle[5] die Sache nicht leicht ist, denn auf der andern Seite ist Herr Bernoulli Herausgeber und zugleich Partei, und leider hat Bernoulli Herrn Prof. Cornelius[6], der der Unparteiische sein sollte, mit in sein Fahrwasser hineingezogen, sodaß der ganze Vergleich durch die Handlungsweise der genannten Herren in’s Wanken kam. Von alledem wußte ich nichts, bis sich plötzlich die Konfusion enthüllte. Oberbürgermeister Dr. Oehler und ich fuhren deshalb nach Stuttgart, um mit Prof. Nestle alles ausführlich zu beraten und mein Vetter mit seiner gewohnten prachtvoll klaren Art schlichtete auch gleich die Verwirrung, setzte den Gegnern ihre Fehler klar auseinander und überließ es nun mir und Prof. Nestle alles Einzelne in Hinsicht auf die Veröffentlichung festzustellen, um alles zu vermeiden, was Anstoß geben könnte. Prof. Nestle sagte ganz richtig, daß die Herren, Cornelius und Bernoulli, ihn in keiner Richtung zwingen könnten, Briefstellen zu bringen, deren Veröffentlichung außerordentlich taktlos sein würde. Wir stimmen bis in’s Einzelne mit Prof. Nestle überein und werden ihn jedenfalls in seinem Kampf mit den beiden anderen Herren, vorzüglich Bernoulli, beistehen. Die Gegner möchten natürlich, daß die Veröffentlichung meinem Bruder so viel wie möglich, gerade durch diese persönlichen Bemerkungen, schaden soll. Dagegen sträubt sich Nestle, der einen feinen, guten und vornehmen Charakter hat. Ich selbst habe ausdrücklich erklärt, daß alle unangenehmen Bemerkungen, die mein Bruder durch Overbeck, vorzüglich Frau Overbeck aufgehetzt, gegen mich gemacht hat, wörtlich in dem Briefwechsel aufgenommen werden müssen, daß uns aber kein Mensch zwingen kann, meine Mutter oder meinen Mann[7] durch derartige Bemerkungen bloszustellen. Das ist genau Prof. Nestles Meinung.
Sie sehen, verehrter Herr Geheimrat, daß, wenn hier Kämpfe vorliegen, ich gewissermaßen nichts mehr damit zu tun habe, oder nur sozusagen im Hintergrund. Ich muß auch ausdrücklich hervorheben, daß Dr. Weiß kein Wort gegen mich gesagt hat, und daß selbst die Gegner, die mit Herrn Prof. Nestle kämpfen, mir ihre Anerkennung nicht versagen. Die Zeiten der Kämpfe sind jetzt wirklich vorüber, oder was es jetzt noch davon giebt, ist nur noch das Wetterleuchten nach großen Gewittern. Das Werk, das ich fertig gebracht habe trotz aller Schwierigkeiten, hat schließlich doch die schlimmsten Gegner überzeugt, oder sie wenigstens so ziemlich mundtot gemacht.
Ich füge noch hinzu: ganz ohne Kämpfe wird es auch in Zukunft nicht abgehen, aber sie gehen mir nicht an’s Herz wie früher, wo ich mich immer ängstigte, daß ich meine große Lebensaufgabe: die Gesamtausgabe der Werke meines Bruders nicht zu Ende führen könnte.
Mit aufrichtiger Dankbarkeit u. Verehrung Ihre
Elisabeth Förster-Nietzsche[h]
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑Fall Dr. Otto Weiß ] zu den Hintergründen vgl. David Marc Hoffmann: Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs. Elisabeth Förster-Nietzsche, Fritz Koegel, Rudolf Steiner, Gustav Naumann, Josef Hofmiller. Chronik, Studien und Dokumente. Berlin/New York: de Gruyter 1991 (Supplementa Nietzscheana Bd. 2), S. 86.3↑Oberbürgermeister Dr. Oehler ] d. i. Adalbert Oehler (1860–1943), 1900 Erster Bürgermeister in Halberstadt, 1905–1911 in Krefeld (Oberbürgermeister), 1911–1919 in Düsseldorf, während der Novemberevolution 1918 abgesetzt. 1919–1924 Dozent an der Hochschule für Staats- und Verwaltungswissenschaften in Detmold (1922 Verleihung des Titels Professor), weitere Lehraufträge an der Leibniz-Akademie in Hannover und an der Verwaltungsakademie Düsseldorf. 1909–1923 und wieder ab 1930 Vorsitzender der Stiftung Nietzsche-Archiv (vgl. Joachim Lilla: Adalbert Oehler. In: Internetportal Rheinische Geschichte, https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/adalbert-oehler/DE-2086/lido/57c955c96837c4.22179081; 13.07.2022).5↑Prof. Nestle ] der Altphilologe Wilhelm Nestle (1865–1959) war Mitherausgeber von Bd. 19 der Ausgabe von Nietzsches Werken (Philologica III, 1913). Nestle war Gymnasialprofessor, 1900 in Schwäbisch Hall, 1903 am Evangelisch-theologischen Seminar Schöntal, 1909 in Stuttgart. Ab 1913 Direktor des Gymnasiums Heilbronn, ab 1919 des Karls-Gymnasiums in Stuttgart, 1932 im Ruhestand (NDB).6↑Prof. Cornelius ] meint vermutlich Hans Cornelius (1863–1947), seit 1910 o. Prof. an der Akademie für Sozialwissenschaften in Frankfurt a. M., 1914–1919 gleichzeitig Leiter der Münchner Lehrwerkstätten (BEdPh).▲